Pirchner – PWV 31

Werner Pirchner
* 13. Februar 1940, Hall in Tirol
10. August 2001, Innsbruck

Wem gehört der Mensch…? Trio für Violine, Violoncello und Klavier, PWV 31

 komponiert: Thaur bei Innsbruck, Sommer 1988

Uraufführung: Wien, Musikverein (Brahms-Saal), 11. Oktober 1988
Wiener Schubert-Trio:
Claus-Christian Schuster (*1952), Klavier
Boris Kuschnir (*1948), Violine
Martin Hornstein (1954-2009), Violoncello

Die Stimme Tirols, die in der österreichischen Musikgeschichte der Vergangenheit eigentlich immer nur eine kaum wahrnehmbare Nebenstimme war, ist mit dem Werk zweier so grundverschiedener Komponisten wie Erich Urbanner und Werner Pirchner im letzten Drittel des XX. Jahrhunderts unüberhörbar in den Vordergrund getreten. Während Urbanner nicht nur als Schaffender, sondern auch als hervorragender Pädagoge die Physiognomie der musikalischen Avantgarde Österreichs entscheidend mitprägte, hat Pirchner unserer Musik durch die unorthodoxe, aber durchaus organische  Verbindung der beiden nach wie vor meist hermetisch gegeneinander abgeschotteten Welten der Musik, die man salopp als E- und U-Musik zu bezeichnen gewohnt ist, neue Landschaften erschlossen.

Daß diese Grenzüberschreitung und Gebietserweiterung, die im Falle Pirchners nichts mit dem modischen „Cross-over“, aber sehr viel mit ursprünglichem Wesen und persönlicher Weltsicht zu tun hatte, nicht folgenlos blieb, zeigt die Tiroler Musikgeschichte der letzten beiden Jahrzehnte: So unterschiedlich die individuellen Profile und idiomatischen Vorlieben der Pirchner nachfolgenden Tiroler Komponistengenerationen auch sein mögen – repräsentativ und chronologisch seien hier die Namen Haimo Wisser (1952-1998), Wolfgang Mitterer (*1958), Martin Lichtfuss (*1959), Thomas Larcher (*1963), Andreas Schett (*1972), Markus Kraler (*1974) und Johannes Maria Staud (*1974) angeführt –, so widerspiegelt sich doch im Werk all dieser Komponisten etwas von Pirchners Neugier und Unkonventionalität. Die 1993 gegründete Musicbanda Franui, deren freche und nachdenkliche Nach- und Neuschöpfungen zwischen Schubert, Mahler und Volksmusik irisieren, zeigt auf originelle Weise, wohin der von Werner Pirchner gebahnte Weg auch führen kann.

Es ist kein Zufall, daß Österreichs mediale Visitenkarte auf dem Gebiete der Musik, das Radioprogramm Ö1 (nebenbei und wohl nicht von ungefähr der europäische Kultursender mit der größten Reichweite), ausgerechnet Werner Pirchners musikalische Unterschrift trägt: Kein anderer österreichischer Komponist der Gegenwart hat fernab von partikularistischem Provinzialismus der Eigenart seines Landes so originellen und unverwechselbaren Ausdruck gegeben. Seine musikalische Sprache hat, so eigenwillig sie auch ist und so sehr sie sich auch allen gängigen Etikettierungen verweigert, nichts mit jenen schrullig-verschrobenen Austriazismen zu tun, die allzuoft für das eigentliche Spezifikum österreichischen Selbstverständnisses gehalten werden. Werner Pirchner ist, wie sein ihn an Berühmtheit noch immer übertreffender prähistorischer Landsmann vom Similaun-Gletscher, ein Grenzgänger. Er hat für alle so unselig weit auseinanderklaffenden Idiome und Welten der Musik ein offenes und kritisches Ohr und hat sich, ohne jemals sein eigenes Ich zu verleugnen, vieles anverwandelt, was auf den ersten Blick unvereinbar erschien. Dennoch ist er durch die Stärke seiner Persönlichkeit der Gefahr des modisch-multikulturellen Ragouts der Postmoderne entgangen. Effekthascherei und Anbiederung, diese Hauptmotive der musikalischen Massenproduktion, liegen ihm ebenso fern wie das esoterische Kalkül des narzißtischen Elitarismus. Weil das alles so ist, verzeiht man ihm gerne die wenigen „oberflächlichen“ Schrullen, die er natürlich auch hat: wenn er in den Taktbezeichnungen konsequent die „Viertel“ nicht in arabischen Ziffern sondern mit weingefüllten Viertelgläsern notiert, so hat das zwar vielleicht ein wenig mit seinem Leben, aber kaum etwas mit der Aussage seiner Musik zu tun, und ist also nicht mehr als ein amüsanter „Gag“; daß er aber anstelle der rituell-schematischen Spielanweisungen seinen Interpreten schlicht „Suche!“, „Finde!“, „Freu´Dich!“, „Zerstöre!“ und  „Weine!“ zuruft ( – letzteres hat nur phonetisch mit dem Inhalt der obigen Viertelgläser zu tun), führt uns mitten in das Wesen seiner Musik, die mit spielerischer Phantasie immer an den ganzen Menschen appelliert.

„Wem gehört der Mensch…?“ enstand als Auftragswerk der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien für die Eröffnung der Konzertreihe des Wiener Schubert Trios (die seit dessen Auflösung 1993 vom Altenberg Trio fortgeführt wird). Über die „sechs bis fünf Sätze“ dieses außergewöhnlichen Werkes vermerkt der Komponist auf dem Autograph der Partitur:

„Ich könnte diesen sechs Sätzen Namen geben.
Wie zum Beispiel:

1. Der Mensch gehört dem Staat. Umgekehrt!
2. Zwentendorf – Wackersdorf. Ein Spaziergang nach Tschernobyl.
3. Die Pflicht zum Ungehorsam, oder
4. Die Regierung – unsere Angestellten
usf.
Die Sätze tragen Nummern.
Wie – vielleicht – wir.“

 Wer nach Lektüre dieser Zeilen erwartet, mit plakativ agitatorischer Polit-Musik konfrontiert zu werden, wird sehr bald merken, daß hier durchaus kein Propagandist, sondern einfach ein denkender Musiker am Werk ist: mit Ungestüm und Wehmut, Zorn und Nachdenklichkeit wird hier ein Bild des verletzlichen und doch unantastbaren Menschen, seiner Bedrohung und seiner Sehnsucht gezeichnet.

Der erste Satz, dessen jugendlicher Impetus von einem ostinat synkopierten Rhythmus unterstützt wird, arbeitet zwar mit wiederkehrenden Themen, ist aber, wie übrigens das ganze Werk, nicht als eine in sich abgerundete, durch Entwicklung und Reprise strukturierte Form konzipiert. Folgerichtig hat der Satz auch keinen „Schluß“, sondern führt uns in die offene Weite: eine unschuldig-naive Melodie der Streicher wird von der unerbittlichen Motorik einer rücksichtslosen Klavierfiguration überrollt und verliert sich, nach deren plötzlichem Verstummen, in ungewisse Fernen. („Technisch“ wird dieser Eindruck dadurch erzielt, daß der über die weitesten Teile des Satzes herrschenden Tonika C-Dur ein sich aus chromatischen Verschleierungen erst im letzten Augenblick zu erkennen gebendes A-Dur entgegengestellt wird.)

Der zweite Satz beschreitet gewissermaßen den entgegengesetzten Weg: aus der zeitlosen Stille eines inneren Dialoges (der um das A-Dur des vorangehenden Satzendes kreist) werden wir, zunächst nur durch belebende Melismen, dann aber durch sich allmählich konturierende motorische Figuration, in den unaufhaltsamen Zeitfluß zurückgetrieben. Das brüske Ende des Satzes stellt der träumerischen Freiheit seines Anfangs eine drohende und unabweisliche Forderung gegenüber.

Wurde in diesem eröffnenden Diptychon der Weg zwischen Rhythmus (Zeit) und Melodie (Raum) in beiden Richtungen durchmessen, so bieten sich diese beiden Dimensionen des musikalischen Diskurses in den folgenden zwei Sätzen in ihrer reinsten Form dar. Das unendliche improvisatorische Melos des dritten und der „unfaßbare“ , frenetische Rhythmus des vierten stellen sozusagen die kristallinen Archetypen dieser musikalischen Daseinsformen dar und nehmen, auf das „klassische“ Modell eines mehrsätzigen Zyklus rückbezogen, die traditionellen Stellen von Adagio und Scherzo ein.

Das abschließende Satzpaar, das als untrennbare Einheit konzipiert ist (daher auch der zunächst burlesk anmutende Zusatz von den „sechs bis fünf Sätzen“), faßt den vitalen Antagonismus dieser beiden Grunddimensionen zusammen und versöhnt ihn zugleich: der chassidisch anmutende Klagegesang der Geige im fünften Satz, der sich über das (aus dem kraftstrotzenden Rhythmus des vierten Satzes derivierte) ersterbende SOS-Klopfzeichen rettungslos Verschütteter erhebt, führt uns allmählich in lichtere und friedlichere Regionen und mündet – Zuruf des Komponisten an den Interpreten: „Du bist frei!“ – in den unendlich zarten rhythmischen Strom des Schlußsatzes. Formender Zugriff und träumender Fluß sind hier in eins aufgegangen: keine ferne Jenseitshoffnung, sondern alltägliches Geschenk der Musik an jedes offene Ohr.

© Claus-Christian Schuster