Archiv der Kategorie: TEXTE

Dvořák – Ballade op. 15

Antonín Dvořák
Ballade für Violine und Klavier, d-moll, op. 15 [B 139]
komponiert: 1884?

Erstausgabe: J. W. Coates, London, Dezember 1884

 Die D-moll-Ballade entstand wahrscheinlich in Erfüllung eines Kompositionsauftrages des Londoner Verlegers J. W. Coates, der als Herausgeber des „Magazine of music“ fungierte. Wahrscheinlich weist die hier von Dvořák verwendete niedrige Opusnummer (im Erstdruck heißt es: Op. 15 I, was die Vermutung nahelegt, der Komponist habe zumindest ein weiteres Stück dieser Besetzung geplant) nicht auf eine frühere Skizzierung des Werkes hin. Dvořák pflegte mitunter, die bei der Publikation seiner Werke zunächst „übersprungenen“ Opusnummern nachträglich mit Gelegenheitskompositionen aufzufüllen. Jedenfalls ist das Autograph der Komposition undatiert; Otakar Šourek hat aufgrund tonartlicher, charakterlicher und motivischer Indizien die Vermutung geäußert, die Ballade könne die Metamorphose einer verworfenen Skizze zum langsamen Satz der D-moll-Symphonie (op. 70/B 141) sein; die dokumentierte Entstehungszeit der Symphonie reicht von Dezember 1884 bis März 1885 – sollte Šoureks Hypothese zutreffen, müßte es sich also angesichts des Publikationsdatums um einen schon im Frühstadium der Niederschrift ausgeschiedene Passus handeln. Unbestreitbar ist allerdings die Stimmungsverwandtschaft der Ballade mit dem fraglichen Symphoniesatz. – Dvořák scheint Coates übrigens nur territorial beschränkte Rechte an dem Werk überlassen zu haben, denn schon im August 1885 erschien im Prager Verlag Urbánek eine zweite Ausgabe der Ballade.

© Claus-Christian Schuster

Dvořák – Quintett op. 5

Antonín Dvořák
* Nelahozeves, 8. September 1841
† Prag, 1. Mai 1904

Klavierquintett Nr. 1, A-Dur, op. 5 [B 28]
komponiert: Prag, August 1872; umgearbeitet in Prag und Vysoká, April bis Juli 1887

Uraufführung der Erstfassung: Prag, Convict-Saal, 22. November 1872
Karel Slavkovský (1845-1919), Klavier

Vojtěch Hřímalý jun. (1842-1908), Violine
Josef Krehan, Violine
Wilhelm Bauer, Viola
Alois Neruda (1837-1899), Violoncello

Uraufführung der revidierten Fassung: Prag, Konservatorium, 29. März 1922
Fr. Bartová, Klavier
Jaroslav Štěpánek (1905-?), Violine
Bedřich Ort (1902-?), Violine
Josef Kudrnovský, Viola
Josef Fikais, Violoncello

Erstausgabe: Editio Supraphon, Prag 1959 (Dvořák-Gesamtausgabe Serie IV, Band 11/1)

Man könnte die Gattung des Klavierquintetts als das „Leitfossil“ der Hochblüte der Kammermusik bezeichnen: Entstehung und Aufführung von Werken dieses Genres waren meist nur dort möglich, wo es schon ein dichtes Netz von kamnmermusikalischen Traditionen und Aktivitäten gab. Kein Wunder also, daß das erste wirklich „klassische“, das heißt jenseits aller Spezialinteressen und Wiederbelebungsversuche bis heute omnipräsente Werk dieser Gattung, Schumanns Es-Dur-Quintett op. 44, erst 1842 – also ein gutes halbes Jahrhundert nach den ersten Klassikern der Genres Streichquartett und Klaviertrio – entstanden ist. Und ebenso wenig ist es ein Zufall, daß dieses Schumannsche Paradigma in Prag besonders lange und intensiv nachwirkte. Denn nirgendwo war Schumanns Botschaft auf fruchtbareren Boden gefallen als hier – und Schumanns epochemachende Neue Zeitschrift für Musik zählte schon ein Jahr nach ihrer Gründung (1833) in Prag ebensoviele Abonnenten wie in Dresden und Hamburg zusammen. Der Prager „Davidsbund“, dem mit August Wilhelm Ambros und Eduard Hanslick Zentralfiguren auch der späteren österreichischen Musikgeschichte angehörten, erfüllte den spätestens seit Mozarts Triumphen weithin anerkannten Ruf Prags als Musikmetropole mit neuem Leben und strafte jene „angeblich gut informierten“ Ratgeber Lügen, deren Cassandrarufe Hector Berlioz im Kapitel LIII seiner Mémoires zitiert:

„Gehen Sie nicht nach Prag, sagte man mir, das ist eine Pedantenstadt, wo man nur die Werke der Toten zu würdigen weiß: die Böhmen sind hervorragende Musiker, das ist wahr, aber nach der Art der Professoren und Schulmeister ; für sie ist alles, was neu ist, abscheulich, und es ist anzunehmen, daß Sie an ihnen keine Freude haben werden.“

Daß Berlioz dieser Warnung nach seinen fulminanten Prager Erfolgen rückblickend jenen von der tschechischen Tourismusindustrie weidlich ausgenützten Sehnsuchtsruf „O Praga! Quando te aspiciam!“ entgegensetzt, ist Musikgeschichte. Und in Prag schrieb man Musikgeschichte mit einer Ausdauer und Vitalität, wie man sie nicht häufig findet – und das, obwohl niemand der Diagnose des Prager Davidsbündlers Franz Balthasar Ulm widersprechen mochte, daß es nämlich eine geradezu unlösbare Aufgebe darstelle, „die disparaten Mitglieder unserer zerklüfteten Gesellschaft von Musikern und Musikfreunden unter einen Hut zu bringen“.

Anlaß zu dieser bitteren Diagnose hatte das vorzeitige Abschiedskonzert des hochverdienten Antonín Apt (1815-1887) gegeben, der im März 1865 mit dem 117. Konzert des von ihm 1840 gegründeten und seither geleiteten  Cäcilienvereins, der neben Orchester- und Chorwerken auch der Kammermusik ein Podium geboten hatte, sein Wirken beendete. Aber es wäre nicht Prag gewesen, hätte sich nicht sogleich neues Leben geregt: In Ludevít Procházka (1837-1888) fand das Prager Musikleben einen jungen, phantasievollen Anreger und tatkräftigen Förderer. Schon während seines Jusstudiums war Procházka Klavierschüler Bedřich Smetanas gewesen, dessen treuer Verehrer und Verteidiger er zeitlebens bleiben sollte, hatte sich 1861 an der Gründung der bis heute bestehenden Chorvereinigung Hlahol, 1863 gemeinsam mit Smetana (der im selben Jahr Leiter des Hlahol wurde) an der noch folgenreicheren der Umělecká beseda beteiligt, wo er als Sekretär der Musiksektion wirkte, und war außerdem seit 1865 als Musikkritiker der einflußreichen Národní listy tätig. Neben seinem „bürgerlichen“ Beruf als wohlbestallter Magistratsbeamter gab er seit 1870 eine eigene (bis 1875 bestehende) Musikzeitschrift, die Hudební listy, heraus und gehörte 1871 zu den Initiatoren der für das tschechische Musikleben der nächsten Jahrzehnte unentbehrlichen Verlagsgesellschaft Hudební matice.

Da Procházka nach dem Rückzug Apts das Fehlen eines Prager Forums für die Präsentation neuer Musik als besonders schmerzlich empfand, entschloß er sich kurzerhand, eine eigene Kammermusikreihe ins Leben zu rufen.

Die zunächst formlos als Hauskonzerte in Procházkas Neustädter Wohnung in der Ječná ulice (Gerstengasse) 7 abgehaltenen Zusammenkünfte genossen bald den besten Ruf. Am 10. Dezember 1871 konnten die Zuhörer hier die erste öffentliche Aufführung eines Werkes des immerhin schon dreißigjährigen Antonín Dvořák hören, der erst wenige Monate zuvor sein relativ ruhiges und sicheres Bratschistendasein in dem von Smetana geleiteten Theaterorchester zugunsten einer ungewissen Zukunft als freischaffender Komponist aufgegeben hatte: Vzpomínání  (Gedenken), das letzte der fünf Lieder (B 23), die Dvořák kurz zuvor auf gerade erst veröffentlichte Gedichte der jungen Eliška Krásnohorská (i. e. Alžběta Pechová, 1847-1926), Smetanas späterer Librettistin, geschrieben hatte. Offenbar fand dieses Début Anklang bei Hörern und Veranstalter, denn schon im April 1872 wurden im selben Rahmen Dvořáks Lieder Proto (Darum, die zweite der Vertonungen aus dem Krásnohorská-Zyklus B 23) und Sirotek (Das Waisenkind, B 24) auf einen Text des 1870 verstorbenen Karel Jaromír Erben (dessen 1853 erschienenes Kytice z pověstí národních (Blumenstrauß von Volkssagen noch 1896 die Vorlagen zu vier der fünf symphonischen Dichtungen Dvořáks liefern wird) aufgeführt. (Dieses letztere Lied trug ursprünglich die später auf unser Klavierquintett übergegangene Opusnummer 5.) Kurz darauf präsentierte Ludevít Procházka seinen Zuhörern das Adagio aus einem der beiden (später von Dvořák vernichteten) Klaviertrios op. 13 (B 25-26).

Da Procházkas Hauskonzerte – wohl nicht zuletzt wegen der Qualität der hier vorgestellten neuen Werke – ein immer zahlreicheres Publikum anzogen, mußte man bald in einen richtigen Konzertsaal übersiedeln. Das erste Konzert dieser unentgeltlich zugänglichen Matinéenreihe fand am Freitag, dem 22. November 1872, im traditionsreichen Convict-Saal statt. Das Programm dieses Mittagskonzertes wurde gleich mit dem gewichtigsten und längsten Werk, der Uraufführung von Dvořáks Quintett, eröffnet. Die Autorenliste der nachfolgenden  Kompositionen gibt nicht nur einen Eindruck von Procházkas Überparteilichkeit, Weltoffenheit und Zurückhaltung (seine eigenen Kompositionen programmierte er fast nie), sondern auch von der bewundernswerten Aufnahmebereitschaft des Prager Publikums: Lieder von Zdenko Fibich (1850-1900), von Betty Hanušová, seiner zukünftigen Schwägerin und späteren zweiten Frau gesungen, von Robert Franz (i. e. Robert Knauth, 1815-1892) und Richard Wagner, Werke des von Hans von Bülow so hochgeschätzten Joachim Raff (1822-1882) und des in Wien als Verleger (und später als unermüdlicher Bibliograph) tätigen  Johann Peter Gotthard (i. e. Bohumil Pazdírek, 1839-1919), sowie die von Karel Slavkovský, der 1878 auch Dvořáks Klavierkonzert aus der Taufe heben wird, vorgetragenen Klavierstücke des (später in St. Petersburg wirkenden) Organisten Vojtěch Hlaváč (1849-1911) und des in Prag und Paris ausgebildeten Polen Władysław Želeński (1837-1921) bildeten das überreiche Programm dieses Mittagskonzertes.

Daß mit Wagner der älteste der vertretenen Komponisten 59, die Mehrzahl der anderen aber zwischen 22 und 35 Jahre alt waren, scheint keinem der zahlreichen Musikfreunde, die sich an diesem Tag zusammenfanden, das Gefühl vermittelt zu haben, an einer provokanten Avantgarde-Veranstaltung teilzunehmen; doch deutsche, tschechische und polnische Gegenwartsmusik in dieser Weise zu vereinen, war in einer Atmosphäre stetig wachsender nationaler Spannungen sicher weder alltäglich noch unumstritten. Gerade der Zusammenklang all dieser verschiedenen Idiome und Strömungen hat aber als Umgebung für die Uraufführung von Dvořáks Quintett geradezu symbolische Bedeutung: Denn in dieser Partitur, die im Jahr nach der Vollendung der Erstfassung der komischen Oper Král a uhliř (König und Köhler, B 21), eines besonderen Sorgenkindes im Œuvre des Komponisten, entstand, sind die sich allmählich zu einem Personalstil von ganz unverwechselbarer Eigenart klärenden Tendenzen, in denen sich die widersprüchlichen Erfahrungen der zwölf Orchesterjahre des Verfassers auf ganz eigentümliche Weise widerspiegeln, besonders deutlich vernehmbar. Wahrscheinlich ist es die außergewöhnliche Komplexität dieser Schaffenssituation, die das recht unglückliche Schicksal des Werkes mitbestimmt hat.

Der anonyme Rezensent der Hudební listy (etwa Ludevít Procházka selbst?) lobt die „lebendige, mit schwungvollen und poetischen Gedanken überschäumende  Phantasie, die Gewandtheit und Kühnheit in der Harmonisierung und den Modulationen sowie in der polyphonen Verflechtung der Stimmen und der Instrumentation“, prophezeit dem Werk aber abschließend: „Solange in ihm noch allzusehr, wenn auch noch so interessante, so doch willkürliche „Einfälle“ vorherrschen, so lange wird es nicht zu organischer Geschlossenheit, klarer Übersichtlichkeit und ästhetischem Ebenmaß gelangen.“ Dieses Verdikt muß freilich vor dem Hintergrund der Tatsache gesehen werden, daß dem Publikum der bis zu diesem Punkt schon durchlaufene, facetten- und entwicklungsreiche Werdegang des Komponisten (mit Ausnahme der erwähnten drei Lieder und des Triosatzes) unbekannt war, die Richtung seiner Bestrebungen und das Potential seiner Schaffenskraft also überaus schwer beurteilbar bleiben mußte.

Es ist unwahrscheinlich, daß das Werk nach dieser Premiere in seiner Urgestalt noch einmal  öffentlich aufgeführt wurde. Erst knapp anderthalb Jahrzehnte nach der Niederschrift des Stückes, am 20. März 1887, nachdem Dvořák das Werk nicht lange davor noch in einem Verzeichnis „zerrissener und verbrannter“ Kompositionen angeführt hatte, wendet er sich mit folgenden Zeilen an seinen alten Förderer Ludevít Procházka, der schon 1878 mit seiner vom legendären Bernhard Pollini als dramatischer Sopran an die Hamburger Oper engagierten Frau Marta Reissingerová dorthin übersiedelt war:

Milý příteli!

Pamatujete se ještě na onen kvintet (A dur) s klavírem, který asi před 14 lety zásluhou Vaší poprvé v Praze hrán byl?

Nemohu se nikde dopídit své partitury, jenom vím, že Vy jste si dal onen kvintet opsat a snad jej ještě máte. Kdyby tak bylo, prosil bych Vás snažně mně jej laskavě zapujčit, dal bych si jej opsat.

Nyní tak někdy rád se koukám na své staré hřichy i rád bych tento po dlouhém čase viděl.

Račte mi laskavě korespondenčním lístkem dáti zprávu.

Vam vždy oddaný
A. Dvořák

Lieber Freund!

Erinnern Sie sich noch an jenes Klavierquintett (A-Dur), das durch Ihr Verdienst vor etwa 14 Jahren in Prag zum ersten Mal gespielt wurde?

Ich kann meine Partitur nirgends auffinden, weiß jedoch, daß Sie sich jenes Quintett haben abschreiben lassen, und hoffe, daß Sie es noch haben. Falls dem so wäre, bäte ich Sie inständig, es mir liebenswürdigerweise zu leihen, damit ich es abschreiben lassen kann.

Zurzeit betrachte ich ab und zu gerne meine alten Sünden, und diese würde ich nach langer Zeit gerne wiedersehen.

Ich bitte Sie höflich, mir mittels einer Postkarte Nachricht zu geben.

Ihr Ihnen immer ergebener
A. Dvořák

Procházkas Antwort ist zwar nicht erhalten, aber die im Prager Nationalmuseum aufbewahrte Abschrift mit den 1887 von Dvořák eigenhändig vorgenommenen Änderungen beweist, daß Procházka diese 1872 für die Uraufführung angefertigte Kopie dem Autor aus Hamburg zurückgesendet hat – ein Unterfangen, das angesichts der damaligen Verläßlichkeit und Schnelligkeit der Post nicht annähernd so riskant war, wie es uns heute erscheinen mag. Das Ausmaß der in der Folge (offenbar zwischen April und Juli 1887) vorgenommenen Retouchen und Kürzungen legt nahe, daß der Vater über die erbetene Heimkehr des verlorenen Sohnes nicht restlos glücklich werden konnte. Wie tiefgreifend vor allem die formalen Eingriffe waren, läßt sich schon rein statistisch ermessen: Der in der revidierten Fassung 230 Takte lange Kopfsatz hatte in der ursprünglichen Version um wenigstens 152 Takte mehr, und auch das jetzt noch 106 Takte zählende Andante war in der Urfassung um mindestens 24 Takte länger. Daß das Finale seine volle Länge von 468 Takten behalten durfte, zeugt wohl weniger von zunehmender Milde als von abnehmendem Interesse des Komponisten-Korrektors. Irgendwann vor dem 18. August 1887 muß Dvořák dann zu dem Schluß gekommen sein, es sei besser, gleich ein ganz neues A-Dur-Quintett zu schrieben – denn an diesem Tag beginnt er in Vysoká, wo er sich schon seit der zweiten Maihälfte aufhält,  die Niederschrift seines berühmten Opus 81, das es der Nachwelt sehr schwer machen wird, jenes jugendliche Opus 5 – in welcher Gestalt auch immer – im Gedächtnis zu behalten.

Unsere heutige Aufführung folgt dem 1959 erstmals in der Dvořák-Gesamtausgabe vorgelegten gekürzten Text von 1887, weil dieser, totz des Abbruchs der Umarbeitung, den Intentionen des Komponisten und seinen ästhetischen Ansprüchen wohl näher kommt als die (ungedruckt gebliebene und nicht zweifelsfrei rekonstruierbare) Urfassung von 1872. In dieser 1887 von Dvořák liegengelassenen Gestalt ist formal vor allem der Kontrast zwischen den radikal gekürzten ersten beiden Sätzen und dem weitgehend unbearbeitet gebliebenen Finale bemerkenswert.

Dem ersten Satz (Allegro ma non troppo), dessen Form durch die Auslassung des ganzen Seitenthemenkomplexes in der Reprise besonders drastisch verknappt wurde, gibt dieser Eingriff eine fast aphoristische Erscheinung, die in einem aparten Spannungsverhältnis zu dem episch-ausladenden Gestus des Ganzen steht, gleichzeitig aber einigen auffälligen Zügen der Vorlage (wie etwa schon dem fragenden Sextakkord anstelle des dort erwarteten grundständigen Dreiklanges im zweiten und vierten Takt) ideal entspricht. Über seine harmonische Wanderlust läßt uns weder der junge noch der reife Dvořák im Unklaren: der achttaktige Eröffnungssatz des Klaviers wird von den Streichern sofort im weit entfernten G-Dur (der Wechselsubdominante) aufgegriffen und erweitert, aber nur, um uns sogleich auf eine abenteuerliche Modulationsreise zu schicken, die nur auf großen Umwegen zur traditionellen Dominante des Seitensatzes führt. Daß die rhythmische Signatur des Seitenthemas direkt aus jener des Hauptthemas entwickelt ist, hat Dvořák wahrscheinlich zu der oben erwähnten Kürzung bewogen; denn eben diese emblematische Signatur, mit der das Werk einsetzt, durchpulst den ganzen Satz ohnehin schon in ihrer Ausgangsgestalt, Diminution und Augmentation.

Das in der Submediante F-Dur stehende Andante sostenuto setzt diese tonale Drift gleich fort, indem die eröffnende (durch Verschränkung von Vorder- und Nachsatz auf 15 Takte verknappte) Periode nicht wieder nach Hause findet, sondern sich in das unwirtliche Cis-Moll (eben die Mollsubmediante von F-Dur) verirrt. Diese Verirrung wird im Klavier von einem kleinräumigen ostinaten Dreitonmotiv begleitet, dessen weitausgesponnene Wiederaufnahme unmittelbar vor der Satzmitte (Takte 43 bis 51) unwillkürlich an Janáček denken läßt. (Die Umgebung dieses Zentralteiles hat Dvořák 1887 wesentlich gekürzt.)

Das Finale (Allegro con brio) setzt (ohne die in einem solchen Falle eigentlich erwartete Spielanweisung attacca) mit der Wiederaufnahme des den vorhergehenden Satzes beschließenden F-Dur-Akkordes ein und stürmt gleich zielstrebig modulierend auf ein gedachtes Forte-Ritornell in strahlendem A-Dur zu – das freilich nicht erreicht wird, weil der ganze Impetus abrupt in ratlosem Cis-moll stecken bleibt, aus dem uns dann das verspätete A-Dur-Ritornell, aber pointiert neckisch im Pianissimo, erlöst. Bei der Wiederholung des Vorganges am Schluß einer ungewöhnlich breit ausgesponnenen (und zum Mißbehagen vieler Analytiker in der Haupttonart stehenden) Episode tritt das Ritornell dann nach völlig identer Vorbereitung in G-Dur auf, wodurch ein origineller Fernbezug zum Anfang des ganzen Werkes (Takt 9ff. des ersten Satzes) geschaffen wird. Die folgende vollständige Wiederaufnahme der Episode (nun zur neuerlichen Beunruhigung der Kritiker im völlig irrationalen B-Dur) versandet unter spielerischen Scherzando-Figurationen (in denen man Mendelssohn-Echos vernehmen mag) in einem sechs Takte lang ausgehaltenen  H-moll-Sextakkord, an den sich nach wirkungsvoller Generalpause der Aufschwung zur letzten Wideraufnahme des Ritornells schließt, dessen kapriziöse Erreichung über den Cis-moll-Umweg inzwischen keine Überraschung mehr ist. Der Rezensent der Uraufführung, der diesen Schlußsatz als „Rondo-Finale“ bezeichnete, hatte also – obwohl Dvořáks Notentext diese Bezeichnung nirgendwo enthält – nicht unrecht: Der Satz ist eines jener seit Schubert mit großer Vorliebe und wechselndem Glück geschaffenen Mischwesen aus Rondo- und Sonatenform (hier nach dem Schema ABABA). Auch wenn Dvořáks Interesse an der Umarbeitung an diesem Punkte noch nicht so lau geworden wäre, hätte er hier schwerlich einen plausiblen Weg der Verknappung finden können, ohne die unbekümmerte Vitalität des Jugendwerkes ernstlich zu gefährden. So hat die Vorsehung dafür gesorgt, daß uns in seinem „liegengelassenen“, aber doch nicht verworfenen A-Dur-Quintett der bezwingende Reichtum seiner Phantasie sowohl in der durch die erfahrene Meisterhand gebändigten als auch in seiner „ungekämmten“ Ursprünglichkeit bewahrt geblieben ist.

© Claus-Christian Schuster

Beethoven – Trio op. 1 Nr. 3

Ludwig van Beethoven
* Bonn, 16.(?) Dezember 1770
† Wien, 26. März 1827

Trio Nr. 3, c-moll, op. 1 Nr. 3
komponiert: Wien, etwa 1793
Widmung: Fürst Carl von Lichnowsky (1761-1814)

Uraufführung: Wien, bei Fürst Carl von Lichnowsky (Schauflergasse 6), vor dem 19. Jänner 1794 (wahrscheinlich Ende 1793)
Ludwig van Beethoven, Klavier
(?) Ignaz Schuppanzigh (1776-1830), Violine
(?) Anton Kraft (1749-1820), Violoncello

Erstausgabe: Artaria, Wien, Oktober 1795

Von den drei Trios des emblematischen Opus 1, mit dem Beethoven in beispielloser Selbstsicherheit die Bühne der Musikgeschichte betritt, ist das dritte wahrscheinlich das populärste und zweifellos das am meisten gespielte. Beethoven selbst hielt es für das beste Stück der Reihe und war daher über die Skepsis, mit der Haydn bei der Uraufführung gerade diesem Werk begegnete, gekränkt. Es ist nicht zu leugnen, daß dieses Trio sich von seinen beiden Schwesterwerken auf ganz bezeichnende Weise unterscheidet: Es ist noch reicher an einprägsamen motivischen Details und instrumentatorischen Effekten, klanglich noch raffinierter und noch dichter übersät mit Überraschungen aller Art. Gerade diese qualitativen Unterschiede könnten aber vielleicht Haydns Reaktion verständlich machen ( – Haydns in diesem Zusammenhang oft ins Spiel gebrachte „Eifersucht“ ist ein so abstruses Motiv, daß es sich gar nicht erst lohnt, darauf näher einzugehen). Beethoven hat mit diesem Werk nämlich ganz offensichtlich ein Ziel verfolgt, das weit außerhalb der Lebens- und Erfahrungssphäre Haydns lag: Während die beiden vorausgehenden Trios der musikalischen Naturpoesie Haydns mit ihrem organischen Ablauf gar nicht ferne stehen, ist dieses abschließende – und nach Beethovens unmißverständlicher Absicht auch krönende – Werk ein zutiefst subjektives, von erschütternder Tragik geprägtes Bekenntniswerk, in dem der Tondichter rückhalt- und schonungslos bis an die Grenzen des Mitteilbaren vordringt. Das lebensspendende Gottvertrauen, unter dessen mildem Klima der ganze überreiche Kosmos der Haydnschen Kammermusik gedeiht und einen so unerschöpflichen Reichtum an originellen Organismen hervorbingt, hier scheint es in einem aussichtslosen Überlebenskampf verdunkelt, ja verloren – und die beiden Momente, wo dieses kindliche und bedingungslose Vertrauen als ferne Ahnung oder wehmütige Erinnerung wieder auftauchen möchte, wirken vor der Folie dieses existenziellen Kampfes als idyllische, ephemere Selbsttäuschung (der zweite Satz) oder gar als dadaistischer Ulk (das Trio des Menuetts), der die schicksalhafte Ausweglosigkeit nur noch schmerzlicher hervortreten läßt. Daß ein Werk von so kompromißloser Radikalität und bestürzender Gedrängtheit Fassungslosigkeit, ja Entsetzen hervorrufen mußte, erscheint ganz unausweichlich. Weit erstaunlicher und bedenklicher dünkt mich, daß heute dieses Grauen im Regelfall genießerischem Fußwippen und einer allwissenden Kennermiene gewichen ist; jedenfalls scheint die Popularität des Werkes zu einem nicht geringen Teil auf einem fundamentalen und verharmlosenden Mißverständnis zu beruhen.  Denn wenn man erst einmal die tragische Heterogenität und die dramatische Spannung der hier verarbeiteten Ideen und Klangbilder erkennt, wird man nicht so sehr die Sicherheit und Kühnheit, mit der Beethoven alle diese widersprüchlichen Elemente zu einem zwingenden und überzeugenden (wenn auch bestürzenden) Ganzen zu einen weiß, bewundernd bestaunen, sondern viel eher vor der Erschütterung, die ein so schonungsloses Bekenntnis hervorruft, jede wertende und „wissende“ Attitude aufgeben.

Schon die Exposition des ersten Satzes (Allegro con brio, c-moll) bietet uns ein Schauspiel widersprüchlichster Gefühle und Regungen: Verirrung und banges Zögern, atemloses Drängen und zorniges Zupacken, seliges Schweben und frenetisches Stürmen – alles ist hier zu finden und auf die originellste Weise miteinander verwoben. So verwandelt sich etwa der beklemmt fragende Doppelschlag des Kopfmotivs unvermutet zu einem nervig dahinstürmenden Motiv, während andererseits das nervöse Agitato des Hauptthemas bei seiner überraschenden Wiederaufnahme in der Coda plötzlich als gutgelauntes Scherzando erscheint. Gerade dieser Kontrast bildet den Kern der Durchführung, die durch eine Reihe frappanter Modulationen eingeleitet wird. Höchst beeindruckend ist auch der dramatische Umgang mit dem traditionellen Orgelpunkt auf der Dominante vor der Reprise: zweimal versucht das Cello allein die Erstarrung zu durchbrechen und wird jedesmal mit einer herrischen Geste zurückgedrängt. Die Reprise ist gegenüber der Exposition tiefgreifend verändert, auffälligstes Detail ist eine auf den Beginn der Durchführung zurückgreifende harmonische Ausweitung, die das Kopfthema für wenige Augenblicke in Durbeleuchtung erscheinen läßt; der Schluß nimmt noch einmal das wirkungsvolle Szenario der Reprisenvorbereitung auf und entläßt uns in mit grimmigen Dissonanzen durchsetzten c-moll.

In größtem Kontrast zu diesem Satz steht das folgende Andante cantabile con Variazioni (Es-Dur). Rein äußerlich entspricht es einem bei Beethovens Vorgängern sehr beliebten Muster (Thema, fünf Variationen, Coda). Das Thema selbst ist von größter Schlichtheit; es besteht aus zwei Achttaktern, die zuerst jeweils vom Klavier alleine und dann unter Führung der Geige von allen drei Instrumenten vorgestellt werden. Da in den Klaviersoli die Baßlinie zunächst ausgespart bleibt, entsteht der Eindruck, als sei die erste Variation gewissermaßen schon im Thema selbst enthalten. In der Folge wechselt immer eine vom Klavier und eine von den Streichern dominierte Variation ab, so daß der ganze Satz von großer Klangfarbenausgewogenheit ist. Das sukzessive Fortschreiten zu immer kleineren Notenwerten (Variationen I-III) hat Beethoven bis hin zu den späten Klaviersonaten beibehalten und weiterentwickelt; die Technik erscheint aber schon hier mit großem Raffinement angewendet, da Beethoven – im Unterschied zu seinen Vorgängern – die Beschleunigung der Bewegungsart nicht mit den Anfängen der Variationen zusammen fallen läßt, sondern mit gleitenden Übergängen und Vorwegnahmen arbeitet. Das Hauptaugenmerk gilt jedoch der metrischen Interpretation des Themas – das Spiel mit abwechselnd betonten und fallengelassenen, vorgezogenen und verspäteten Auftakten ist nicht nur überaus kunstreich, es steht auch in einer sehr aparten Spannung zu der scheinbaren Simplizität des Themas. Erst die innige Minore-Variation (IV) rekapituliert die metrische Urgestalt des Themas, die dann in der letzten Variation (Un poco più Andante) von zierlicher Chromatik umspielt wird. Das Ende dieser Variation und die Coda sind vielleicht der berührendste Moment des Satzes: viermal mündet die Kadenz in einen Trugschluß, um schließlich den Weg zu einer wundervoll ausgekosteten Rückkehr in das heimatliche Es-Dur freizugeben. (Die allerletzten Takte dieser Coda hat Beethoven übrigens in seiner Bagatelle C-Dur op. 119 Nr. 2 zu einem eigenen kleinen Stück ausgeweitet.)

Wer gemeint hätte, daß Beethoven mit zwei so antithetischen Sätzen seine Möglichkeiten zu dramaturgischen Überraschungen erschöpft habe, wird in den folgenden beiden Sätzen eines Besseren belehrt: der dritte Satz erstaunt zunächst schon einmal durch seine Bezeichnung (Menuetto. Quasi allegro, c-moll). Die beiden Schwesterwerke bringen an dieser Stelle ein Scherzo – und der kulturgeschichtliche Hintersinn der Verdrängung des Menuetts durch das Scherzo wird ja gemeinhin als konstitutiv für die „nachrevolutionäre“ Musik angesehen. Warum finden wir also gerade in diesem Werk, das den Zeitgenossen so besonders revolutionär erschien, einen solchen Rückgriff? Nun, schon die relativierende Tempobezeichnung macht klar, daß der Rückgriff nur ein scheinbarer ist. Vom bärbeißigen Humor der Haydnschen oder der tänzerischen Eleganz der Mozartschen Menuette ist keine Spur mehr zu finden, die Stimmung ist unruhig, verunsichert, mit jähen Stimmungsbrüchen, die sich auch in der zerklüfteten Dynamik des Satzes widerspiegeln: jähe Fortissimoschläge durchzucken das verhaltene Piano, das zwischen nervöser Beklemmung und scheinbarem Frohsinn irisiert. Nur das Trio entläßt uns auf einige Takte in eine verspielte C-Dur-Rokokowelt – es tut dies aber mit soviel Witz, daß der ironische (oder bitter-wehmütige?) Unterton gar nicht zu überhören ist.

Der Beethoven-Liebhaber, der beim Erscheinen der Tonart c-moll sofort an die Pathétique und die V. Symphonie denkt, kann im letzten Satz (Finale. Prestissimo, c-moll) in Assoziationen schwelgen. Ein „typischerer“ Beethoven-Satz läßt sich auch wirklich schwer denken. Die Metamorphose, die das Ausgangsmaterial dieses Satzes durchgemacht hat – das Thema erscheint zuerst in einer Skizze zum Menuett des Bläseroktetts op. 103 (1792) – ist, wie so oft bei Beethoven, von unglaublicher Radikalität. Der zupackende Elan, die leidenschaftliche Unruhe und das hymnische Feuer – alle zentralen Topoi der Beethovenschen Musik sind in diesem Satz vereint. Die Sonatenhauptsatzform ist hier etwas regelmäßiger, doch um nichts weniger phantasievoll behandelt als im ersten Satz. Wirklich erschütternd ist die ausgedehnte Coda, die alle Finalerwartungen enttäuscht: das Thema wird seiner Motorik beraubt, stockt, fällt kraftlos um einen Halbton nach h-moll und mündet schließlich in den wie in tiefer Betäubung endlos wiederholten Vorhalt des-c. Das abschließende C-Dur ist fahl und erschöpft – von konventioneller Versöhnlichkeit findet sich auch nicht die leiseste Spur. Es gibt in der ganzen Musikliteratur nur ganz wenige Mollsätze, die auf so hoffnungslos tragische Weise in Dur schließen, und in den wenigen vergleichbaren Fällen scheint meist gerade dieser paradigmatische Satz Modell gestanden zu haben (so etwa im Finalsatz des dritten Klavierquartetts, op. 60, c-moll, von Johannes Brahms).

Wie hoch Beethoven selbst dieses Trio schätzte, läßt sich daran ersehen, daß er noch im August 1817 eine – übrigens nicht nur sehr gelungene, sondern auch für die Beantwortung einer ganzen Reihe textlicher Unklarheiten höchst hilfreiche –  Bearbeitung des Werkes für Streichquintett vornahm und diese zwei Jahre später als op. 104 veröffentlichen ließ.

© Claus-Christian Schuster

Beethoven – Trio op. 1 Nr. 2

Ludwig van Beethoven
* Bonn, 16.(?) Dezember 1770
† Wien, 26. März 1827

Trio Nr. 2, G-Dur, op. 1 Nr. 2
komponiert: Wien, etwa 1793
Widmung: Fürst Carl von Lichnowsky (1761-1814)

Uraufführung: Wien, bei Fürst Carl von Lichnowsky (Schauflergasse 6), vor dem 19. Jänner 1794 (wahrscheinlich Ende 1793)
Ludwig van Beethoven, Klavier
(?) Ignaz Schuppanzigh (1776-1830), Violine
(?) Anton Kraft (1749-1820), Violoncello

Erstausgabe: Artaria, Wien, Oktober 1795

Unter den drei Werken von Beethovens Opus 1 nimmt das G-Dur-Trio nicht nur formal die zentrale Stellung ein: Es ist das Herzstück des ganzen Zyklus. Das schlägt sich schon rein äußerlich darin nieder, daß es länger ist als seine beiden Schwesterwerke, und daß Beethoven hier das einzige Mal die epische Eröffnungsform der langsamen Einleitung wählt, zu der er in seinem ganzen Trioschaffen nicht mehr zurückkehren wird. Darüber hinaus aber spiegelt sich die Zentralstellung dieses Werkes auch in der dramaturgischen und stilistischen Gesamtanlage des Opus: wenn man in Nr. 1 (Es-Dur) die transzendierende Zusammenfassung der Erfahrungen Haydns und in Nr. 3 (c-moll) die Quintessenz der Charakteristika des frühen Beethoven sehen kann, so mutet einen das G-Dur-Trio wie ein träumerisches Spiel mit den Möglichkeiten der Zukunft an. Nicht zufällig gehören zu den Assoziationen, die sich beim Anhören dieses Werkes fast zwangsläufig einstellen, so weit auseinanderliegende Phänomene wie Schubert und Rossini – beides Komponisten, die zur Zeit der Niederschrift dieses Trios entweder noch nicht geboren waren oder gerade erst in den Windeln lagen, und deren Werk exemplarisch die ganze Amplitude der Musik des ersten Drittels des XIX. Jahrhunderts repräsentiert.

Wie sorgfältig geplant die Abfolge der drei Werke des Beethovenschen Opus 1 ist, erahnt man schon, wenn man die Schlußtakte des Es-Dur-Finales von op. 1 Nr. 1 etwas näher betrachtet: Man findet hier sehr willkürlich erscheinende, „antimetrische“ (und deshalb umso auffälligere) Sforzati auf den Noten G und D – also auf Tonika und Dominante des nachfolgenden Werkes. Sollte uns Beethoven hier auf eine Verbindung zwischen diesen beiden Werken aufmerksam machen? Wirklich stellt sich hier heraus, daß der Beginn des ersten Satzes (Adagio, G-Dur) von op. 1 Nr. 2 nichts anderes als eine Metamorphose des Incipits von op. 1 Nr. 1 ist (die ersten beiden Takte sind, transponiert und rhythmisch modifiziert, notenident mit der analogen Stelle des Es-Dur-Trios): Es ist eine Metamorphose ins traumhaft Spielerische, versonnen Graziöse. Wer nun, neugierig geworden, zu den letzten Seiten dieses Satzes vorblättert, findet als Eröffnung der Coda (Takte 398 bis 405) eine im Pianissimo bedeutungsvoll präsentierte Kadenz, die von G-Dur über Es-Dur nach c-moll führt, die Toniken der drei Trios also einander begegnen läßt. Purer Zufall? Wohl nicht. Kaum aber auch Ergebnis einer ausgeklügelten „strategischen“ Planung – sondern eher, und weit wunderbarer, der organische Niederschlag eines überragenden schöpferischen Instinktes, dessen Wirken auf die Einheit in der Vielfalt gerichtet ist. Diese ganz unangestrengt auftretende Fähigkeit, Zusammenhänge zu schaffen und zu wahren, manifestiert sich auch in der Beziehung zwischen Einleitung und Hauptteil: Der Themenkopf des folgenden Allegro vivace durchzieht die Introduktion ebenso wie dessen charakteristische Verzierungen, sodaß trotz des großen Stimmungs- und Tempokontrastes die Einheit zwischen den beiden Teilen niemals gefährdet ist. Der Hauptteil selbst ist ein sehr ausgedehntes und vielgliedriges Sonaten-Allegro, das die Sphäre des übermütig Neckischen und spielerisch Anmutigen ganz auskostet und fast nie verläßt. Es ist, als würde – mit einem Unterton romantischer Ironie – aller galanter Zauber des vorrevolutionären XVIII. Jahrhunderts noch ein letztes Mal zusammenfassend und beschließend aufgeboten.

Doch schon der zweite Satz (Largo con espressione, E-Dur) entführt uns in eine völlig andere Welt: Es ist sicher kein Zufall, daß Beethoven hier das einzige Mal in seinem Opus 1 das „klassische“ Muster der Tonartenbeziehungen in mehrsätzigen Werken aufgibt und eine fernliegende, „romantische“, „schubertische“ Tonart aufsucht. Wenn man weiß, wie bewußt Beethoven mit Tonartencharakteristik umgeht, und welche klangsinnliche Realität vor der Etablierung der „modernen“, gleichschwebenden Temperatur (deren erklärter Gegner Beethoven zeitlebens geblieben ist) mit dieser Charakteristik verbunden war, so wird man diesem Détail mehr Gewicht geben müssen, als es gemeinhin geschieht. (Und es ist Beethoven selbst, der uns in dieser Ahnung bestärkt: Im südländisch ausgelassenen Finale wird er uns, ganz zu Beginn der Durchführung, noch einmal auf dieses E-Dur-Terrain zurücklocken…) Jedenfalls ist dieses Largo auch in dem an Höhepunkten nicht eben armen Œuvre Beethovens eine Sternstunde: Was hier an Innigkeit, Tiefe und Sammlung erreicht ist, entzieht sich weit über das normale Maß hinaus der Be- und Umschreibung.

Das Scherzo (Allegro, G-Dur) gehört zu einem Satztypus, den der frühe Beethoven besonders liebte und um immer neue Varianten bereicherte: das Scherzo op. 1 Nr. 1 gehört ebenso hierher wie etwa das Scherzo der Klaviersonate C-Dur op. 2 Nr. 3. Gemeinsam ist all diesen Sätzen die Entwicklung aus einem prägnanten, einstimmigen Motto, das Anlaß und Ausgangspunkt für kontrapunktische

Kabinettstücke ist, wobei sich der gute, etwas bärbeißige Humor, der all diesen Sätzen eigen ist, oft in derben und eigensinnigen Akzentuierungen niederschlägt; die „Flächigkeit“ der Trios gehört ebenso zum Erscheinungsbild dieses Satztypus wie die in die Stille zurückführende, das Motto „rückentwickelnde“ Coda, die oft (so auch hier) mit einer Rücknahme des Tempos verbunden ist.

Das Finale (Presto, G-Dur) greift die ersterbenden Schlußakkorde dieser Coda mit mutwilligem Elan auf: Dieser Satz konnte mit seinem leutseligen Übermut und seiner ansteckenden Gutgelauntheit auch für den Buffo-Großmeister Rossini ein inspirierendes Vorbild sein, und es ist nicht zu überhören, daß der volkstümliche und absichtsvoll naive (aber nie primitive) Witz dieser Musik auch noch in manchen Geschwindmärschen der Strauß-Dynastie nachklingt. Wieviele solcher Sätze hätte Beethoven eigentlich schreiben müssen, um das monochrome Devotionalienbild des finster dahinschreitenden Titanen als verflachende Fiktion bloßzustellen?

© Claus-Christian Schuster

Beethoven – Trio op. 1 Nr. 1

Ludwig van Beethoven
* Bonn, 16.(?) Dezember 1770
† Wien, 26. März 1827

Trio Nr. 1, Es-Dur, op. 1 Nr. 1
komponiert: Wien, etwa 1793
Widmung: Fürst Carl von Lichnowsky (1761-1814)

Uraufführung: Wien, bei Fürst Carl von Lichnowsky (Schauflergasse 6), vor dem 19. Jänner 1794 (wahrscheinlich Ende 1793)
Ludwig van Beethoven, Klavier
(?) Ignaz Schuppanzigh (1776-1830), Violine
(?) Anton Kraft (1749-1820), Violoncello

Erstausgabe: Artaria, Wien, Oktober 1795

Das Trio, mit dem Beethovens „offizielles“, also von ihm selbst als vollgültig anerkanntes Œuvre beginnt, wurde zusammen mit seinen beiden Schwesterwerken unter dem Titel „Trois Trios Pour le Piano-Forte, Violon et Violoncelle“ im Oktober 1795 bei Artaria in Wien veröffentlicht. Die Subskriptionsliste dieser Ausgabe ist ein eindrucksvoller Beleg für die Wertschätzung, die Beethoven sich schon in den ersten Jahren seines Wiener Aufenthaltes, nicht zuletzt dank der tatkräftigen Unterstützung und Förderung des Widmungsträgers, erringen hatte können. Aufgrund der belegten, wenn auch nicht exakt datierbaren Uraufführung des ganzen Opus fast zwei ganze Jahre vor der Drucklegung muß die Möglichkeit in Erwägung gezogen werden, daß die Konzeption oder der Beginn der Komposition dieser Werke vielleicht teilweise auch noch in die Bonner Zeit fällt – der als Untermauerung für diese Mutmaßung in der Literatur verschiedentlich angeführte „Beweis“ (ein Bericht des englischen Textilfabrikanten und Musikliebhabers William Gardiner) ist allerdings völlig untauglich, da es sich bei dem dort erwähnten „Es-Dur-Trio“ ganz offensichtlich nicht um unser Werk, sondern um das Streichtrio op. 3 handeln muß. Auf jeden Fall darf man in Kenntnis von Beethovens Arbeitsweise annehmen, daß alle drei Werke in der relativ langen Zeit zwischen Uraufführung und Herausgabe noch einmal einer gründlichen Überarbeitung unterzogen wurden, so daß man für diese ersten Klaviertrios ebenso wie für alle folgenden Beethovenschen Werke dieses Genres ruhigen Gewissens Wien als Entstehungsort annehmen darf. Die genaue „Geburtsstätte“ unserer Trios wäre demnach Beethovens erstes Wiener Quartier, ein dem Fürsten Lichnowsky gehörendes Haus an der Stelle der heutigen Adresse Alserstraße 30 – und somit könnte man aus der Sicht eines Trioliebhabers den heutigen IX. Wiener Gemeindebezirk zur „Terra sancta“ erklären: denn wenige Jahre zuvor (1788) hatte Mozart in seinem nur wenige Gehminuten entfernten Domizil „Zu den drei Sternen“ (Währingerstraße 26) seine letzten drei Klaviertrios (KV 542, 548 und 564) zu Papier gebracht.

Der oft zitierte Bericht über die Uraufführung, den uns Beethovens Schüler Ferdinand Ries überliefert hat, enthält einige Züge, die der späteren Legenden- und Klischeebildung über die Beziehung Beethovens zu seinem zeitweiligen Lehrer Haydn überaus förderlich waren:

„… Die drei Trio’s von Beethoven sollten zum erstenmale der Kunst-Welt in einer Soirée beim Fürsten Lichnowsky vorgetragen werden. Die meisten Künstler und Liebhaber waren eingeladen, besonders Haydn, auf dessen Urtheil Alles gespannt war. Die Trio’s wurden gespielt und machten gleich außerordentliches Aufsehen. Auch Haydn sagte viel Schönes darüber, rieth aber Beethoven, das dritte in C moll nicht herauszugeben. Dieses fiel Beethoven sehr auf, indem er es für das Beste hielt… Daher machte dies Aeußerung Haydn’s auf Beethoven einen bösen Eindruck und ließ bei ihm die Idee zurück: Haydn sei neidisch, eifersüchtig und meine es mit ihm nicht gut…“

Wie wichtig dieser Vorfall zu nehmen ist, zeigt die Widmung von Beethovens drei Klaviersonaten Opus 2 an Haydn ebenso wie Haydns Brief an den Kölner Erzbischof und Kurfürsten Maximilian Franz, in dem es in der für Haydn so bezeichnenden (und mit der raffinierten Eleganz des Briefstils seiner Zeit eigenartig kontrastierenden) Schlichtheit heißt:

„…Kenner und Nichtkenner müssen aus gegenwärtigen Stücken unpartheyisch eingestehen, daß Beethoven mit der Zeit die Stelle eines der größten Tonkünstler in Europa vertreten werde, und ich werde stolz sein, mich seinen Meister nennen zu können, nur wünsche ich, daß er noch geraume Zeit bey mir bleiben möge…“

Das „außerordentliche Aufsehen“, das die Werke sogleich machten, ist durchaus verständlich. Es sind die ersten „nachrevolutionären“ Werke unseres Genres, und die Erweiterung der traditionellen Dreisätzigkeit zur symphonischen Viersätzigkeit bei gleichzeitiger Verdrängung des „höfischen“ Menuetts durch das angriffslustigere und pointiertere Scherzo (mit der charakteristischen und alles andere als spielerischen Ausnahme im dritten und letzten Werk der Reihe!) kann und muß auch im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen und politischen Krise der Französischen Revolution gesehen werden. Die Werke faszinieren nicht nur durch Prägnanz und organischen Reichtum ihres thematischen Materials, sondern auch durch eine bis dahin völlig ungekannte Effizienz in der Ausnützung und Erschließung der klanglichen Möglichkeiten des Instrumentariums. Hand in Hand damit geht eine bei Haydn und Mozart in diesem Ausmaß vergeblich zu suchende Konsequenz, mit der die Prämissen der Besetzung den formalen und syntaktischen Ablauf prägen: diese Trios zeigen auch nicht mehr den leisesten Anflug der „begleiteten“ oder „arrangierten“ Klaviersonate.

Gleich der erste Satz (Allegro, Es-Dur) unseres die Reihe emblematisch eröffnenden Werkes  ist ein Paradebeispiel dieser neuen Diktion. Gewiß, fast alle Elemente der Thematik und Gestik dieses Satzes lassen sich in der einen oder anderen Variante auch bei Beethovens großen Vorgängern nachweisen; doch die Stringenz, mit der die drei Instrumente in ein vielschichtiges konzertantes Gewebe verflochten werden, bezeichnet eine völlig neue Etappe in der Entwicklung des Genres. Die an sich schon vielgliedrige und großräumige Sonatenhauptsatzform gewinnt dadurch noch an Weite, daß die Durchführung die Themen weniger im traditionellen Sinne „verarbeitet“ als über sie meditiert, also nicht mit Fragmentierung und Beschleunigung, sondern eher mit koloristischer Harmonik und nachdenklicher Beharrlichkeit operiert – wobei, ganz im Gegensatz zur üblichen Durchführungsdramaturgie, die Reihenfolge der Elemente im wesentlichen nicht angetastet wird. Von diesem Vorgang ist nur das Seitenthema ganz ausgenommen, das dafür aber am Schluß der Reprise zum Ausgangspunkt einer ausgedehnten Coda wird, in deren Verlauf die Themen jetzt erstmals aus ihrem formalen Zusammenhang genommen werden und den Satz zu einem dramaturgisch höchst wirkungsvollen, frei-assoziativen Abschluß führen.

Der zweite Satz (Adagio cantabile, As-Dur) erschließt und durchmißt die ganze subdominantische Hemisphäre, auf die das Hauptthema des ersten Satzes so geistreich und ungestüm losging, mit einer zu diesem Impetus in denkbar größtem Kontrast stehenden Innigkeit und Schlichtheit. Mitte und Achse des – in freier Rondoform geschriebenen – Satzes ist eine ehrfurchtgebietende Wendung in ein numinos strahlendes C-Dur: Wen im „religiösen“ C-Dur Beethovens und Schuberts die erbaulichen Worte Klopstocks und Gellerts mehr irritieren als inspirieren, der kann sich hier einer archaischen, wortlosen Erschütterung hingeben ( – über die man folgerichtig auch nicht schreiben sollte).

Das Scherzo (Allegro assai, Es-Dur) bildet mit dem Finale (Presto, Es-Dur) eine gedankliche Einheit – nur selten werden wir Beethoven wieder bei so ungetrübt gutem Humor finden. Mutwille und Schabernack lachen uns aus jeder Wendung des musikalischen Geschehens entgegen. Das Scherzo führt uns gleich zu Beginn mit einem vorgetäuschten c-moll in die Irre, in der uns dann auch noch willkürlich versetzte Akzente weiter vom Weg abbringen. Das Trio (As-Dur) schwebt schwerelos wie ein Nebelgebilde vorüber, und die Coda des Scherzos scheint sich schließlich gar völlig ins Nichts zu verlieren, doch nur um unerwartet in den angeheiterten Dezimsprung des Finalthemas zu münden, der zum Ausgangspunkt für die drolligsten und launigsten Eskapaden wird: aller Studentenulk und alle Poesie, die uns bei E. T. A. Hoffmann und Eichendorff noch soviele schöne Stunden schenken werden, sind schon hier Musik geworden – auch die traumhafte Verzauberung (hier in Form einer wundervollen Verirrung nach E-Dur) fehlt nicht. Und wenn am Schluß, nach dem auch der letzte Studiosus gicksend im Dunkel verschwunden ist, in die unvermittelte Stille plötzlich die Schlußtakte im Fortissimo hereinbrechen, haben sie alle Siegesgewißheit, die ein Marsch der Davidsbündler gegen die Philister nur haben kann.

© Claus-Christian Schuster

Mendelssohn – Sextett op. posth. 110

Felix Mendelssohn

* Hamburg, 3. Februar 1809
† Leipzig, 4. November 1847

Sextett für Pianoforte, Violine, zwei Bratschen, Violoncello und Kontrabaß,
op. posth. 110 (MWV Q 16)

Allegro vivace
Adagio
Menuetto. Agitato
Allegro vivace – Agitato – Allegro con fuoco

komponiert: Berlin (Neue Promenade 7), ca. 18. April – 10. Mai 1824

Uraufführung: London, 16. März 1868, Saint James´s Hall
Monday Popular Concert No. 292

(Benefizkonzert für Arabella Goddard-Davison)

Arabella Goddard-Davison (1836-1922), Klavier
Joseph Joachim (1831-1907), Violine
Henry Gamble Blagrove (1811-1872), 1. Viola
John Baptiste Zerbini jun. (1839-1891), 2. Viola
Carlo Alfredo Piatti (1822-1901), Violoncello
John Reynolds (1826-1919), Kontrabaß

deutsche Erstaufführung: Frankfurt am Main, 12. Oktober 1868, Kleiner Saal des Saalbaus
Erste Quartett-Soirée

Martin Wallenstein (1843-1896), Klavier
Hugo Heermann (1844-1935), Violine
Ruppert Becker (1830-1887), 1. Viola
Ernst Welcker (1830-1905), 2. Viola
Valentin Müller (1830-1905), Violoncello
Ottomar Backhaus (1827-1893), Kontrabaß

Erstausgabe: Kistner, Leipzig / Novello, Ewer & Co., London (Mai 1868)

Ein Kind erobert sich die Musikgeschichte

An der langen Straße der abendländischen Musikgeschichte gibt es unzählige Wunder zu bestaunen – doch nur wenige sind so entwaffnend und beglückend wie die Erscheinung des Knaben Felix Mendelssohn. Zwar waren unter den großen Meistern, die den Gang dieser Geschichte prägten, nicht wenige, deren Frühreife Mit- und Nachwelt in Erstaunen versetzte, doch mit Mendelssohn gewinnt dieses rätselhafte Gottesgeschenk eine neue Dimension: nämlich die historische, oder, technischer ausgedrückt, die historistische.

Dieser Terminus bedarf allerdings einer näheren Bestimmung. Obwohl sich die moderne Wissenschaft dem von Ernst Haeckel und später auch von Rudolf Steiner vertretenen „biogenetischen“ bzw. „ontogenetischen Grundgesetz“ gegenüber sehr skeptisch verhält, läßt sich schwer bestreiten, daß es nicht wenige Phänomene gibt, die sich mit seiner Annahme recht plausibel erklären ließen. Dazu gehört auf dem Gebiete der Musik wohl auch jene an zahllosen Beispielen zu belegende Erscheinung, daß sich etliche Grundlinien des musikhistorischen Prozesses in der individuellen stilistischen Entwicklung angehender Komponisten nachgebildet finden: So wird man etwa in den ersten Gehversuchen vieler Komponisten, die ihren Weg in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts antraten, viel häufiger den Einfluß frühklassischer und klassischer als denjenigen der unmittelbar „zeitgenössischen“ romantischen und spätromantischen Modelle ausmachen können, und Analoges ließe sich bei vielen Komponisten vorangehender und nachfolgender Generationen feststellen. Insofern könnte und dürfte man also bei Jugendwerken ganz allgemein von einer „historistischen“ Komponente sprechen.

Bei Mendelssohn scheint dieser Aspekt jedoch eine viel weiterreichende, grundlegendere Bedeutung zu haben. Denn ganz abgesehen davon, daß die scheinbar mühelose Virtuosität, mit der sich das Kind Mendelssohn – sicherlich auch dank einer einzigartigen individuellen und kulturhistorischen Konstellation – barocke und klassische Vorbilder anverwandelt, schon als isoliertes Phänomen verblüfft, stehen wir hier allem Anschein nach vor dem ersten (und wohl brillantesten) Beispiel einer konsequent und klug betriebenen Fruchtbarmachung aller dem jungen Komponisten zugänglichen Stilschichten im Dienste der Ausprägung eines eigenen, unverwechselbaren und selbst wieder stilbildenden Individualidioms. Auf diesem Weg, dessen Verfolgung den Dirigenten Mendelssohn im Lauf seines kurzen Lebens nebenbei zu einem kompetenten Interpreten der Musik von Orlando di Lasso bis zu Richard Wagner machen wird, markiert das so selten gehörte Sextett einen überaus interessanten Punkt – und verdient schon allein deshalb mehr Aufmerksamkeit, als ihm gemeinhin geschenkt wird.

Berlin 1824: Neue Promenade 7

Am 3. Februar 1824, seinem 15. Geburtstag, wird Felix von seinem Kompositionslehrer Carl Friedrich Zelter anläßlich der ersten Probe zu Mendelssohns schon im vorangegangenen Herbst beendetem viertem Singspiel „Die beiden Neffen oder Der Onkel aus Boston“ (MWV L 4) nach altem Handwerksbrauch – vergessen wir nicht, daß Zelter gelernter Maurermeister war! – als Geselle der Tonkunst losgesprochen, und zwar „im Namen Mozart´s, im Namen Haydn´s und im Namen des alten Bach“ (womit der eben berührte „historistische“ Aspekt, unter dem eher für Zelter als für Mendelssohn bezeichnenden Ausschluß Beethovens, auch aktenkundig wäre).

Vier Tage später wird das Singspiel in der Stadtresidenz von Felix´ verwitweter Großmutter Bella Salomon (Neue Promenade 7), wo die Mendelssohns seit 1820 Quartier genommen haben, uraufgeführt. Genau eine Woche danach, am 14. Februar, beendet Felix eine Sonate für Bratsche und Klavier (c-moll, MWV Q 14), ein überaus ambitioniertes und originelles Werk, das er schon am 23. November 1823 in Angriff genommen hat – das aber erst 1966 gedruckt werden wird. Kurz darauf beginnt er die Arbeit an einer neuen Symphonie in der selben Tonart, bei der er den dem zweiten Satz der Bratschensonate zugrundeliegenden Einfall zum Ausgangspunkt für ein ganz neues Stück macht – beide Sätze überschreibt er traditionsbewußt mit „Menuetto“. Die Symphonie wird schon im darauffolgenden Jahr als „Première Symphonie op. 11“ (MWV N 13) gedruckt werden; die schon in den Vorjahren entstandenen zwölf Streichersymphonien (MWV N 1-12) zählt Mendelssohn also erst gar nicht mit. Ein inniges und schlichtes Salve regina für Mezzosopran und Streicher (MWV C 2, Es-Dur) ist mit dem 9. April 1824 datiert, genau einen Monat nach dem Tod der Großmutter, die – als Schülerin Kirnbergers und somit Enkelschülerin Bachs – auf Mendelssohns musikalisches Weltbild einen nicht unbedeutenden Einfluß gehabt hat. Die nächste Komposition, von deren Abschluß wir hören, ist eine dreisätzige Sonate für Klarinette und Klavier (MWV Q 15, Es-Dur), deren Autograph am Ende das Datum 17. April trägt; dieses Werk war dem als Musiker dilettierenden Dresdener Bankier Carl Kaskel (1797-1874), einem Freund der Familie, zugedacht – gedruckt wurde es 1941 in verstümmelter Form und erst 1987 vollständig. Wie man sieht, hat Mendelssohn sich in diesem Frühling ganz systematisch mit dem kammermusikalischen Zusammenklang zwischen Klavier und Altregister beschäftigt; seine Entscheidung für die beiden Bratschen in unserem Sextett kommt also sicher nicht von ungefähr. Um sich ein rechtes Bild vom Arbeitspensum des Jungen zu machen, lese man etwa den parallel zur Niederschrift all dieser Werke geführten umfangreichen Briefwechsel mit Friedrich Voigts, dem Librettisten von Mendelssohns Oper Die Hochzeit des Camacho (op. 10), an der offenbar zur selben Zeit auch schon intensiv gearbeitet wurde.

Unmittelbar nach Vollendung der Klarinettensonate muß Mendelssohn aber mit der Niederschrift seines Klaviersextetts begonnen haben, denn der ausgedehnte erste Satz unseres Werkes ist schon am 28. April fertig; zwei Tage später ist auch das Adagio abgeschlossen, und am 10. Mai 1824 kann Mendelssohn den Schlußstrich unter das viersätzige Opus – und drei außergewöhnlich ertragreiche Schaffensmonate seines jungen Lebens ziehen.

Paris: Das Sextett macht seine erste Reise – lautlos?

Zwar liegen uns keine Berichte über eine häusliche Aufführung des unkonventionell besetzten Werkes vor, aber man darf mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß eine solche wohl noch im großelterlichen Haus an der Neuen Promenade stattgefunden hat. Jedenfalls nahm Felix, als er im März 1825 mit seinem Vater zu einer Paris-Reise aufbrach, das Sextett mit, was wohl darauf hindeutet, daß er dessen Wirkung – und vielleicht nicht erst einmal – schon erprobt hatte. Schwester Fanny, seine engste Vertraute, fragt denn auch in einem ihrer launigen Briefe nach Paris am 30. April:

Ehe ich es wieder vergesse, will ich Dir nur gleich eine Frage thun, die mir schon lange auf dem Herzen lag, die ich aber immer vergaß, wenn ich die Feder in die Hand nahm, nämlich warum Du auf all den matinées, dîners, soupers, u. was sonst noch für ers sind, noch gar nicht Dein Sextett gespielt hast? Giebt es in Paris in jener Gesellschaft nur Einen, der Bratschenschlüssel liest?

(Der spöttische Schlußsatz bezieht sich darauf, daß Felix sich in seinen Pariser Briefen immer wieder herb enttäuscht von den Fähigkeiten und Kenntnissen der dortigen Musiker gezeigt hatte.) Leider bleibt Felix seiner Schwester die Antwort auf diese Frage schuldig, und auch sonst finden sich in der bekannten Mendelssohn-Korrespondenz keine weiteren relevanten Hinweise auf das Schicksal des Werkes. Auffällig ist nur, daß, soweit ich feststellen konnte, niemand vor Mendelssohn für diese spezifische Besetzung komponiert hat, die beiden anderen auffindbaren Kompositionen für exakt dieses Ensemble aber gerade während Mendelssohns Lebenszeit und ausgerechnet in Paris entstanden: Beide Sextette (e-moll, op. 114, erschienen 1839 / Es-Dur, op. 124, erschienen 1841) stammen aus der höchst produktiven Feder des heute fast nur noch als Verfasser klavierpädagogischen Repertoires bekannten Henri Bertini (1798-1876), der außer diesen beiden Werken zwischen 1821 und 1848 noch vier weitere Klaviersextette (jeweils mit zwei Geigen, Bratsche und Kontrabaß) geschrieben hat und daher durchaus den Titel eines „Klaviersextett-Champions“ beanspruchen dürfte. Könnte es wohl sein, daß er 1825 in Paris doch noch Gelegenheit hatte, das Werk seines jungen Konkurrenten zu hören, und er an der extravaganten Instrumentation so großen Gefallen gefunden hätte, daß er sie ebenfalls zu erproben beschloß?

Die strenge Musikwissenschaft – und kritische Kindereien

Jenseits dieser – ja nur rein hypothetischen – Nachwirkung war unserem Sextett aber nur ein sehr dürftiger Widerhall beschieden. Über das recht geteilte kritische Echo der späten Uraufführung und Drucklegung des Werkes wird gleich noch zu berichten sein; doch auch die „professionelle“ Mendelssohn-Literatur wußte dem Sextett kaum etwas abzugewinnen. So beklagte zum Beispiel der etwas eigenmächtige (und mitunter auch zu tendenziösen Textverfälschungen neigende) Wiener Mendelssohn-Forscher Eric(h) Werner (1901-1988), dessen lange als Standardwerk geltende Mendelssohn-Biographie erst 1980 auf deutsch erscheinen konnte, 1955 im Nebensatz einer Kritik (Music & Letters, S. 126), daß bedeutende Jugendwerke Mendelssohns ungedruckt blieben, „whereas feeble experiments like the boyish Sextet, Op. 116, were printed“.

Nicht nur wegen der falschen Opuszahl liegt der Verdacht nahe, daß diesem vernichtenden Urteil keine tiefergehende Beschäftigung mit dem Werk zugrunde liegt; Werner schließt sich hier vielmehr ganz widerspruchslos dem Verdikt der meisten Kritiker des XIX. Jahrhunderts an. Denn als das Werk knapp 44 Jahre nach seiner Vollendung endlich seine Uraufführung und kurz danach auch seine Drucklegung erleben durfte, mochte es den Hörern bloß als Nachzügler einer längst überwundenen Stilepoche und bestenfalls als ein mit Pietät zu behandelndes Lebenszeugnis des Komponisten erscheinen. Als Rechtfertigung für das allgemeine Desinteresse, dem Mendelssohns zu seinen Lebzeiten ungedruckt gebliebene Werke oft begegnen, wird gerne ins Treffen geführt, der Komponist habe durch seine Entscheidung, die Stücke nicht zu veröffentlichen, schon selbst ein abwertendes Urteil gesprochen. Das ist gewiß ein vereinfachender Trugschluß und gilt jedenfalls ganz sicher nicht für die Werke aus Mendelssohns erster Schaffensperiode.

London 1868: Das Sextett bricht sein Schweigen

1868 war dann also endlich die Stunde des Sextetts gekommen: Das für einen schöngeistigen Berliner Salon der Restaurationszeit geschriebene Werk sollte sich, fast ein halbes Jahrhundert nach seiner Entstehung, am internationalen Konzertmarkt der Gründerzeit in ihrer turbulentesten Phase bewähren. Inszenierung und Ausgang dieses Experiments demonstrieren überdeutlich die charakteristischen Unterschiede zwischen dem britischen und dem kontinentaleuropäischen Konzertleben jener Zeit, und es sei daher gestattet, etwas näher auf die Londoner Uraufführung und die deutsche Erstaufführung in Frankfurt am Main einzugehen.

St James´s Hall, Piccadilly Entrance, am Tag der Eröffnung (25. März 1858)

St James´s Hall, Piccadilly Entrance, am Tag der Eröffnung (25. März 1858)

In London wollten die in Konkurrenz zu John Ellas Musical Union (1845-1881) von einem umtriebigen Verlagsconsortium gegründeten Monday Popular Concerts (1859-1898), die schon auf dem besten Wege waren, dem älteren und „nobleren“ Verein den Rang abzulaufen, die Novität unbedingt noch vor dem Erscheinen des Drucks herausbringen – und sie boten dafür, wie es der Verdrängungswettbewerb verlangte, eine internationale Starbesetzung auf: Neben Arabella Goddard, die fast genau zehn Jahre davor schon an der feierlichen Eröffnung der luxuriösen St James´s Hall mitgewirkt hatte, saßen im 292. Konzert der Serie am 16. März 1868 Joseph Joachim und Alfredo Piatti auf dem Podium, und mit Henry Blagrove, einem Urgestein der Londoner Kammermusikszene, sowie Zerbini und Reynolds assistierten ihnen bewährte lokale Musiker. Die Zugkraft der populären Pianistin – die nebenbei mit einem der einflußreichsten Musikkritiker des Landes (und John Ellas erbittertstem Kontrahenten), James William Davison, verheiratet war – nützte man doppelt, indem man ihr in diesem Konzert (das zu ihren Gunsten gegeben wurde) auch gleich die Erstaufführung von Mendelssohns gerade erst im Druck erschienener Klaviersonate in B-Dur (MWV U 64, 1827) anvertraute, der die geschickten Nachlaßverwalter gewiß nicht zufällig die ominöse posthume Opusnummer 106 verpaßt hatten.

Arabella Goddard (1836-1922), in Frankreich geborene und gestorbene Lieblingspianistin des Londoner Publikums, verheiratet mit dem einflußreichen Kritiker J. W. Davison (1813-1885). Sie hob 1868 Mendelssohns Sextett aus der Taufe. 1880 zog sie sich ins Privatleben zurück. Stich von Daniel J. Pound (fl. 1842-1877) nach einer Daguerrotypie des Starphotographen J. J. E. Mayall (i. e. Jabez Meal, 1813-1901), 1859.

Arabella Goddard (1836-1922), in Frankreich geborene und gestorbene Lieblingspianistin des Londoner Publikums, verheiratet mit dem einflußreichen Kritiker J. W. Davison (1813-1885). Sie hob 1868 Mendelssohns Sextett aus der Taufe. 1880 zog sie sich ins Privatleben zurück.
Stich von Daniel J. Pound (fl. 1842-1877) nach einer Daguerrotypie des Starphotographen J. J. E. Mayall (i. e. Jabez Meal, 1813-1901), 1859.

Kein Wunder, daß die vertrauten Meisterwerke, mit denen die beiden verspäteten Mendelssohnschen Novitäten umrahmt wurden – Beethovens Streichquintett op. 29 und Mozarts A-Dur-Sonate KV 526 – in den Kritiken (die Davisons Handschrift nicht verleugnen) nur ganz am Rande figurierten. Über unser Sextett konnte man etwa in den Musical Times vom 1. April 1868 lesen:

The whole of this Sestet is distributed for the instruments most effectively. The first movement contains some excellent pianoforte passages, which were rendered by Madame Goddard with the utmost ease; and the adagio is a well sustained, but not largely developed movement, forming a good contrast with the brilliant opening of the work. After a minuet and trio, the allegro vivace, which completes the Sestet, bursts forth with that energy and power for which Mendelssohn´s last movements are so remarkable: as if the composer could no longer endure the restraint to which his impetuous nature had been so long subjected.

Im Morning Standard and Herald (23. März) wird sogar eine dramaturgische Finesse des Werkes erwähnt – bemerkenswertes Zeugnis einer inzwischen (leider auch bei „professionellen“ Kritikern) sehr selten gewordenen Kultur des Zuhörens:

The sextet […] has a scherzo, which makes its reappearance unexpectedly and with singular effect near the end of the finale, a movement of unflagging power and brilliancy.

Ähnlich positiv war das Echo in den anderen acht nachgewiesenen Besprechungen des Konzertes, das auch finanziell ein voller Erfolg war: die rund 2000 Zuhörer fassende St James´s Hall war restlos ausverkauft. Beide Novitäten wurden fast einhellig als Meisterwerke eingestuft, und man erwartete, sie sehr bald wieder zu hören.

Kein Fest am Main…

Grundlegend anders wurde das Werk im Heimatland des Komponisten aufgenommen, wo es noch im Herbst des selben Jahres in Frankfurt am Main – einer ausgesprochenen Mendelssohn-Stadt – endlich seine deutsche Erstaufführung erleben durfte. (Jedenfalls konnten frühere öffentliche Aufführungen im deutschen Sprachraum bisher nicht nachgewiesen werden.) Vielleicht noch mehr als der banale Umstand, daß die Goethestadt damals nicht mehr als 80.000 Einwohner zählte, während sich an der Themse (je nach Definition des Stadtgebietes) schon zwischen 3 und 4 Millionen Menschen zusammendrängten, wirkte sich die vollkommene Abwesenheit alles dessen, was man heute „professionelle Infrastruktur“ nennnen würde, auf das Echo der Premiere aus: Die vier Musiker des damals noch ganz jungen Frankfurter Streichquartetts („Heermann-Quartett“ oder „Museumsquartett“) hatten das

Hugo Heermann (1844-1935), der Initiator der deutschen Erstaufführung des Sextetts. Undatierte Portraitphotographie aus dem Studio von Arthur Marx, mit Notenzitat (Incipit der Solostimme von Beethovens Violinkonzert) und verblaßter Widmung an den amerikanischen Geiger Henry C. Heyman (1855-1924).

Hugo Heermann (1844-1935), der Initiator der deutschen Erstaufführung des Sextetts. Undatierte Portraitphotographie aus dem Studio von Arthur Marx, mit Notenzitat (Incipit der Solostimme von Beethovens Violinkonzert) und verblaßter Widmung an den amerikanischen Geiger Henry C. Heyman (1855-1924).

Werk aus purer Neugierde als Mittelstück auf das Programm ihrer ersten Quartett-Soirée der Saison 1868/69 gesetzt und die nötigen Mitstreiter auf dem lokalen Musikmarkt rekrutiert. Es gab vor Ort weder einen tatkräftigen Impresario noch auch ein Netzwerk von Kulturjournalisten, die dem Ereignis Aufmerksamkeit verschaffen hätten können – alles lag in den Händen der Ausführenden, die von der lokalen Presse nur halbherzig unterstützt wurden. Schon gar nicht zu denken war an analytische Programmhefte, wie sie John Ella in London eingeführt hatte, und wie sie natürlich auch in den Popular Concerts gebräuchlich waren. Während also in London alle interessierten Zuhörer und selbstverständlich alle Journalisten wußten, daß es sich bei unserem Sextett um das Werk eines Fünfzehnjährigen handelt, kann der Referent der Neuen Berliner Musikzeitung (4.11.1868, S. 361, also ausgerechnet an Mendelssohns 21. Todestag) nur vage vermuten, „das Werk scheint trotz der hohen Opuszahl eine Jugendarbeit des Meisters zu sein“. Das überregionale Echo des Konzertes hing allein von jenen zwei, drei nebenberuflichen Korrespondenten ab, die den etablierten Musikzeitschriften in Leipzig und Berlin allmonatlich ihre summarischen Berichte einschickten. Waren die Londoner Elogen deutlich von kommerziellen Interessen mitbestimmt, so konnte man hier die kritischen Resultate von Ignoranz und Oberflächlichkeit studieren.

Den Lorbeer in diesem billigen Wettbewerb des raschen und uninformierten Urteils errang ohne Zweifel der Rezensent der „schöngeistigen“ Beilage des altehrwürdigen „Frankfurter Journals“ mit dem vielversprechenden Titel „Didaskalia. Blätter für Geist, Gemüth und Publizität“ (Jahrgang 46, No. 287, 15.10.1868, S. 3-4). Nach einer reichlich barocken Einleitung, die mit kosmischen und planetarischen Parallelen nicht geizt, und in der unser Criticus zu der verblüffenden und unerhörten Einsicht gelangt, daß Haydn, Mozart und Beethoven die wahren Heroen der Quartett-Literatur seien, zieht er das Flammenschwert der Verdammnis und schwingt es furchterregend über dem „Schulhefte“ unseres fünfzehnjährigen Komponisten, als dessen wahrer Freund und Beschützer sich der empörte Schreiber gleichzeitig geriert:

 […] Dieser Ansicht entsprechend hätten wir, und mit uns gewiß viele andere Kunstkenner und Verehrer, es der Aufgabe eines ersten Abends zusagender gefunden, wenn zwischen dem Haydn´schen und dem am Schlusse vorgeführten Beethoven´schen (Op. 59, Nr. 3 in C-dur) ein Quartett von Mozart gewählt und somit nicht die Reinheit und folgerichtige Steigerung des Genusses in eben so unliebsamer Weise gestört worden wäre, wie dieß durch die Wahl des Sextettes für Pianoforte, Violine, zwei Bratschen, Violoncell und Contrabaß aus dem Nachlasse Mendelssohn´s geschehen ist.

Was in aller Welt mag denn zu solcher Wahl bestimmt haben? Doch nicht etwa der Werth des Werkes, dessen es beinahe vollständig entbehrt? Vielleicht der Wunsch, gleich am ersten Abende Neues zu bringen? Oder gar nur der Name des Componisten? Da hat man demselben einen schlechten Dienst erwiesen und sich gewissermaßen zu Mitschuldigen an der schnöden Speculation eines Verlegers oder dem blinden Verehrungsfanatismus überlegungsloser Freunde eines edlen Verstorbenen gemacht, die es nicht verschmähen, selbst dessen Schulhefte dem Drucke zu übergeben. Mendelssohn, der so freisinnig und wählerisch in der Veröffentlichung seiner geistigen Erzeugnisse war, würde tief erröthet, ja er, der sonst so Maßvolle, in heftigen Zorn gerathen sein, wenn ein solches Ansinnen während seines Lebens an ihn gestellt worden wäre. Ihm, den wir persönlich gekannt haben und ihn noch heute in der Mehrzahl seiner vortrefflichen, vor und kurz nach dem Tode erschienenen Werke hochschätzen, zur Ehre und Sühne glaubten wir unsere Mißbilligung über derartiges Verfahren Ausdruck geben zu müssen. Eine ähnliche Regung mag wohl auch nach und nach in den Zuhörern entstanden sein: denn nachdem sie den ersten Satz mit seinem reichen, aber altmodischen Passagenwerke in der Clavierpartie sehr beifällig aufgenommen hatten, erkaltete die Theilnahme von Satz zu Satz und am Ende dürfte wohl nur die Achtung vor dem Namen des Componisten die schweigende Mehrzahl abgehalten haben, einige wenige Klatschlustige vernehmlich zur Ruhe zu verweisen.

Offenbar mißbilligt der gestrenge Rezensent die Toleranz der „schweigenden Mehrheit“ gegenüber den „wenigen Klatschlustigen“, und es schwebt ihm das Idelabild einer Diktatur der in ihrem Urteil unfehlbaren Mehrheit vor.

Weniger totalitär, aber kaum verständnisvoller, meldet sich der Berichterstatter der ehrwürdigen, einst von Schumann gegründeten Neuen Zeitschrift für Musik (6.11.1868, S. 396) zu Wort:

„Wir finden in diesem Sextette viele Gemeinplätze; besonders viel Triviales in den Passagen, während die Mendelssohn eigenthümliche Weise dagegen fast gar nicht zum Durchbruch kommt. Trotzdem ist das Werk ein dankbares Clavierstück und vom negativen Standpuncte beurtheilt, interessant genug, um es wenigstens kennen zu lernen.“

Der Rezensent von Bartholf Senffs Signalen für die musikalische Welt (22.10.1868, S. 922) hatte zwar die Novität schon zwei Wochen zuvor mit kargem Wohlwollen kommentiert, kam aber verblüffender Weise zu dem wörtlich selben Resumée:

„… ist das Werk auch gerade nicht bedeutend zu nennen, so enthält es doch viel des Schönen und ist jedenfalls ein sehr dankbares Clavierstück…“

Die Schriftgelehrten lauschen dem fünfzehnjährigen Knaben im Konzertsaal

Es soll nun durchaus nicht bestritten werden, daß der Klavierpart des Sextetts dominant und konzertant ist – aber das Werk deshalb einfach ein „Clavierstück“ zu nennen, zeugt doch von recht oberflächlichem Hinhören. Freilich darf man bei der Betrachtung von Kompositionen dieses Genres seine historische Entwicklung und den Zeitpunkt der Entstehung nicht außer Acht lassen, was bei einem so großen zeitlichen Abstand zwischen Niederschrift und Veröffentlichung immer einige Schwierigkeiten bereitet. Um einigermaßen gerecht zu urteilen, müßte man also ein unmittelbar vergleichbares Werk heranziehen – und dazu böte sich in unserem Falle etwa ein Jugendwerk Schuberts an: Drei Jahre, bevor Mendelssohns Sextett der Öffentlichkeit vorgelegt wurde, hatte der Wiener Verleger Adolph Othmar Witzendorf dessen Adagio et Rondo concertant (F-Dur, D 487) herausgegeben, das der 19jährige Komponist 1816 dem klavierspielenden Bruder seiner angebeteten Sängerin Therese Grob gewidmet hatte. In diesem überaus sympathischen Werk, in dem es jede Menge hübscher Einfälle gibt, ist das begleitende Streichtrio – ähnlich wie das Orchester bei den damals beliebten „brillanten“ Klavierkonzerten – wirklich über weite Strecken nur Zuhörer und devoter Kommentator, eine Konstellation, die uns bei dem um vier Jahre jüngeren Mendelssohn nur in einigen wenigen Passagen des Finales begegnet. Global kann man Mendelssohns Sextett also den Vorwurf, nichts als ein „Clavierstück“ zu sein, jedenfalls durchaus nicht machen: Schon vom ersten Takt des eröffnenden Allegro vivace (D-Dur, C) an stellt der junge Komponist das bewußt dunkel gefärbte Streichquintett autonom dem (auf den damaligen Instrumenten noch weit helleren und transparenteren) Klavierklang gegenüber und läßt es am thematischen Prozeß teilhaben. Daß das Hauptthema dieses Sonatensatzes ausgerechnet mit dem – einen Halbton unter dem Tonumfang der Geige liegenden – fis beginnt, und die Geige daher der Bratsche das erste Wort überlassen muß, stimmt den Hörer von allem Anfang an auf einen kammermusikalischen Diskurs ein. Obwohl im ganzen ausgedehnten Satz idiomatische Bezugspunkte – Mozarts Klavierkonzerte, Hummels Kammermusik etc. – leicht auszumachen sind, durchzieht ihn doch ein sehr eigener, jugendlich-gesangsseliger Ton, und an mehreren Stellen kann man schon ganz deutlich die „Vorausschatten“ künftiger Werke des heranreifenden Meisters erahnen. Ein sehr bezeichnendes Détail ist die glückliche Einfügung prägnanter und cantabler Überleitungsthemen an den strukturellen Nahtstellen des Satzes (vor dem Seitenthema und am Ende der Schlußgruppe der Exposition), und natürlich verzichtet Mendelssohn auch in der Reprise, die den Verlauf der Exposition mit nur minimalen Verkürzungen nachzeichnet, auf diese thematischen Glanzlichter nicht, so daß der Zuhörer – anders als bei vielen „brillanten“ Konzertstücken der Zeit – nicht Gefahr läuft, in inhaltsleerem Passagenwerk zu ertrinken, sondern alle vier thematischen Einfälle (Haupt-, Seiten- und die beiden Überleitungsthemen) jeweils dreimal zu hören bekommt (vorausgesetzt freilich, die Interpreten halten das Werk nicht für so feeble und boyish, daß sie uns die Wiederholung der Exposition unterschlagen). Warum Mendelssohn am Ende eines so regelkonformen Sonatensatzes eine überraschend ausgedehnte Coda (33 Takte) anfügt, bleibt uns zunächst vielleicht unverständlich, sollte aber unbedingt im Gedächtnis behalten werden. Überflüssig zu sagen, aber mit Blick auf das Alter des Komponisten doch staunend und bewundernd zu vermerken, bliebe noch, daß die Partitur dieses Satzes fast überall sehr deutliche Spuren bewußter und konsequenter motivischer Arbeit zeigt.

Auch die Eröffnung des langsamen Satzes (Adagio, Fis-Dur, 3/4), einer ebenso innigen wie schlichten Meditation in zweiteiliger Liedform, liegt in den Händen des Streichquintetts. Daß Mendelssohn für den zweiten Satz ausgerechnet die Durmediante der Grundtonart wählt, wurde schon von einigen aufmerksamen Kritikern der öffentlichen Uraufführung erstaunt vermerkt – und tatsächlich ist diese Wahl durchaus nicht alltäglich: das wohl mit Abstand berühmteste Beispiel für eine solche Entscheidung wird Schubert in seinem viereinhalb Jahre nach unserem Sextett entstandenen C-Dur-Streichquintett (D 956) liefern.

(Nur ganz am Rande sei zusätzlich vermerkt, daß auch der 15jährige Beethoven in einem D-Dur-Werk an zweiter Stelle einen Satz auf der Tonika fis folgen läßt: in seinem Klavierquartett WoO 36 Nr. 2 von 1785 handelt es sich dabei aber um die weit weniger „extravagante“ Mollmediante fis-moll.)

Mendelssohn-Kennern wird es nicht entgehen, daß das Kopfthema eine weitere Metamorphose jenes Grundthemas ist, das der Komponist in den Wochen vor der Entstehung unseres Sextetts schon zweimal an analoger Stelle eingesetzt hat: nämlich im Es-Dur-Andante der Symphonie op. 11 (c-moll, Februar-April 1824) und im Salve regina (Es-Dur, MWV C 2, April 1824). Die Ähnlichkeiten zwischen diesen drei Formulierungen sind so frappant, daß sie auch im größten Schaffensrausch dem jugendlichen Genie wohl schwerlich nur einfach „unterlaufen“ sein können. Wenn man sich auf die Suche nach einem möglichen „Urbild“ dieser thematischen Gestalt macht, wird einem sehr bald das Kirchenlied „Fest soll mein Taufbund immer stehn“ begegnen. Der (heute meist von seinen dogmatischen Härten befreite) Text dieses Liedes begegnet uns zuerst in den „Gesängen beym Römischkatholischen Gottesdienste“, die Christoph Bernhard Verspoell (1743-1818) 1810 in Münster (Westfalen) drucken ließ. Es ist durchaus denkbar, daß Felix, dessen Familie ja gleich nach der Flucht aus Hamburg vom Sommer 1811 bis 1820 Zuflucht im Haus des evangelischen Pastors Johann Jakob Stegemann (Markgrafenstraße 48) gefunden hatte, dort der auch heute noch über Konfessionsgrenzen hinweg bekannten Melodie dieses Taufliedes begegnet sein mag – immerhin war es ja auch Pastor Stegemann, der Felix und seine Geschwister am 21. März 1816 taufte. Jedenfalls dürfen wir an dieser Stelle noch einmal daran erinnern, daß Mendelssohn ab 1822 an den Beginn fast aller seiner Erstschriften das Kürzel „L.e.g.G.“ (Laß es gelingen, Gott!), später auch, noch knapper, „H.D.m.“ (Hilf Du mir!) setzt; und mit diesem (uns in rührender Weise an Haydn erinnernden) Stoßgebet „L.e.g.G.“ beginnt auch das rätselhaft fehlerlose Autograph unseres Sextetts: die nachträglichen Verbesserungen sind an einer Hand abzuzählen, und gestrichene Takte gibt es überhaupt keine – eine wahre Rarität bei dem schon in jüngsten Jahren überaus selbstkritischen und perfektionistischen Komponisten.

Auch jenen Hörern, die an den eben erwähnten Besonderheiten des zweiten Satzes achtlos vorübergegangen sein mögen, wird auffallen, daß dieses Adagio im Vergleich zum Eröffnungssatz erstaunlich knapp, ja geradezu aphoristisch wirkt. Noch einen Schritt weiter geht Mendelssohn aber mit dem folgenden Menuetto (Agitato, d-moll/F-Dur, 6/8): Mit seinen 78 Takten unterschreitet dieser Satz sogar schon an äußerlicher Ausdehnung das Adagio, und der lakonische Eindruck wird noch dadurch unterstrichen, daß Mendelssohn – entgegen dem lang erprobten und gut bewährten Herkommen – auf die (traditioneller Weise durch Wiederholungszeichen markierte) Zweiteilung der beiden obligaten Satzteile, Menuett und Trio, verzichtet. Der skizzenhafte Charakter des Stückes wird durch den (für ein Menuett äußerst atypischen) Sechsachteltakt sowie im Hauptteil noch zusätzlich durch die synkopisch jeweils auf das zweite und fünfte Achtel atemlos nachschlagenden Baßnoten bekräftigt. Diese „stiefmütterliche“ Behandlung eines Sazttyps, in dem Mendelssohn sonst mit besonderer Vorliebe den ganzen feenhaften Charme seines Genies beweist, mag zunächst erstaunen, ja sogar befremden – doch die Lösung des Rätsels steht unmittelbar bevor.

Mendelssohn hat sie für das ausgedehnte Finale (Allegro vivace – Agitato – Allegro con fuoco, D-Dur/d-moll, C – 6/8 – C) aufgespart, es aber so eingerichtet, daß man diesem Satz seine Schlüsselrolle zunächst gar nicht ansieht. Ganz im Gegenteil könnte man über weite Strecken den Eindruck haben, es handle sich hier einfach um den vertraut-versöhnlichen Kehraus, mit dem alle früher etwa aufgeworfenen Fragen nonchalant beiseite gekehrt werden sollen. Diesem Eindruck entspricht auch die hier weit stärker als in den vorangegangenen Sätzen hervortretende Dominanz des Klaviers. So ruht schon das übermütig und spöttelnd dahinplappernde Hauptthema ganz in den Händen des Pianisten. Freilich aber darf sich das Streichquintett dann im Seitenthema, das mit einigen ganz unerwarteten kontrapunktischen Gelehrsamkeiten aufwartet, kurz zu Wort melden, bevor das Klavier die Exposition mit brillant-leichtsinnigem Passagenwerk weiterführt.

Doch warum zügelt Mendelssohn knapp vor deren Ende den affirmativen Fortissimo-Jubel in ein geheimnisvolles Pianissimo, in das Geige und Violoncello bedeutungsvoll die Vergrößerung jener unscheinbaren chromatischen Kadenzgeste werfen, mit der das Trio des Menuetts geendet hat? Nun, die nachdenkliche Trübung dauert nur wenige Takte, und schon finden wir uns in der Wiederholung der wortreichen und lebenslustigen Exposition wieder – bereit, den flüchtigen Moment des Zweifels für eine Fata morgana zu halten. (Der Satz bietet, nebenbei gesagt, ein unscheinbares Musterbeispiel dafür, wie gefährlich es sein kann, vom Komponisten vorgesehen Wiederholungen zu mißachten: Die Wirkung jenes dramaturgischen Kniffs, von dem gleich die Rede sein wird, setzt Texttreue der Interpreten und Langmut der Hörer voraus!)

Daß dann in der sehr knappen Durchführung gerade jene Kadenzgeste, nun schon eindringlicher, im Mittelpunkt steht, wird aber bei aufmerksameren Hörern vielleicht die Spannung steigen lassen: Worauf will der erstaunliche Knabe hinaus?

Wir müssen uns noch die ganz regelkonforme Reprise hindurch gedulden, bevor wir eine Antwort bekommen: Erst ganz an ihrem Ende, genau wenn jene, uns nun vielleicht schon als hintergründige idée fixe erscheinenden Wendung wiederkehrt, die diesmal (in ihrer Wirkung durch ein subito piano und durch immer beharrlichere Molltrübung verstärkt) von der Geige allein ins Spiel gebracht wird, verbeißt sich die Diskussion mit stetig wachsender dramatischer Insistenz bis ins Tripelforte – und plötzlich finden wir uns als verblüffte Zeitreisende wieder in das D-moll-Menuett (Agitato) zurückgeworfen, das hier in seiner vollen Länge, dynamisch ins Fortissimo gesteigert und in leidenschaftlich erregter Tutti-Textur, wiederkehrt, ja schließlich noch durch eine weiterspinnende Fortführung auf nahezu das Doppelte der ursprünglichen Ausdehnung erweitert wird, bevor Mendelssohn Satz und Werk mit einigen wenigen Takten (Allegro con fuoco) im ursprünglichen Metrum beschließt. Was ihn dazu bestimmt haben mag, in den letzten drei Takten – nach fast hundert D-moll-Takten! – doch noch nach D-Dur zurückzukehren, läßt sich schwer sagen: Charakterlich schließt das Werk ganz ohne Zweifel in Moll.

Rückblickend erschließt sich nun die Notwendigkeit der den Kopfsatz beschließenden Coda: Sie weist vorausdeutend schon auf die formale Erweiterung des analog gebauten Finales hin. Und auch die Lakonik des Menuetts erscheint jetzt nachträglich gerechtfertigt: Nur ein so knapp formuliertes Stück konnte in extenso in den Schlußsatz verpflanzt werden. Gerade das Zusammentreffen all dieser dramaturgischen Aspekte macht klar, daß Mendelssohns Vorbild für diesen eigenwilligen Rückgriff keineswegs Beethovens C-moll-Symphonie gewesen sein kann, wie etliche Male gemutmaßt wurde: Denn dort haben wir es im Finale nur mit einem kurzen und folgenlosen Einschub eines Zitates aus dem dritten Satz (der ja übrigens nahtlos in den Schlußsatz übergeht und schon deshalb von vornherein organisch mit ihm verbunden ist) unmittelbar vor dem Eintritt der Reprise zu tun, während hier die Wiederkehr des ganzen Menuett-Hauptteils ganz am Ende des formalen Ablaufs den ganzen Finalsatz gewissermaßen umdeutet und „entgleisen“ läßt. (Das heißt freilich nicht, daß Beethovens „Kniff“ nicht doch eine Anregung für Mendelssohn gewesen sein könnte.) Hier bereichert dieser Kunstgriff den Schlußsatz, der ansonsten leicht konfliktlos und konventionell wirken könnte, um eine ebenso wesentliche wie unerwartete Facette – und legt beredtes Zeugnis für den schlafwandlerisch sicheren Instinkt des jugendlichen Komponisten ab.

Zuhören nach zweihundert Jahren?

Die hochgespannten Erwartungen einiger Londoner Rezensenten, Mendelssohns jugendliche Opera 106 und 110 würden als erstaunlich frühreife Meisterwerke bald einen fixen Platz im Standardrepertoire einnehmen, haben sich nicht erfüllt. Die österreichische Erstaufführung des Sextetts scheint erst am 19. November 1876 in Linz stattgefunden zu haben, und auch danach war das Werk hierzulande nicht oft zu hören.

Generell war die Rezeption musikalischer Novitäten im letzten Drittel des XIX. Jahrhunderts ganz vom Streit zwischen „Brahminen“ und „neudeutschen Wagnerianern“ bestimmt, und zwischen diesen beiden ästhetischen Mühlsteinen wurde ein fragiles Jugendwerk, noch dazu ein erst nach Jahrzehnten „ausgegrabenes“, achtlos zermalmt. (Man sollte, was ganz allgemein die Haltung gegenüber Frühwerken betrifft, auch nicht vergessen, daß etwa Brahms selbst Schuberts frühe Symphonien für nicht publikationswürdig hielt.) In den dunklen Jahren, die folgen sollten, wurde der Name des Komponisten zur Last. Und als Mendelssohn dann endlich auch den Menschen in seiner Heimat wiedergeschenkt wurde, flüchtete das Publikum gerade vor den immer totalitärer werdenden Zumutungen der Darmstädter Dogmata am liebsten zu den großen Meisterwerken – da konnte sich ein, wenn auch beachtliches, Jugendwerk neben dem Mendelssohnschen Violinkonzert kaum Gehör verschaffen.

Doch seit die nach Musik darbenden Menschen mit den penetranten Primitivismen einer industriell konfektionierten Popularmusik und dem intellektuell verbrämten Infantilismus der „Minimal music“ konfrontiert sind, scheinen Interesse und Aufnahmebereitschaft für wahrhaft sprechende Zeugnisse des Wachsens und Werdens unserer großen Meister deutlich zuzunehmen: Während für die Zeit vor 1980 in Wien (in Musikverein und Konzerthaus) nur drei Aufführungen des Mendelssohnschen Sextetts belegt sind, war es zwischen 1981 und 2015 immerhin schon sechsmal in Wien zu hören.

© Claus-Christian Schuster

Fortsetzung im Elysium: Das Ebert-Trio

Das Ebert-Trio hat 65 Jahre nach seinem Brahms-Saal-Début eine neue Heimstatt gefunden

Im Abstand von nur wenigen Stunden haben uns am späten Abend des 31. August und am Morgen des 1. September 2013 nacheinander Wolfgang und Georg Ebert verlassen; Schwester Lotte ist ihnen am Leopolditag nachgefolgt – und damit wurde, von den Medien kaum beachtet, ein Kapitel österreichischer Kammermusikgeschichte geschlossen. Der ensemblistisch einmütige Tod der Geschwister paßt perfekt und emblematisch zu einem der Kammermusik geweihten Leben, auf das zurückzublicken sich durchaus lohnt.

Vater Ludwig (1894-1956) war ein Sohn Emil Eberts, der 1884 in Würzburg die (bis heute bestehende) pharmazeutische Großhandlung Ebert+Jacobi gegründet hatte. Nach dem frühen Tod der Eltern war er in der Obhut seiner drei älteren Schwestern aufgewachsen; sein durch den Krieg und die nachfolgende französische Kriegsgefangenschaft unterbrochenes Chemiestudium hatte er, ohne darüber seine geliebte Geige zu vernachlässigen, 1920 wieder aufgenommen und 1923, im Jahr seiner Promotion, die einer Frankfurter Kaffeegrossistenfamilie entstammende Tilly Stock (1897-1970) geheiratet, die auf bestem Wege war, eine respektable Pianistin zu werden.

Der Lebensweg der jungen Familie folgte von nun an Ludwigs akademischer Laufbahn: ein Rockefeller-Stipendium ermöglichte ihm nach Abschluß seiner regulären Studien in Würzburg einen Studienaufenthalt bei Niels Bjerrum in Kopenhagen, wo 1924 der erste Sohn, Wolfgang, zur Welt kam; danach führten ihn ein Folgestipendium und sein Interesse für die Kryochemie zu Willem Hendrik Keesom nach Leiden – hier wurde dem Ehepaar 1926 die einzige Tochter, Käthe Lotte, geboren. Und schließlich konnte er sich bei Nobelpreisträger Fritz Haber in Berlin habilitieren, wo 1928 die Zwillinge Georg und Klaus die Familie vervollständigten. Der Berlinaufenthalt war für die junge Mutter besonders genußreich: Hier konnte sie nämlich ihre Klavierstudien bei Siegfried Ochs fortsetzen und beenden.

So wuchsen die vier Kinder in einem musikdurchtränkten Umfeld auf. Schon in Würzburg, wohin der Vater bald nach der Geburt der Zwillinge als außerordentlicher Universitätsprofessor berufen worden war, und ab 1934 in Karlsruhe, wo er die Stelle des im Jahr davor aus „rassischen“ Gründen pensionierten Georg Bredig als Odinarius des traditionsreichen Instituts für physikalische Chemie annahm, widerhallte das großbürgerliche Haus Ebert vom Üben der Kinder und der emsig betriebenen Hausmusik der Eltern. Daß sich Wolfgang als der älteste dem Cello widmete, eröffnete dem häuslichen Musizieren schon bald das Wunderreich des Klaviertrios. Lotte schwankte kurz zwischen den Instrumenten der Eltern, bevor sie sich endgültig für die Geige entschied; daneben pflegte sie ihr außergewöhnliches bildnerisches Talent, indem sie das Familienleben mit reizenden Scherenschnitten dokumentierte, die bis heute ein sorgfältig gehüteter Schatz des Familienarchivs sind. Von den Zwillingen, die sich zunächst mit der Blockflöte begnügten – noch Lottes Scherenschnitt von 1941 illustriert dieses Frühstadium des Ebertschen Kinderquartetts –, wandte sich Georg schon bald der Klarinette, und Klaus, dem älteren Bruder nachstrebend, dem Cello zu.

Alle diese musikalischen Ambitionen wurden durch die 1940 erfolgte Übersiedlung nach Wien entscheidend gefördert: Hierher hatte man Ludwig Ebert nach einem kurzen Intermezzo in Greifswald berufen, ohne daß er die Früchte seiner bis heute anerkannten Aufbau- und Organisationsarbeit in Karlsruhe ernten hätte können. Daß er dem Ruf nach Wien trotzdem ohne zu zögern folgte, hatte sicher auch mit der Aussicht auf die bestmögliche Förderung der musikalischen Talente der Kinder zu tun.

Ein standesgemäßes Domizil findet sich in der nach dem Physiker Andreas von Ettingshausen benannten Döblinger Gasse – schon das ein gutes Omen. Das Konzert-, Opern- und Theaterleben der Stadt bietet Eltern und Kindern reichlich Anregung. In der von Gottfried Preinfalk geleiteten Wiener Rundfunk-Spielschar („HJ-RS 15“), die an den Dienstagabenden jeweils Direktübertragungen zu bestreiten hat, sammeln alle vier Geschwister erste Orchestererfahrungen; der Verpflichtung zu allen anderen „Pimpfen-“ und „HJ-“ oder „BDM-“Aktivitäten weicht man hingegen unter Hinweis auf die vorrangigen musikalischen Studien geschickt aus – ihre kritische Haltung gegenüber dem Regime hat Mutter Tilly schon zuvor mit der ostentativen Zurückweisung des ominösen „Mutterkreuzes“ demonstriert. Obwohl Georg als Schüler der Klarinettenlegende Leopold Wlach so begabt ist, daß sogar das jüngere Wunderkind Alfred Prinz in ihm einen ernsthaften Konkurrenten zu sehen vermeint, findet er bald im Klavier seine eigentliche Berufung. Gleich nach Abschluß seiner Pflichtschulzeit bricht er das Gymnasium ab, um sich ganz der Musik widmen zu können (daß er so nebenbei auch dem verhaßten Dienst als „Flakhelfer“ entgeht, ist ein nicht unerwünschter Nebeneffekt dieser Entscheidung); Josef Dichler wird sein Klavierlehrer. Seine Geschwister bleiben der Schule in der Gymnasiumstraße treu. Wolfgang, der in Richard Krotschak einen herausragenden Pädagogen gefunden hat, muß 1943 ins Feld, während Lotte ihr Geigenstudium bei dem erfahrenen Quartettisten Ernst Morawec fortsetzen kann. Klaus entscheidet sich trotz der Fortschritte, die er als Cellist in den Klassen von Krotschak (dessen Frau Grete ihm zur „zweiten Mutter“ wird) und Wilhelm Winkler macht, zwar schließlich für die Wissenschaft, komplettiert aber während der kriegsbedingten Abwesenheit des großen Bruders das Haustrio.

Als Wolfgang am 13. Mai 1945, dem 19. Geburtstag seiner Schwester, aus dem Krieg heimkehrt, liegt das Wiener Elternhaus schon seit zwei Monaten in Schutt und Asche. Zunächst findet man in Strobl am Wolfgangsee eine provisorische Unterkunft – und im Salzkammergut fühlt sich die Familie so wohl, daß man im folgenden Jahrzehnt immer wieder auf Sommerfrische hierher zurückkommt: Die Pension Praunfalk in Bad Aussee bietet lange Zeit hindurch einen idealen Zweitwohnsitz, an dem man fast ein Drittel des Jahres zu verbringen pflegt, und die Liebe zu dieser Landschaft wird sich noch viele Jahrzehnte später in Wolfgangs akribischer musikgeschichtlicher Lokalstudie „Brahms in Aussee“ (1997) niederschlagen. Bad Aussee ist auch der Schauplatz erster Wettbewerbserfolge der jungen Musiker, die inzwischen viele wertvolle Erfahrungen sammeln konnten: Georg bei Meisterkursen von Friedrich Wührer und Edwin Fischer, Lotte im Unterricht von Vaša Přihoda, Ricardo Odnoposoff und Wolfgang Schneiderhan, und Wolfgang bei Enrico Mainardi. Hier, in Bad Aussee, schlägt auch die Geburtsstunde des Ebert-Trios: Am 23. Juli 1948 treten Georg, Lotte und Wolfgang mit Mozarts letztem Klaviertrio (G-Dur, KV 564) hier ein erstes Mal öffentlich auf. Haydns unverwüstliches „Zigeuner-Trio“ und Schuberts Opus 99 sind die nächsten Werke im Repertoire des jungen Trios, über das Wolfgang von Anfang an penibel Buch führt. Im Brahms-Saal des Wiener Musikvereins findet dann am 21. März 1949 das „offizielle“ Début des Ensembles statt.

So stürmisch entwickelt sich die Karriere des Trios, daß Wolfgang ohne langes Bedenken seine Stelle als Cellist des Niederösterreichischen Tonkünstlerorchesters aufgibt, um sich ganz der neuen Aufgabe zu widmen. Bis zum feierlichen Abschiedskonzert, mit dem das Ebert-Trio am 15. Mai 1990 seine 42jährige Tätigkeit beendet, wird Wolfgang nicht weniger als 1546 Konzertauftritte in seiner Chronik verzeichnen können, fast die Hälfte davon in Deutschland, etwa ein Fünftel in Österreich (wo die Auftritte im Brahms-Saal ein Fixpunkt bleiben) und der Rest verteilt auf Italien und ein Dutzend weiterer Länder. Seit dem Jänner 1952 spielt man etwa die Hälfte des – zuletzt an die hundert Werke, darunter 15 zumeist dem Ensemble gewidmete Trios lebender österreichischer Komponisten umfassenden – Repertoires auswendig, auch darin wie in der sorgfältigen Dokumentation des eigenen Wirkens dem legendären Trio di Trieste nacheifernd. 1957-1960 ist mit jeweils rund 100 Konzerten pro Jahr der Zenit der Tätigkeit erreicht; aber erst nach 1974 – Georg ist inzwischen als Professor an die Wiener Musikhochschule berufen worden – reduziert man die Anzahl der Auftritte drastisch, um sich zwischen 1979 und 1985 überhaupt eine siebenjährige „Sabbat-Ruhe“ zu gönnen, bevor sich das Ensemble in den seltenen Auftritten der allerletzten Triojahre bis 1990, von einem Berliner Abschiedskonzert im Oktober 1989 abgesehen, im wesentlichen auf Wien beschränkt.

In der österreichischen Triogeschichte nimmt das Ebert-Trio eine Pionierstellung ein: Ein Jahrzehnt vor dem fulminanten, aber kurzlebigen „Jungen Wiener Trio“ (Buchbinder/Guth/Litschauer) und lange vor dem Haydn-Trio hat das Ensemble bewiesen, daß das Triospiel eine lohnende Lebensaufgabe sein kann.

Ob sich ihm jetzt, an anderem Ort, ein neues Wirkungsfeld eröffnet?

Gleichviel: Wir, die wir als Musiker und Zuhörer die Nutznießer ihrer mutigen Entscheidung sind und bleiben, schulden ihnen Dank.

Brodmann, Bösendorfer und die Last der Geschichte

Gegen Jahresende 2007 rückten die Turbulenzen rund um den Verkauf der Traditionsfirma Bösendorfer neben dem Namen des neuen Eigentümers Yamaha auch einen anderen Namen wieder ins Licht der Öffentlichkeit, der uns an die Wurzeln dieses für den Ruf des Wiener Klavierbaus so bestimmenden Unternehmens zurückführt: Joseph Brodmann. Unter diesem Namen hatte sich nämlich 2005 ein Betrieb etabliert, der sich um die Übernahme der Firma Bösendorfer bemühte und auf eine zumindest ideelle Verbindung mit dem legendären Lehrer Ignaz Bösendorfers großen Wert legte, in dem (nun sagen wir: nicht restlos durchsichtigen) Verkaufsverfahren aber schließlich dem japanischen Großunternehmen unterliegen mußte, das immerhin auch schon auf eine mehr als hundertjährige Erfahrung im Klavierbau verweisen durfte. Diese für die ambitionierten Klavierbauer der jungen Firma mit dem klangvollen alten Namen schmerzliche Niederlage war der erste Schicksalsschlag, dem in den folgenden Jahren noch etliche weitere folgen sollten, so daß die Nachricht vom Konkurs des Unternehmens im Mai 2014, also nicht einmal zehn Jahre nach seiner Gründung, nicht völlig überraschend kam.

Freilich war der Bezug der Firmengründer auf Joseph Brodmann ein etwas abstrakter, und es lag ihm keine wirkliche Verbindung zu dem berühmten Pionier des Klavierbaus zugrunde. So war etwa noch mehrere Jahre nach der Firmengründung auf der Website des Unternehmens zu lesen: „Josef Brodmann wurde 1763 im preußischen Eichswald (im heutigen Deutschland) geboren“, eine (später anerkennenswerter Weise korrigierte) Fehlinformation, die recht typisch für die im Internetzeitalter überhandnehmende Unart des unkritischen Abschreibens ist. Denn was die Jungunternehmer da über den Namenspatron ihrer Firma schrieben, konnte man auch schon 2002 im „Oesterreichischen Musiklexikon“ (immerhin mit Fragezeichen, aber nur bezüglich der gerade zutreffenden Jahreszahl) lesen.

Nun wäre es allerdings unbillig, von dem in der Österreichischen Akademie der Wissenschaft angesiedelten Redaktionskollegium dieses nationalen Nachschlagwerkes zu verlangen, alle aufgenommenen Informationen auch gleich auf ihre Richtigkeit zu überprüfen – vor allem wenn man bedenkt, welche Mühe es machen muß, möglichst keinen kommerziell erfolgreichen Schlagersänger zu übersehen, der sich dann darüber beschweren könnte (zum Glück kann man sich aber zum Ausgleich für diese Anstrengung einige großzügige Auslassungen bei verstorbenen Musikern leisten). Doch in diesem konkreten Falle wäre es recht leicht gewesen, sowohl die Quelle der Fehlinformation als auch den tatsächlichen Geburtsort einer für die Geschichte des Wiener Instrumentenbaus zentralen Persönlichkeit zu eruieren. Der Irrtum geht auf einen ganz banalen Flüchtigkeitsfehler im 1966 herausgegebenen Katalog der Sammlung alter Musikinstrumente des Kunsthistorischen Museums (I. Teil: Saitenklaviere) zurück, wo ein zerstreuter Redakteur aus „Eichsfeld“ kurzerhand „Eichswald“ gemacht hat. „Preußen“ wurde dann einfach hinzugedichtet – denn Preußen ist, oder vielmehr: war groß, und wer will es denn schon so genau wissen?

Sicher: kein weltbewegender Irrtum, nur eine kleine Flüchtigkeit. Aber könnte es nicht sein, daß eben jene, Tradition und Geschichte zwar ständig und vollmundig beschwörende, aber keine Geduld für das Détail und keine Zeit für den Rückblick in die Geschichte aufbringende Haltung auch für den unbestreitbaren (und wohl irreversiblen) Niedergang des Wiener Klavierbaus mitverantwortlich ist?

Im Eichsfeld, am Nordwestrand Thüringens und ziemlich genau in der Mitte des heutigen Bundesgebietes, liegt die kleine Gemeinde Deuna. Knapp über tausend Einwohner, Tendenz fallend. Die katholische Kirche St. Peter und Paul in der Sandgasse 3, Filialkirche von St. Marien in der Nachbargemeinde Niederorschel, eine kleine katholische Enklave inmitten fast rein protestantischen Territoriums, wird von Pfarrer Vinzenz Hoppe betreut. Hochwürden Hoppe ist freundlich und geduldig. Es dauert einige Zeit, bis er in einem der ältesten Bände des Taufregisters fündig wird: Band 20 verzeichnet auf Seite 192 die am 4. September 1763 erfolgte Taufe von Joseph Brodmann; die Eltern sind der Tischlermeister Johann Brodmann und dessen Frau Maria Elisabeth, geb. Schwert.

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Joseph Brodmann erlernt das Handwerk seines Vaters und geht anschließend auf Wanderschaft, die ihn 1783 nach Wien führt. Hier tritt er als Geselle bei dem jungen Orgel- und Klavierbauer Ferdinand Hofmann (1756?-1829) ein, der bald zu einem der erfolgreichsten Vertreter seines Gewerbes werden sollte und gegen Ende des Jahrhunderts mit seinen acht Mitarbeitern eine Jahresproduktion von über 50 Instrumenten erreicht ( – Hofmann hat man, wohl aus Angst, auch seinen Geburtsort nicht eruieren zu können, vor allem aber, um Platz für die allseits ersehnte Biographie des DJ Ötzi zu schaffen, in das „Oesterreichische Musiklexikon“ erst gar nicht aufgenommen). Am 14. Oktober 1796 – wenige Monate nach der Geburt seines späteren Schülers Ignaz Bösendorfer – leistet Brodmann den Bürgereid und eröffnet anschließend eine eigene Klavierwerkstatt in der Vorstadt Landstraße (Gemeingasse, heute Salmgasse), die er 1803 in die Josephstadt (Am Glacis 43, heute Lenaugasse 10) verlegt. Er gilt schon bald als einer der führenden Vertreter seines Faches und fungiert 1812 als Zweiter, 1813/14 als Erster Vorsteher des Gewerbes. 1813 tritt auch sein späterer Nachfolger Ignaz Bösendorfer (* Wien, 27. Juli 1796, wie Brodmann selbst Sohn eines Tischlers) als Lehrling bei ihm ein, dem er dann in Schuberts Todesjahr 1828 den Betrieb übergibt. Brodmann kann den weiteren Aufstieg seines Meisterschülers noch mitverfolgen – er stirbt erst am 13. Mai 1848, hochangesehen und unter Hinterlassung des beachtlichen Vermögens von 125.000 Gulden.

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Ignaz Bösendorfer bildete sich auf ausgedehnten Auslandsreisen weiter und durfte ab 1836 den Titel „K. k. Hof-Klavierverfertiger“ führen. Bei den Industrieausstellungen der Jahre 1839 und 1845 errang er Goldmedaillen; bei letzterer hatte er, wie auch seine Hauptkonkurrenten Seuffert, Schweighofer und Streicher, zwei Konzertflügel westeuropäischer Bauart ausgestellt: einen mit englischer Mechanik und einen mit Doppelrepetitionsmechanik nach dem französischen Vorbild von Erard. Doch zunächst verfolgte nur Streicher diesen Weg konsequent in die Serienproduktion weiter; erst nach Ignaz´ Tod (14. April 1859) wandte man sich unter der Firmenleitung von dessen älterem Sohn Ludwig Bösendorfer (* Wien, 10. April 1835) der serienmäßigen Produktion von Konzertflügeln mit englischer Mechanik zu, wobei nebeneinander ein geradsaitiges und ein kreuzsaitiges Modell angeboten wurde.

(Eines seiner Instrumente aus dem Jahre 1874, das 2007 im Klavieratelier Gert Hecher gründlich instandgesetzt worden war, konnte das Altenberg Trio Wien ab 2008 in einigen seiner Konzerte im Brahms-Saal des Wiener Musikvereins dem Publikum vorstellen. Es repräsentiert die ausgereifte Variante des kreuzsaitigen Modells 10, noch mit dem (nur wenige Jahre später in der Produktion durch einen Gußeisenrahmen ersetzten) verschraubten Schmiedeeisenrahmen. Es ist 260 cm lang und in Palisander furniert. Die Gußeisenrahmenvariante dieses Modells wurde noch bis um 1890 hergestellt; danach verlegte sich die Firma auf die Entwicklung grundlegend anderer Typen.)

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Unter Ludwig Bösendorfer stand die Firma, nicht zuletzt dank einer klug und umsichtig betriebenen Öffentlichkeitsarbeit, im Zenith ihres Ansehens. Schon im Jahr nach dem Tode seines Vaters eröffnete er die neue Produktionsstätte auf dem Alsergrund (Türkenstraße 9), der auch ein Konzertsaal angeschlossen war. 1862 begann in London die Reihe seiner Triumphe auf den Weltausstellungen (1873 Wien, 1900 Paris). 1870 eröffnete er die neue Fabrik auf der Wieden (Graf-Starhemberg-Gasse 14) und verlegte gleichzeitig das Verkaufslokal in das Liechtensteinsche Palais in die Herrengasse 6. Der dort 1872 in der umgebauten Liechtensteinschen Reitschule eröffnete Bösendorfer-Saal, der den Vorgängersaal in der Türkenstraße ablöste, war in den vier Jahrzehnten seines Bestehens Wiens erste Adresse für Kammermusik und der beste Werbeträger für den inzwischen international hochgeachteten Firmennamen. Bösendorfer wurde in diesen Jahren Hoflieferant nahezu aller regierenden Häuser. Auch dem äußeren Erscheinungsbild seiner Flügel schenkte Ludwig Bösendorfer besondere Aufmerksamkeit: Theophil Hansen, Hans Makart und Josef Hoffmann entwarfen luxuriöse Sondermodelle. 1909 verkaufte der kinderlose Ludwig Bösendorfer den Betrieb an den musikliebenden (und selbst als Komponist, Pianist und Cellist dilettierenden) Bankier Carl Hutterstrasser (1863-1942), nebenbei einen Pionier des Radrenn- und Skisports in Österreich. Als der Bösendorfer-Saal 1913 demoliert wurde, übersiedelte das Verkaufslokal der Firma in das Musikvereinsgebäude, wo es sich, trotz vielfachen Wechsels der Firmeneigentümer, bis heute befindet. Ludwig Bösendorfer starb zehn Jahre nach dem Verkauf des Betriebs am 9. Mai 1919 in Wien.

Der Last ihrer glanzvollen Geschichte konnten die Namen Brodmann und Bösendorfer nicht standhalten – aber ein Echo des mit ihnen verbundenen Klanges wird vielleicht in jenen raren Instrumenten bewahrt, die uns aus der Blütezeit des Wiener Klavierbaus erhalten blieben und heute wieder spielbar sind.

Die Internationale Paul-Juon-Gesellschaft

Grußwort bei der Übernahme der Präsidentschaft der IPJG
in der Nachfolge von Thomas Badrutt (1934-1999)
Chur, 18. Juni 2000

Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Liebe Juonianer!

Etwas mehr als nur eine Ahnung von den Streit- und Kampfgewohnheiten des Menschengeschlechts hat sich schon immer auch dem idealen Reich der Tonkunst mitgeteilt: Da wurden Komponistenköpfe zu Trophäen, Akkorde zu Parolen, Konzertsäle zu Schlachtfeldern, und der Kampf zwischen Gluckisten und Piccinnisten, zwischen Wagnerianern und Brahmsianern wurde nicht immer nur mit Worten ausgetragen – auch wenn die letzteren sich viel lieber als „Brahminen“ gegeben und gerne stoisch geblieben wären. Der von Schumann hochgeschätzte Schubert-Freund Franz Lachner, der einmal mit inquisitorischer Insistenz gefragt wurde, ob er denn auch „Wagnerianer“ sei, antwortete mürrisch: „I bin selber aner!“ – ein Dictum, das ihm die Nachwelt allzu leichtfertig als unfreiwilliges Eingeständnis seiner Unfähigkeit, musikhistorische Zusammenhänge und Proportionen zu erkennen, ausgelegt hat. Denn jeder wahrhaft schöpferische Geist ist doch zunächst und vor allem einmal „selber aner“, und man hat es den Bergen noch nie als Epigonentum ausgelegt, wenn einer weniger hoch oder leichter zugänglich als andere ist.

Da sich nun aber die Zwänge der sozialen Hackordnung bei der Species Homo sapiens, anders als bei den Tieren, nicht auf die Rituale der Paarung und der Revieraufteilung beschränken, muß sich eben auch die Musikgeschichte immer wieder mit den leidigen Fragen nach Größe, Bedeutung und Rang von Komponisten beschäftigen. Einer der Nebeneffekte dieses Umstandes ist das Phänomen jener „Schutz- und Trutzgesellschaften“, die sich einen Komponistennamen zum Kampfruf erküren und in hoc signo einen Großen verherrlichen und vermarkten, einen Verkannten verteidigen oder an einen Vergessenen erinnern. Mehrere Hundert dieser Gesellschaften werben heute um Aufmerksamkeit und Mitglieder, und daß ihre Zahl stetig wächst, paßt recht gut zum Selbstverständnis einer Zeit, die die Kultur eigentlich nur als dekorative Kür neben den kapitaleren Pflichten des Lebens gelten läßt, und der die museale Bewahrung vergangener Herrlichkeiten zum kulturellen Hauptanliegen geworden ist.

All das ging mir durch den Kopf, als Thomas Badrutt mich vor einigen Jahren mit seiner Idee der Gründung einer „Internationalen Paul-Juon-Gesellschaft“ konfrontierte. Mit Juons Musik war ich das erste Mal 1984 in nähere Berührung gekommen, und ihre eigenpersönliche Prägung hatte mich vom ersten Moment an gefangen genommen. Ich bin sicher, daß auch Thomas, trotz – oder besser: gerade wegen – seiner Begeisterung für Juons Musik, einen nicht unbeträchtlichen inneren Widerstand zu überwinden hatte, als es um die Schaffung einer „äußeren“ Organisation für ein Anliegen ging, das auf tiefer Zuneigung und geistiger Liebe gründete; denn Empfindungen dieser Art wehren sich dagegen, an das Licht der Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Aber schließlich obsiegte bei ihm ebenso wie bei seinen erwählten Mitstreitern die Sehnsucht, ein – zumindest von uns als ein solches empfundenes – Unrecht der Rezeptionsgeschichte wiedergutzumachen, über die instinktive Skepsis gegenüber allem Plakativen.

Juon_Paul_1929

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Daß Juon in einen sensiblen, ja geradezu labilen Moment der Musikgeschichte hineingeboren wurde, macht schon ein flüchtiger Blick auf die Chronologie deutlich: Wenn man auch nur die um bis zu drei Jahre älteren oder jüngeren Zeitgenossen Juons Revue passieren läßt, dann steht man vor einer eindrucksvollen Galerie genialer Komponisten, in deren Œuvre sich Bewahrung und Umbruch in gärender, brodelnder Mischung durchdringen, Komponisten, die janusköpfig epimetheische und prometheische Züge in sich vereinen: ( – nicht zufällig verwendete Walter Labhart in einem 1990 erschienenen Artikel mit Blick auf Juon die Wendung „musikgeschichtlicher Anachronismus mit Pioniergeist“, die spiegelbildlich jener berühmten Klassifikation Schönbergs als „konservativer Revolutionär“ entspricht – ): Pfitzner und Reger, Rachmaninov und Skrjabin, Zemlinsky und Schönberg, Roussel und Ravel; mit dem Amerikaner Ives und dem Armenier Komitas melden sich Regionen zu Wort, die bis dahin im Konzert der okzidentalen Kunstmusik unvernehmbar waren. Und hier tritt neben dem zeitlichen auch der räumliche Aspekt von Juons Stellung in unser Gesichtsfeld: Juons Biographie stellt ihn exakt an den Schnittpunkt jener drei großen Kulturkreise, die die abendländische Geschichte bestimmen und beherrschen: In Moskau, dem „dritten Rom“ der Panslavisten, geboren, verleugnet er weder in seiner Musik noch in seinem Wesen die tiefe slavische Prägung; als mit dem Mendelssohn- und dem Beethovenpreis ausgezeichneter Wahlberliner ist er so fest in der deutschen Kultur verwurzelt, daß er den Ungeist, der Beethoven und Mendelssohn zu Antithesen stempeln will und dem es in kürzester Zeit gelingen sollte, den Begriff des „Germanischen“ in der geistigen Welt unbrauchbar zu machen, gar nicht erst erkennen und wahrhaben will. In Vevey, dem Viviscus der Römer, verbringt er seinen Lebensabend, mit dem Blick auf den Lacus Lemanus, das unverlierbare Sinnbild europäischer Romanität.

Als das künstlerische Tagebuch eines Wanderers zwischen den Welten an der Wasserscheide zwischen zwei Zeiten, gewinnt Juons Œuvre somit eine symbolische Bedeutung, die über die großen Qualitäten seiner einzelnen Werke noch hinausreicht. Und ich denke, daß es eben diese Dimension seiner Erscheinung ist, die nicht nur die Existenz unserer Gesellschaft rechtfertigt, sondern auch ihr eigentliches, hintergründiges Programm vorgibt: Natürlich geht es um Erschließung, Verbreitung und Würdigung von Juons Werken, die Erforschung seiner Lebensgeschichte und die Bestimmung seiner Position im geistigen Europa, kurz: um den bemerkenswerten Komponisten; dahinter aber lockt die Möglichkeit, mithilfe des seismographisch sensiblen Mediums, das Juon auch ist, tieferen Einblick in die spirituelle Anatomie einer faszinierenden Umbruchszeit zu gewinnen, deren Zauber mit zunehmender zeitlicher Entfernung eher zu- als abzunehmen scheint.

Wenn wir dieses verborgene Ziel und uneingelöste Versprechen, das hinter unserer Beschäftigung mit dem Phänomen Paul Juon liegt, nicht aus den Augen verlieren, dann hat unsere Gesellschaft die Chance, nicht einfach der 746. Verein zu Ehren eines Komponisten, sondern eine Anregerin, Vermittlerin und Fürsprecherin für die Bewältigung der wahrscheinlich vielschichtigsten und facettenreichsten Aufgabe der neueren Kulturgeschichtsschreibung zu sein.

Daß diese Aufgabe durchaus keine Fleißaufgabe, sondern ein dringendes Postulat ist, erscheint mir angesichts einiger Tendenzen der aktuellen Kunstmusik fraglos. Was die Produktion jener Musik betrifft, die mit den peinlichen Bezeichnungen „E-Musik“ oder gar „klassische Musik“ gebrandmarkt wird, so hat sich in den letzten Jahrzehnten herausgestellt, daß der – weder leichtsinnig noch mutwillig, und schon gar nicht schmerzlos – vollzogene Abschied von der Tonalität kein endgültiger war. Die von den tonalen Experimentatoren der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts aufgezeigten und nur zum Teil beschrittenen Wege gewinnen in dieser Phase für eine junge Komponistengeneration ganz unerwartete Aktualität. In der Musikrezeption, besser gesagt: im Musikkonsum machen sich oberflächlich divergente Phänomene bemerkbar, die vielleicht doch eine gemeinsame Wurzel haben: da ist einerseits die Unkultur des „Easy Listening“, jener für den Bedarf von Zahnarztordinationen mitleid- und rücksichtslos kastrierten „Klassik“, die als musikalisches Tapetenmuster von computergenerierter „U-Musik“ eigentlich nicht mehr zu unterscheiden ist, andererseits eine – anhand von Radioprogrammen recht gut belegbare – Vorliebe für die Musik der Zeit vor 1750 sowie für die allerneueste Tagesproduktion: also von Musiksparten, deren hermeneutische Dimension den allermeisten Hörern nicht mehr oder noch nicht zugänglich ist. All das kommt dem „unbelasteten“ Musikkonsum entgegen und läßt bei weiten Teilen des potentiellen Publikums die Fähigkeit zum Verständnis der Musik als eines komplexen sprachlichen Codes verkümmern. Auch hier kann das Werk von Komponisten wie Paul Juon, also Musik, die den Reiz des Unbekannten und Ungewöhnlichen mit der Bewahrung der Bindung an idiomatische Traditionen verbindet, als Antidotum gegen einen ornamental-unverbindlichen Umgang mit der Sprache der Musik dienen.

Freilich entbinden uns diese weiterreichenden Perspektiven, die unser Engagement für Juon zusätzlich motivieren können, nicht all jener Pflichten, ohne deren Wahrnehmung wir keines der angestrebten Ziele erreichen können: der Gewinnung neuer Mitstreiter und Förderer, der Nutzung bestehender und Erschließung neuer Synergien, der Pflege der Beziehungen zu Schwestergesellschaften in der Hoffnung auf wechselseitige Anregung und Unterstützung – kurz, all jener Agenden, die Thomas Badrutt so souverän, liebevoll und umsichtig zu koordinieren verstand. Der heute durch Sie bestätigte Vorstand wird sich bemühen, mit Ihrer aller Hilfe dieses ihm auf tragische Weise vorzeitig und unverdient zugefallene Erbe in seinem Sinne und Geiste zu verwalten und zu mehren.

Anklänge – Gedanken zum Wesen des Zitats bei Johannes Brahms

Das Phänomen der bewußten Wiederverwendung musikalischer Formulierungen außerhalb des Kontextes, für den sie geprägt wurden, hat schon viele Generationen von Musikliebhabern und -forschern fasziniert. Bei manchen Menschen ist die Wiederhörensfreude so groß, daß sie fast zwanghaft der Sucht erliegen, in kriminalistischer Kleinarbeit überall tatsächliche oder vermutete Zusammenhänge aufzuspüren und sie auf mehr oder weniger gewagte Weise hermeneutisch zu deuten. Brahms hat zwar mehrmals seinen Unmut über diese musikalische Reminiszenzenjagd bekundet, hat aber den sie provozierenden Kunstgriff keineswegs verschmäht. Im Gegenteil: es gibt wenige Komponisten, von denen die vielschichtigen Evokationsmöglichkeiten solcher „Transplantationen“ so subtil und so effizient genützt wurden wie von Brahms.

In den hundert Jahren, die uns von Brahms trennen, hat dieses Phänomen an absoluter Häufigkeit und an spezifischem Gewicht innerhalb einzelner Werke zugenommen. In manchen Fällen, etwa im Œuvre von Bernd Alois Zimmermann, hat es sogar dominante Bedeutung gewonnen. Diese unüberhörbare Entwicklung kann in verschiedenster Weise gedeutet werden. So wurde argumentiert, daß das Zitat in seiner semantischen Polyvalenz der Musik Mitteilungsebenen zurückgewinnen könne, die ihr in Abwesenheit einer verbindlichen idiomatischen Norm sonst verloren gingen – in dieser Deutung wird das Zitat zum Ausweg aus der Sprachlosigkeit.[i] Verbreiteter dürfte hingegen die kulturpessimistische Annahme sein, die Vorliebe für das Zitat sei ein Symptom für das Nachlassen originaler schöpferischer Fähigkeiten. Diesem modischen Lamento wäre vielerlei entgegenzuhalten: vor allem aber die beweisbare Tatsache, daß alle uns bekannten Hochkulturen mit zunehmendem Alter eine Vorliebe für jene künstlerische Verfahren entwickelt haben, die es ermöglichen, den angesammelten Ideen-, Formen- und Bilderreichtum in assoziativer Weise zu nützen; und daß viele der beeindruckendsten Kulturleistungen der Menschheit Produkte solch „eklektischer“ Phasen sind.

Die weite Verbreitung, die die verschiedenen Verfahren der Wiederverwendung musikalischer Antefacta in der jüngeren und jüngsten Musikgeschichte gefunden haben, hat das Erscheinen einer Reihe methodischer Arbeiten und Materialsammlungen sowie einer Vielzahl spezieller Untersuchungen zu diesem Phänomen veranlaßt. Es liegt in der Natur solcher musikwissenschaftlicher Arbeiten und entspricht ihrer Zielsetzung, daß die gewählte Perspektive entweder (bei den grundlegenden Studien) sehr allgemein oder aber (bei den detaillierten Abhandlungen) sehr konkret ist. Die hier kurz skizzierten Gedanken und Bemerkungen zur Brahmsschen Kunst des Zitierens sind demgegenüber aus einem anderen Blickwinkel, nämlich dem des Interpreten, formuliert. Mit der Einnahme dieses Standpunktes nimmt man notgedrungen einige Unschärfen in Kauf. So werden etwa die meisten Interpreten zwar den klaren und nützlichen Begriffsunterscheidungen, die der Methodiker zwischen den verschiedenen Möglichkeiten und Formen der Verwendung von Antefacta trifft, zu folgen vermögen, aber diese Differenzierungen werden im Umgang mit der klingenden Realität des musikalischen Kunstwerkes von sehr untergeordneter Bedeutung bleiben. Der musikalische Text erweckt Assoziationen, auf die der Interpret reagiert. Wie diese Reaktion ausfällt, ist von der Empfänglichkeit des Interpreten für die verschiedenen Bedeutungsebenen dieser Assoziation, mittelbar also sicher auch von seinem Wissen, abhängig. Es ist aber nicht anzunehmen, daß diese Reaktion ihrem Wesen nach das Resultat einer Überprüfung des sie auslösenden Phänomens etwa gemäß den von Zofia Lissa vorgeschlagenen dreizehn Bedingungen für das Vorhandensein eines Zitates[ii] oder den von Kenneth R. Hull formulierten sechs Kriterien für das Vorliegen einer Anspielung[iii] ist. Auch aus diesem Grunde verwende ich hier den Begriff „Zitat“ nicht in seiner streng wissenschaftlichen Bedeutung sondern nur als eine praktische Kurzbezeichnung für die bei Brahms anzutreffenden Spielarten der Wiederverwendung fremder und eigener musikalischer Formulierungen, unabhängig davon, ob es sich dabei um „Zitate“ im engsten Sinne, Anspielungen, Entlehnungen oder Anklänge handelt. Diese letzte Bezeichnung habe ich als Überschrift gewählt, weil sie auch der Titel eines Brahmsliedes (op.7 Nr.3) ist, das, ohne im eigentlichen Sinne zu zitieren, einige der hier berührten Wesenszüge des Brahmsschen Zitates aufweist.[iv]

Wie wohl kein anderer Komponist vor ihm hat Brahms die musikalische Tradition, aus der sein Werk hervorgehen sollte, nicht nur als eine notwendige Vorbedingung seines Schaffens, sondern bewußt auch als eine belastende Hypothek erlebt. Seine berühmten, oft zitierten und fast ebenso oft überinterpretierten Worte von den Schritten des Riesen, die er hinter sich zu vernehmen glaubt, belegen, trotz aller bei der Kommentierung Brahmsscher Äußerungen gebotener Vorsicht, zumindest das Faktum, daß Brahms die eigene Beziehung zu seinen großen Vorgängern nicht nur reagierend, also komponierend, sondern auch reflektierend definierte. Aber auch schon hinter dieser simplen Feststellung lauern jene Mißverständnisse, aus denen die Brahmsrezeption seit jeher zum allergrößten Teil besteht: das Fortspinnen dieses Gedankens könnte zu einer wertenden Gegenüberstellung von agere und flectere verleiten und uns in letzter Konsequenz an der Untiefe des auf Brahms gemünzten Nietzsche-Wortes von der „Melancholie des Unvermögens“ stranden lassen.

Daß für den (sicher nicht geringen) musikalischen Verstand des Wagner-Feindes Nietzsche das Phänomen Brahms zu gewaltig war, soll uns hier nicht weiter beschäftigen; da aber in Nietzsches Verdikt sich ohne Zweifel auch die Meinung des von dem unglücklichen Musiker-Philosophen in Haßliebe umkreisten Zentralgestirns Wagner widerspiegelt, können wir uns einen kurzen Seitenblick auf dessen Urteil über Brahms nicht versagen – wie immer getrübt es spätestens seit der von Brahms mitinitiierten unseligen „Erklärung“ von 1860 auch gewesen sein mag. Wagner schreibt mit überdeutlichem, wenn auch hämisch verzerrtem Bezug auf Brahms:

„Ich kenne berühmte Komponisten, die ihr bei Konzertmaskeraden heute in der Larve des Bänkelsängers (»an allen meinen Leiden«!), morgen mit der Hallelujah-Perrücke Händels, ein anderes Mal als jüdischen Czardasaufspieler und dann wieder als grundgediegenen Symphonisten in eine Numero Zehn verkleidet antreffen könnt.“[v]

Und gerade diese ohnmächtig wutschnaubende Tirade führt uns geradenwegs zum Thema: denn, obwohl Wagner sich hier die Feder von den unverläßlichen Gehilfen Neid und Haß führen hat lassen, trifft er doch mit einer dem Genie oft auch in seinen Fehlurteilen und Verirrungen eigenen Hellsichtigkeit einen Wesenszug der Brahmsschen Musik, der uns hier beschäftigt – nämlich die Kraft der Anverwandlung, die ihr innewohnt und die einen Teil jenes Zaubers ausmacht, gegen den auch der Magier Wagner kein Mittel weiß.

Freilich sind die hier von Wagner verächtlich gemachten Bezugspunkte der Brahmsschen Musik ­– Beethoven, die barocke Musiktradition und die Volksmusik – nur ein Teilaspekt ihrer evokativen Möglichkeiten; Wagner selbst scheint die Unzulänglichkeit des Angriffs empfunden zu haben, denn einige Zeilen weiter nennt er seinen fiktiven Gegenspieler mit den absichtsvoll überzeichneten Brahmszügen den „Komponist[en] des letzten Gedankens Robert Schumanns“[vi] und berührt damit, taktlos und oberflächlich, eine weit wichtigere Quelle dieser Möglichkeiten. Denn er denkt natürlich an die 1861 (also nicht lange nach dem Eklat um die „Erklärung“) komponierten und Schumanns Tochter Julie gewidmeten vierhändigen Variationen op. 23, in denen Brahms jenes „Geisterthema“ verarbeitet, das Schumann in den Tagen der Februarkatastrophe beschäftigt hatte.[vii] Tatsächlich wollte ja Brahms bei der Herausgabe des Werkes im Titel den Bezug zu jenem vermeintlich „letzten musikalischen Gedanken Robert Schumanns“ herstellen, was er dann, dem Wunsche Claras[viii] entsprechend, unterließ. Wenn ich diesen Anknüpfungspunkt für wichtiger erachte als etwa die zahllosen Querbezüge zum Werk Beethovens, so entspringt diese Einschätzung weder einem quantifizierenden Kalkül noch auch einer ästhetischen Wertung (die in diesem Falle eine die Wagnersche Instinktlosigkeit noch übertreffende Anmaßung wäre). Wichtiger ist diese Quelle vielmehr nur deswegen, weil ihre eigene Natur uns etwas vom Ursprung der Brahmsschen Kunst des Zitierens verrät.

Schumann selbst war nämlich davon überzeugt, daß ihm das ominöse Thema von Schubert und Mendelssohn, die ihn in einer Traumvision heimgesucht hatten, diktiert worden sei; tatsächlich aber entstammt ja das Thema, wie inzwischen hinlänglich bekannt, dem langsamen Satz von Schumanns, kurz davor komponiertem, eigenem Violinkonzert. Es handelt sich hier bei Schumann also um ein vermeintliches Fremdzitat, das in Wahrheit ein Selbstzitat ist. Der schöne und berührende „Selbstbetrug“, der da am Ende von Schumanns Lebenswerk steht, findet seine geheimnisvolle Entsprechung ganz am Anfang seiner kompositorischen Laufbahn: In Schumanns drittem Tagebuch, den Hottentottiana, findet sich folgende, zunächst alltäglich erscheinende, doch bei näherer Betrachtung sehr bemerkenswerte Sequenz:[ix]

Studentenextremitäten am 30sten [November 1828]

Früh bei Wiek – […] Probst von hinten u. von vorne – Trio v. Schubert u. die Kritiker – Wiek´s Ver- u. Entzückung – […] Violinspieler Müller und Grabau Entzükung bey´m Trio –

Dito am 31sten (vulgo 1ster December) [1828]

Mein Quartett – Schubert ist tod – Bestürzung – […] – Aufgefundene Charakteristik meiner selbst u. mein inneres Lächeln.

Dieser Passus ist das flüchtige und verschlüsselte Dokument einer Berufung, die entgegen dem ersten Anschein sehr wohl etwas mit Johannes Brahms zu tun hat: Eingebettet in eine Alltagsszene, deren Nebenfiguren freilich alles andere als zufällig sind, blitzt hier die Erkenntnis eines Vermächtnisses auf. Alles an dieser Konstellation scheint der Feder eines allzu phantasievollen Musikschriftstellers entsprungen: die auf die Begeisterung über das Trio folgende Erschütterung durch die Todesnachricht, die wie zufällige erste Erwähnung von Schumanns eigenem ersten Kammermusikwerk (dem Klavierquartett c-moll), die im Hinblick auf Schumanns weiteren Lebensweg symbolträchtigen Zeugen der Szene[x] und endlich die Selbstfindung, die eine früher versuchte Charakterisierung lächelnd verwerfen kann.

Hier ahnt man ein wenig von jenem Mysterium der innigen Seelenverwandtschaft, das in Schumanns Denken und Leben eine so große Rolle spielt. Und von hier aus werden die Brahms betreffenden Prophezeiungen der „Neuen Bahnen“ erst richtig verständlich: als die bewußte und willentliche Weitergabe eines großen Erbes, das Schumann selbst auf rätselhafte Weise von Schubert empfangen hatte.

Obwohl Schumann selbst seine „Berufung“ zur Schubert-Nachfolge – trotz des poetisch überhöhten Tones der Hottentottiana hat er sich selbst freilich nie zu einer so unmißverständlichen Deutung des Vorganges hinreißen lassen – vielleicht als Gnade, sicher aber nicht als Hypothek empfand, hatte auch er mit dem Genius, der da in ihn gefahren war, zu ringen. Das Scheitern gleich des ersten ehrgeizigen Kammermusikprojektes, eben jenes gewissermaßen aus dem Geiste Schuberts empfangenen Klavierquartetts, ist nur ein beredtes Zeugnis für dieses Ringen.[xi] Aber im allgemeinen darf man wohl sagen, daß Schumann diese gedachte Berufung weit weniger zu schaffen machte als Brahms die persönliche und öffentliche, die ihm durch Schumann widerfahren sollte. Gerade die offenkundigen (und oft diskutierten) Probleme, die diese mit den „Neuen Bahnen“ nach außen hin vollzogene „Inthronisation“ des jungen Komponisten mit sich brachte, scheinen die Entwicklung von Johannes Brahms nachhaltig und auf mehreren Ebenen beeinflußt zu haben.

Die uns hier beschäftigende Ebene, nämlich die Ausprägung einer Brahms eigenen Zeichensprache, in der Zitate eine zentrale Rolle spielen, hat in ganz besonderer Weise mit der sich in diesen symbolhaften Vorgängen widerspiegelnden Filiation Schubert – Schumann – Brahms zu tun. Die spezielle Qualität dieses Zusammenhanges erschließt sich am ehesten, wenn man sich dem Thema in „unwissenschaftlich“-naiver Haltung nähert: indem man sich Brahms-Zitate in Erinnerung ruft, die besonders „treffen“.

Die meisten Hörer werden bei diesem Versuch, sobald sie einmal die anekdotisch überstrapazierten „Oberflächenzitate“[xii] beiseite lassen, wohl unweigerlich bei den Selbszitaten anlangen, mit denen Brahms an unzähligen Stellen seiner Instrumentalkompositionen eigene Lieder heraufbeschwört.

Diese oft konstatierten und kommentierten Querbezüge zwischen dem Vokalwerk und der Instrumentalmusik von Johannes Brahms werden üblicherweise ausschließlich aus dem Blickwinkel des Anekdotischen betrachtet. Brahms selbst scheint für diese Betrachtungsweise ausreichend Anlaß zu geben: Wenn im Finale der nach dem Zeugnis Kalbecks „in Erwartung der Ankunft einer geliebten Freundin“ niedergeschriebenen A-Dur-Sonate op. 100 die Schlüsselwendung eines Liedes (op.105 Nr.2) erscheint, dessen Text mit den Worten „Komm, o komme bald!“ schließt, so drängt sich eine naiv-anekdotische Interpretation dieses Selbstzitates geradezu auf. Fast alle Liedzitate bei Brahms lassen sich recht mühelos auf diese Weise „entschlüsseln“, und dieser Umstand deutet an, daß eine solche Lesung nicht nur legitim, sondern darüber hinaus auch vom Komponisten intendiert ist. Auch wortbezogene Fremdzitate, wie etwa das berühmte (in der Endfassung von 1889 eliminierte) Beethovensche „Nimm sie hin denn, diese Lieder!“ aus dem Schlußsatz des Klaviertrios op. 8, fügen sich scheinbar widerspruchslos einer solchen Deutung. Die wortgebundene Musik wäre demnach ein Art Steinbruch, aus dem der Komponist nach Lust und Laune fertige „Sinnbilder“ herausbricht, um sie – zur Freude des Eingeweihten – im wortlosen Kontext der Instrumentalmusik zur Sprache zu bringen.

Um beurteilen zu können, ob eine solche Sichtweise dem Phänomen zur Gänze gerecht wird, sollte man sich fragen, wo und wie es sich schon vor Brahms manifestiert hat; denn wir wissen aus zahllosen Äußerungen von Brahms, daß er scheinbare „Eigenheiten“ immer wieder mit der Autorität der Tradition verteidigte. Dann aber gilt es zu klären, ob und inwieweit Brahms diesen „Kniff“ vielleicht doch in einer ihm eigenen, von seinen Vorgängern abweichenden Weise einsetzt, und, sollte dies der Fall sein, worauf sich denn diese „typisch Brahmsische“ Verwendung eines tradierten Kunstgriffes gründet.

Die erste Schwierigkeit stellt sich uns freilich schon bei der Definition des zu untersuchenden Phänomens in den Weg. Peter Rummenhöller stellt gleich zu Beginn seines Aufsatzes „Liedhaftes“ im Werk von Johannes Brahms klar, daß es ihm „weder um die Aufspürung konkreter Liedzitate (z. B. besonders deutlich in der Akademischen Fest-Ouvertüre) noch um das allgemein »Kantable« bei Brahms zu tun [ist], denn beides findet sich vor und jenseits unserer Problematik in fast allen Epochen der europäischen Musikgeschichte.“[xiii] Das spezifische Phänomen, um das es auch uns geht, hat wirklich mit der Aufspürung konkreter Liedzitate in der Art der in der Akademischen Fest-Ouvertüre verwendeten nichts zu tun. Diese Liedzitate – im konkreten Fall handelt es sich um Volks- und Studentenlieder, die Brahms wahrscheinlich dem Commers-Buch für den deutschen Studenten von 1861 entnommen hat – belegen eine tatsächlich zu allen Zeiten übliche Praxis des Rückgriffs auf bekanntes und allgemein verbreitetes Melodiengut. Charakteristisch für diese Art des Zitates ist der überpersönlich-emblematische Ton, mit dem es vorgebracht wird. Um diesen Ton überhaupt anschlagen zu können, muß das zitierte Material sich aber auch für eine solcherart „plakative“ Verwendung eignen. Choräle, offizielle und inoffizielle Hymnen, politische Lieder – kurz: alles, was gemeinschaftsbildende Signalwirkung ausstrahlt, ist die Domäne dieser Form des Zitates. Brahmsens Gaudeamus gehört ebenso hieher wie Beethovens God save the King (in Wellingtons Sieg op. 91), Čajkovskijs Hymnenzitate in den Ouverturen op. 15 und op. 49 oder die unzähligen Marlborough und Marseillaise-Zitate in der Musik der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts (und darüber hinaus).[xiv] Beispiele für die Verwendung solcher emblematischen, überpersönlichen Zitate ließen sich tatsächlich in großer Menge aus allen Epochen der Musikgeschichte anführen. Ganz anders steht es aber mit der Erscheinung, die uns interessiert. Die eingangs erwähnten Zitate in Brahmsens Instrumentalwerken sind gewissermaßen individueller, privater Natur. Sie haben sogar, und das scheint für diese Sonderform des Zitates ein konstitutiver Zug zu sein, einen sozusagen „hermetischen“ Sinn: sie wenden sich an einen Eingeweihten, Vertrauten. Als Quelle dieser Art von Mitteilung eignet sich in erster Linie das Kunstlied (als Fremd- oder Selbstzitat) oder ein „intimeres“ Volkslied. Es erstaunt nicht, daß diese Spielart des Zitates erst in der Zeit der Entstehung einer bürgerlichen Musikgesellschaft zur vollen Entfaltung kommt. Im bürgerlichenSalon und in dem sich dort zusammenfindenden vertrauten Freundeskreis bietet sich die Chance, auch mit solchen stillen und verborgenen Zeichen verstanden zu werden. Ebensowenig überrascht es, daß die typischsten Beispiele dieser Zitatform der Kammermusik entstammen, während das schlagendere, auffälligere und meist schon widmungsgemäß für die breite Öffentlichkeit bestimmte Zitat der zuerst erwähnten Art meistens in der symphonischen Musik zuhause ist.

Während Brahms das „plakative“ Zitat nur gelegentlich verwendet, ist das „hermetische“ ein fast allgegenwärtiger Wesenszug seiner Musik. Die Musikwissenschaft hat mittlerweile eine beeindruckende und verwirrende Menge solcher Zitate registriert und kommentiert. Daß Brahms hiemit zunächst kein Neuland betrat, ist bekannt. Angesichts dessen, was wir über die beziehungsreiche Konstellation der Trias Schubert–Schumann–Brahms und ihren gemeinsamen Bezugspunkt Beethoven wissen, erstaunt es nicht, Brahms hier auf Pfaden wandeln zu sehen, die Schubert und Schumann vor ihm (unterschiedlich weit) gegangen waren.[xv] Die Beethoven-Reminiszenz in Schuberts Auf dem Strome (D 943)[xvi] ist eine der charakteristischen Markierungen am Anfang dieses Weges. Auch Schuberts auffällig zahlreiche Selbstanleihen dokumentieren ein erstes Stadium dieser Entwicklung.[xvii] Natürlich nimmt Schubert, wo er eigene Lieder im instrumentalen Gewand wiederverwendet, auch die Stimmungsebene des Textes sozusagen en passant wieder auf. Doch ein „wörtlicher Bezug“ im genaueren Sinn ist nicht das Ziel dieser Verwandlung. Schumann geht auf dem von Schubert vorgezeichneten Weg einen wichtigen Schritt weiter: Wenn Schumann eigene und fremde Vokalmusik zitiert, nützt er immer die ganze Botschaft des verschwiegenen Textes, und zwar immer in „hermetischer“ Weise. Ein besonders schönes Beispiel dieser intimen Kunst findet sich etwa im ersten Satz des Klaviertrios op. 80, wo die Melodie des zweiten Liedes aus dem Liederkreis op. 39 („Dein Bildnis wunderselig“) in einer schwärmerisch überhöhten Variante erscheint. Wie vertraut Brahms mit diesem Schumannschen Kunstgriff gewesen sein muß, zeigt das wohl berühmteste Doppelzitat der Musikgeschichte, nämlich das schon oben erwähnte Zitat aus Beethovens An die ferne Geliebte in der ersten Fassung des Klaviertrios op. 8. Schumann hatte die (durch die ihr bei Beethoven unterlegten Worte bedeutungschwere) Wendung gleichsam als Widmung an Clara in der Coda des ersten Satzes der Fantasie op. 17 zitiert (und sich in einer Reihe späterer Werke liebevoll dieses Zitates erinnert).[xviii] Die Wiederaufnahme dieses nun also schon mehrere Bedeutungs- und Erinnerungsebenen umspannenden Mottos als Kopfmotiv des Seitenthemas im Finalsatz des Klaviertrios, das Brahms in den Monaten nach der ersten Begegnung mit Robert und Clara Schumann komponierte, ist ein besonders berührender Beleg für die Möglichkeiten einer solchen über- und außermusikalische Bedeutungsebenen mit einbeziehenden Bezugnahme.

Bekanntlich fehlt dieser Bezug in der Endfassung des Werkes ebenso wie das nicht weniger suggestive Schubertzitat (Am Meer, D 957 Nr. 12) aus dem Adagio der Frühfassung. Da wenige Jahre vor der Umarbeitung des Werkes der erste Hinweis auf diese Zitate in der Brahmsliteratur nachweisbar ist[xix] hat man angenommen, daß die Eliminierung der durch diese „Demaskierung“ belasteten Bezüge einer der Hauptgründe für die Idee der Neufassung (die ja in Wahrheit eine Neukomposition wurde) gewesen sei.[xx] Eine solche Argumentation paßt sehr gut in das Bild des Meisters, der sich „nicht in die Lieder“ blicken lassen will. Allerdings läßt sich dann nicht leicht erklären, warum Brahms ausgerechnet im Jahr nach der öffentlichen „Entschlüsselung“ seiner auf Clara bezüglichen Beethoven-Schumann-Referenz eine gekürzte Fassung der verräterischen Wendung an prominenter Stelle im Finale der Vierten Symphonie (Takt 109-110) anbrachte.[xxi] Die Motive für das „Verschweigen“ jener zwei Zitate der Frühfassung des Klaviertrios, die durch ihre textlichen und biographischen Bezüge in besonderer Weise eine das persönliche Erleben des Komponisten berührende Deutung provozieren konnten und mußten, hat mit einiger Wahrscheinlichkeit auch persönliche Gründe gehabt; der wesentliche Anstoß für diese folgenschweren und weitreichenden Eingriffe in das Jugendwerk war aber wohl ein anderer.[xxii]

Brahms hatte in den Jahren seit der ersten Niederschrift des Werkes seinen musikalischen Umgang mit Zitaten in so bemerkenswerter und zielstrebiger Weise kontinuierlich verfeinert, daß ihm die Zitate der Frühfassung wohl „naiv“ erscheinen mußten. Wie wir aus den in sein Spätwerk reichlich eingeflossenen Zitaten wissen, lag ihm allerdings nichts ferner, als auf diese Dimension seiner Musik zu verzichten. Nur war ihm offensichtlich daran gelegen, diese Dimension zu einer rein musikalischen zu machen. Das erscheint im Zusammenhang mit dem Zitieren ursprünglich textgebundener Musik paradox: Ist nicht die dabei in Kauf genommene „Kontamination“ der Musik mit außermusikalischen Inhalten der wesentlichste Anreiz für diese Art des Zitates? Zweifellos; aber der Vorgang an sich weist doch auch in die entgegengesetzte Richtung: das vokale Zitat in instrumentaler Gestalt ist nämlich ganz unbestreitbar ein Schritt weg von der Wortsprache hin zur Tonsprache. Das verschwiegene Wort fließt in die Musik ein und bereichert sie von innen. In komplementärem Bezug auf die eingangs erwähnte Deutung des Zitates als Mittel zur „Überwindung der Sprachlosigkeit“ könnte man aus diesem Blickpunkt den Schritt von der wortgebundenen zur rein instrumentalen Musik als einen Akt der „Entsprachlichung“ sehen.[xxiii] Doch nicht Reduktion, sondern Sublimierung ist der Sinn dieser Übung. Das Traumziel ist, in der sehnsüchtigen Vision des Dichters:

„Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar
in uns erstehen? – Ist es dein Traum nicht,
einmal unsichtbar zu sein? – Erde! unsichtbar!
Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag?“[xxiv]

Indem der Mensch die Dinge benennt, verwandelt er sie. Wenn das Nennbare sich der Musik verbindet, entsteht eine neue, unsichtbare Welt. Das Wort, das sich schließlich in Musik gelöst hat, ist die erlösende Metamorphose dieser Welt des Säglichen. Solange aber die Worte in der Musik mitgehört werden, ist diese zweite Verwandlung noch nicht ganz vollzogen. Natürlich kennt Brahms, noch weit inniger als alle seine Hörer und Interpreten, den Zauber aller Zwischenstadien auf diesem Verwandlungswege: Seine lebenslange Liebe zum Lied beweist es. Aber entgegen der landläufigen Meinung, daß nämlich das Zitat zwangsläufig „über den Rahmen der reinen absoluten Musik hinausgeht“[xxv], scheint Brahms den Beweis antreten zu wollen, daß die Musik über die Kraft verfügt, das im Zitat gefangene Wort zu erlösen: Bei ihm nimmt die Musik – die eigene und die der Nächsten – die Sprache in sich auf, und das Wort geht restlos in Tönen auf.

Damit soll keineswegs geleugnet werden, daß die Worte, mit denen sich die Brahmsschen Motive zuerst verbunden haben, auch in der instrumentalen Verinnerlichung noch weiterleben. Das Auffinden solcher Bezüge wird daher erhellend bleiben. Doch, ganz als hätte Brahms unsere Neugier auch auf diesen Schleichpfaden schon erwartet, hinterläßt er uns auch auf diesem Weg recht unmißverständliche Botschaften. So zitiert er im Intermezzo h-moll op. 119 Nr. 1 den Beginn eines Liedes (op. 106 Nr. 4) mit dem Text:

„Wenn mein Herz beginnt zu klingen
Und den Tönen löst die Schwingen,
Schweben vor mir her und wieder

Bleiche Wonnen, unvergessen,
Und die Schatten von Cypressen.
Dunkel klingen meine Lieder!“[xxvi]

Der fast wie eine Warnung klingende Hinweis auf die „dunklen Lieder“ inmitten jener Werkgruppe (op. 116 bis op. 119), in der man eine letzte und unwiederholbare Manifestation des romantischen Topos der „Lieder ohne Worte“ sehen könnte, kommt wohl nicht von ungefähr. Aber trotz dieser sich auch noch in den allerletzten Werken manifestierenden Möglichkeit, den Wortsinn neben der musikalischen Metamorphose noch bestehen zu lassen, kann doch nichts darüber hinwegtäuschen, daß Brahms dieser Krücken schon lange nicht mehr bedarf. Für Brahms hat sich das „Problem“ Sprache und Musik gelöst.

Wenn Brahms, lange bevor sein körperlicher Verfall sich ankündigt, gezielt daran geht, sein Lebenswerk abzuschließen, muß das wohl im Wissen um ein erreichtes Ziel und eine gelöste Aufgabe geschehen. Vielleicht hat er selbst in der Antwort auf jene von Schubert und Schumann aufgeworfene Frage nach dem Schicksal des Wortes in der Musik diese Aufgabe gesehen?

Dieser wohl müßigen Spekulation steht unser klares Wissen gegenüber, daß Brahms in seiner Fähigkeit, die ganze äußere Welt in seine Musik aufgehen zu lassen, einen Endpunkt markiert. Die Selbstverständlichkeit, mit der sich hier unverwechselbar individuelle Chiffren und der vorgefundene Reichtum einer lange gewachsenen, beziehungsvollen Zeichensprache zu einem Idiom von seltener Klarheit verbinden, läßt die fast gleichzeitig entworfene programmatische Symbolsprache Wagners mit ihren lexikalisch starren Leitmotiven trotz aller unleugbaren Genialität rhetorisch und gesucht erscheinen. Daß das bei Brahms erzielte, verletzliche und auch hier immer bedrohte Gleichgewicht zwischen rührender Schlichtheit und erschütternder Vieldeutigkeit trotz seiner Ewigkeit verheißenden Monumentalität nur einen kurzen historischen Moment währen konnte, wird vielleicht nirgendwo so deutlich wie im Umgang der nachbrahmsischen Zeit mit dem Kunstmittel des Zitates: Was bei Brahms in Erfüllung eines von Schubert und Schumann gegebenen Versprechens unveräußerliches Zeichen einer geglückten Anverwandlung war, wird rasch wieder zu einem modischen und geistreichen Aufputz. Schon bei Richard Strauss ist das Zitat wieder nichts als Zutat – weltmännisch und selbstgefällig zubereitet und serviert. Nur noch etwa in den Selbstzitaten Mahlers findet sich ein träumerischer Reflex jenes Geistes, der das unangetretene Erbe von Brahms ist.[xxvii]

Mit der Kraft der Anverwandlung, die Wagner in seiner eingangs zitierten Attacke absichtsvoll als trickreiches Maskenspiel mißverstehen wollte, konnte Brahms seine Welt schlackenlos zu Musik machen. Die Bilder, Zeichen und Worte dieser Welt, die er zitiert, gehen in Musik ein – als wäre der zitierende Ruf eine Verheißung und Musik ein erlösender und befreiender Tod. (Die Spötter, die ihn „Das Grab ist meine Freude“ singen ließen, haben ihm vielleicht gar nicht so unrecht getan.) Ist es verwunderlich, daß ein Mensch, der so etwas vermag, Atheist ist?

Schon in seinen frühesten Liedern findet sich jene geheimnisvolle Kraft, die ihn vor allen Komponisten zum Vollzug dieser Verwandlung befähigt. Sie manifestiert sich immer wieder als „Eigen-Sinn“ der Musik, die in der Umsetzung der Textvorlage metrische und intonatorische Archetypen zur Wirkung bringt, anstatt sich deklamatorisch an den Text anzuschmiegen. Wer je den Versuch unternommen hat, etwa ein Lied von Hugo Wolf in einer Instrumentalfassung zu spielen, weiß, wie sehr der ganz aus der Sprache empfangene Geist dieser Musik sich gegen eine solche Beraubung sträubt. Daß das gleiche Experiment uns bei Brahms durchaus lebenskräftige und unentstellte Musik beschert, hat er uns schon in seinen Selbstzitaten bewiesen. Die oft kommentierten „Schwächen“ und „Mängel“ vieler von Brahms vertonter Texte, sind ganz sicher weder Ausdruck von Sorglosigkeit noch auch von schlechtem Geschmack – sie zeugen vor allem von der autonomen Kraft seiner Musik, die nur die Anregung durch ein Sprachbild sucht, das danach ruft, verwandelt zu werden.

 

Je weiter Brahms auf seinem Weg fortschreitet, umso vollendeter gelingt ihm diese Verwandlung. Zuletzt stehen wir vor einem Gewebe, das nichts als reinste Musik ist und doch die ganze Welt in sich trägt. Nicht zufällig hat Hull gerade in der Vierten Symphonie für seine beeindruckende und materialreiche Studie[xxviii] ein so fruchtbares Forschungsfeld gefunden. Die hier bewahrten Echos und Erinnerungen haben das wie immer auch berührend Anekdotische, das die Zitate der Jugendwerke noch preisgaben, weit hinter sich gelassen. Die zahlreichen „Clara“-Bezüge dieser Symphonie evozieren wohl nicht mehr das Bild der Geliebten, sondern sind selbst Musik gewordene Liebe. Die Zauberfäden dieses Gewebes bedürfen nicht mehr der Benennung, und sie umhüllen keinen Fremdkörper – sie sind eine in sich selbst schlüssige Botschaft.

 

[i]           siehe z.B. Reinhard Schulz, „Das Zitat als Ausweg: Zur Überwindung der Sprachlosigkeit in der Neuen Musik mit Hinweisen auf B. A. Zimmermanns Musique pour les soupers du roi Ubu.“ in Festschrift. Rudolf Bockholdt zum 60. Geburtstag. Pfaffenhofen 1990.

[ii]          Zofia Lissa, „Ästhetische Funktionen des musikalischen Zitates“, in Die Musikforschung XIX (1966), S. 165-167.

[iii]          Kenneth Ross Hull, Brahms the allusive: Extra-compositional reference in the instrumental music of Johannes Brahms. Princeton University 1989, S.60ff.

[iv]          Das Lied (auf ein Gedicht von Eichendorff) evoziert in Textur, Tonfall und Tonart (a-moll) Schumann, der für Brahmsens Eichendorff-Rezeption entscheidend war.

[v]           Richard Wagner, „Über das Dichten und Komponieren“ (1879). Zitiert nach: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Leipzig, s.a. (6. Auflage), Band X, S. 148.

[vi]          ibidem S. 150.

[vii]         Schumann arbeitete an seinen eigenen (zweihändigen)Variationen über dieses Thema vom 17. bis zum 27. Februar 1854.

[viii]         Clara Schumann – Johannes Brahms. Briefe aus den Jahren 1853 – 1896. Im Auftrage von Marie Schumann herausgegeben von Berthold Litzmann. Leipzig 1927, Bd. I, S. 411.

[ix]          Robert Schumann, Tagebücher. Band I, 1827 – 1838. Herausgegeben von Georg Eismann. Leipzig, 1971, S. 150f.

[x]           Neben Friedrich Wieck ist auch der Cellist Andreas Grabau zugegen, der 1848 in der Uraufführung von Schumanns Klaviertrio op.63 spielte und dem Schumann dann 1851 seine Fünf Stücke im Volkston op.102 widmen sollte. Die Anwesenheit des umtriebigen Verlegers Heinrich Albert Probst, der mit fintenreicher Beharrlichkeit Schuberts Klaviertrio Es-Dur op.100 (D 929) für seinen jungen Verlag hatte erwerben können und nun das eben im Druck erschienene Werk mit Vaterstolz in die Leipziger Musiksalons einführte, ist ein humoristischer Kontrapunkt („von hinten u. von vorne“) zur geistigen Gegenwart Schuberts – und läßt uns an die beißende Verspottung der Verleger denken, die Wagner ein halbes Jahrhundert später zum Kernpunkt seines oben zitierten Aufsatzes machte.

[xi]          Hingegen ist die Deutung, die Wolfgang Boetticher in der Einführung der von ihm offenbar unter ungünstigen Bedingungen und in größter Eile besorgten Erstveröffentlichung des Klavierquartetts (Wilhelmshaven 1979) einem Tagebucheintrag vom 30. Jänner 1830 (l. c., S.223) gibt – Boetticher spricht von einer „kammermusikalischen Krise“ –, offensichtlich eine für dieses Thema nicht atypische Fehl- und Überinterpretation: das „verunglükte Schub.[ertsche] Trio“, von dem Schumann da berichtet, ist ganz sicher kein Kompositionsversuch, sondern eine wohl wegen der zuvor genossenen Getränke („Rüdesheimer, […] Champagnerpunsch“) mißglückte Aufführung von Schuberts op.100.

[xii]         also Zitate, die nicht so sehr Ausdruck und Produkt eines Gewebes von Querbezügen, sondern eine reflexhafte Anverwandlung bestehender Modelle sind. Dabei ist es an diesem Punkt unserer Überlegungen ohne Belang, ob Brahms diese Modelle wahrscheinlich bewußt (wie z.B. bei dem, den rhythmischen und gestischen Duktus des Incipits von Beethovens op.106 aufnehmenden, Anfang der Klaviersonate op.1) oder eher unbewußt (etwa in der bis zum Überdruß nachbeschworenen Meistersinger-Reminiszenz zu Beginn der Violinsonate op.100) zitiert.

[xiii]         in Brahms als Liedkomponist. Studien zum Verhältnis von Text und Vertonung (Hrsg. Peter Jost). Stuttgart 1992, S. 39.

[xiv]         Zu diesem Fragenkomplex vgl. z. B. Sabine Schutte, „Nationalhymnen und ihre Verarbeitung. Zur Funktion musikalischer Zitate und Anklänge“ in Das Argument, 1976, S.208-217.

[xv]          Es mag wirklich sein, daß die von Schubert, Schumann und Brahms verwendeten Strategien der musikalischen Anspielung sich schon früher manifestiert haben, und unsere mangelnde Kenntnis dieser Erscheinungen ein Defizit der Forschung ist (wie Hull, op. cit., S.25, Anm. 2, meint). Doch spiegelt das Interesse der Musikwissenschaft an der Entwicklung des Phänomens gerade bei diesen Komponisten sicher auch den Umstand wider, daß es erst hier eine neue Qualität gewonnen hat.

[xvi]         Rufus Hallmark, „Schubert´s Auf dem Strom“ in Schubert Studies. Problems of Style and Chronology. Eva Badura-Skoda (Hg.), Cambridge 1982, S.25-46.

[xvii]        Diese Zitate sind weder „plakativ“ noch „hermetisch“; sie machen in der Regel eine im Lied gefundene Formulierung zum Ausgangspunkt einer variierenden Fortspinnung und Erweiterung: D 667/4 nach D 550 (Die Forelle), D 760/2 nach D 493 (Der Wanderer), D 802 nach D 795/18 (Trockene Blumen), D 810/2 nach D 531 (Der Tod und das Mädchen), D 934 nach D 741 (Sei mir gegrüßt).

[xviii]        Die Beharrlichkeit, mit der Schumann zu diesem Thema zurückkehrt, läßt das Friedrich Schlegelsche Motto der Fantasie in eigenem Licht erscheinen:

„Durch alle Töne tönet
Im bunten Erdentraum
Ein leiser Ton gezogen
Für den, der heinlich lauscht.“

[xix]         Hermann Kretzschmar in Grenzboten 1884 (in Buchform: Das deutsche Lied seit Schumann. Leipzig 1910)

[xx]          Hull, op. cit. S.238-239.

[xxi]         Hull, op. cit. S.210.

[xxii]        Die Beweggründe für die Neukomposition des ersten Satzes wären gesondert zu erörtern. In diesem Satz hatte Brahms schon 1871 für die Wiener Erstaufführung des Werkes wesentliche Kürzungen vorgenommen.

[xxiii]        Von der „Entsprachlichung musikalischer Phänomene“ spricht auch Siegfried Mauser in seinem Beitrag „Zum Sprachcharakter in der Neuen Musik“ (ÖMZ XLIX/6, 1994, S.364.) Daß der Vorgang bei Brahms seinem Wesen nach ganz anderer Natur ist als der hier konstatierte, muß wegen der andauernden Faszination von Brahms the progressive betont werden.

[xxiv]        Rainer Maria Rilke, Neunte Duineser Elegie.

[xxv]         Günther von Noé, Die Musik kommt mir äußerst bekannt vor. Wege und Abwege der Entlehnung. Wien, 1985, S.51.

[xxvi]        „Meine Lieder“ von Adolf Frey

[xxvii]     „Träumerisch“ durchaus im wörtlichen Sinn: Das Zitat ist, wenn es die Sphäre des Anekdotischen und Dekorativen verläßt, seinem Wesen nach dem Traum vergleichbar. Vgl. dazu Christopher Ballantine, „Charles Ives and the Meaning of Quotation in Music“ in The Musical Quartertly, LXV (April 1979), S.169f.

[xxviii]       Hull, op. cit. S. 95-231.