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Mozart – KV 442

Wolfgang Amadeus Mozart
* Salzburg, 27. Jänner 1756
† Wien, 5. Dezember 1791

Fragment eines Triosatzes in d-moll, KV 442/1 (Anhang I, a.)

Fragment eines Tempo di Menuetto G-Dur, KV 442/2 (Anhang I, b.)
komponiert: Wien, um 1785/86 (?)

Fragment eines Allegro in D-Dur, KV 442/3 (Anhang I, c.)
komponiert: Wien um 1788/89 (?)

Uraufführung: nicht dokumentiert

Erstausgabe: Johann André, Offenbach, 1797 (mit den Ergänzungen von Maximilian Stadler [1748-1833])

Die drei Triofragmente, die sich in Mozarts Nachlaß fanden und von Abbé Maximilian Stadler, handwerklich durchaus solide, aber auf vielleicht doch allzu biedere Weise, ergänzt und willkürlich zu einem „dreisätzigen Trio“ zusammengestellt wurden, haben nur aus diesem Grund eine gemeinsame Nummer im Köchelverzeichnis erhalten. Sie geben der Mozartforschung bis heute kaum lösbare Rätsel auf. Um mit den wenigen Gewißheiten zu beginnen: Ganz sicher sind diese drei Fragmente nicht Teile eines Werkes. Zweifellos entstammen sie alle drei der Wiener Zeit des Komponisten, wobei die – der Zuteilung der KV-Nummer 442 zugrundeliegende – Hypothese, sie seien alle etwa gleichzeitig um 1783 entstanden, heute kaum mehr ernsthaft vertreten wird. Aber auch die ausgereiften „kriminalistischen“ Methoden der modernen Musikologie konnten bezüglich der Datierung der drei bemerkenswerten Torsi keine Klarheit bringen. Und damit sind wir auch schon mitten im Feld der sich um diese Bruchstücke rankenden Mutmaßungen und Konflikte, die Interpreten und Publikum offenbar von einer Annäherung an diese mit allzu vielen Fragezeichen versehene Musik abhalten.

Die Komposition des Divertimentos KV 254 lag jedenfalls schon etliche Jahre zurück, als Mozart begann, sich für das von ihm bis dahin kaum beachtete Genre des Klaviertrios zu interessieren. Den beiden mit einiger Sicherheit auf Juli und November 1786 zu datierenden, überaus kurzen Fragmenten KV Anh. 52 (495a, G-Dur) und KV Anh. 51 (501a, B-Dur), die als verworfene bzw. liegengelassene Ansätze zu den vollendeten Trios KV 496 (G-Dur) und KV 502 (B-Dur) gedeutet werden können, waren wohl schon andere Versuche vorausgegangen. Wenn wir uns in Erinnerung rufen, wie eng die Beziehungen zwischen Mozart und Haydn gerade in dieser Zeit waren – „Amico carissimo“, ja sogar „Padre, Guida ed Amico“ nennt Mozart seinen Quartettkollegen in der Widmung (1. September 1785) der sechs zwischen 1783 und 1785 entstandenen Streichquartette „Opera X“ –, wird man gerne glauben, daß Mozart über die Entstehung und die hürdenreiche Drucklegung jener Haydnschen Klaviertrios (Hob. XV:6-8), die Artaria Ende April 1786 endlich herausbrachte, bestens unterrichtet war; und so unzweifelhaft diese (allzu selten zu hörenden) Trios einen Meilenstein in der Geschichte des Klaviertrios darstellen, so wenig werden diese Werke ihren Eindruck auf Mozart verfehlt haben. Man kann also, ohne sich allzu gewagter Spekulation schuldig zu machen, annehmen, Haydns Fortschritte auf diesem Feld haben Mozarts Interesse auf die Gattung Klaviertrio gelenkt. Sollte diese Mutmaßung richtig sein, so könnten die Fragmente in d-moll und G-Dur sehr wohl, wie schon von verschiedener Seite vorgeschlagen, recht bald nach den Haydnschen Schwesterwerken und somit in großer zeitlicher Nähe zu jenen beiden Mozartschen Klavierkonzerten entstanden sein, die in ihnen an einigen Stellen anzuklingen scheinen: nämlich jenem in d-moll (KV 466, Februar 1785), das dem Fragment in der selben Tonart nahesteht, und jenem in c-moll (KV 491, März 1786), dem das G-Dur-Fragment verwandt ist.

Anders liegen die Dinge im Falle des D-Dur-Allegros. Dieses von Stadler als „Schlußsatz“ eingerichtete Fragment ist fast mit Sicherheit als Kopfsatz eines Trios gedacht und gilt der Mozartforschung heute als das allerletzte von Mozart in Angriff genommene Klaviertrio. Aufgrund stilistischer und idiomatischer Merkmale hat man für dieses Allegro eine Entstehungszeit nicht vor der Jahreswende 1788/89 angenommen, ja einige Indizien – so etwa die Parallelen zum Kopfsatz des Streichquintetts in Es-Dur KV 614 (April 1791) – scheinen sogar einen noch späteren Termin zu suggerieren. In jedem Fall dokumentiert dieser Torso die Fortsetzung des schöpferischen Diskurses zwischen Mozart und Haydn, dessen 1788/89 entstandenen Klaviertrios op. 57 (Hob. XV:11-13) eine neue Entwicklungsstufe in der Gattungsgeschichte repräsentieren.

Der Entschluß, weder die Ergänzungen des braven Abbé Stadler noch auch einen der anderen Vervollständigungsversuche vorzulegen und uns schlicht auf den fragmentarischen Originaltext Mozarts zu beschränken, hat vor allem mit dem alles anderen als schulmäßigen Verlauf der drei Fragmente zu tun. Obwohl man nicht leugnen kann, daß die Haydnschen Trios in ihrem Ablauf noch um eine deutliche Spur unvorhersehbarer sind als die Werke Mozarts, so wird doch allen drei Fragmenten jede auch noch so gut gemeinte und solide fundierte „Fortsetzungsprognose“ wohl schwerlich gerecht werden können. Deshalb möge dieser Entschluß auch durchaus nicht als Kritik an Maximilian Stadler, dem profunden Mozartkenner und hochverdienten Ehrenmitglied der Gesellschaft der Musikfreunde, mißverstanden, sondern einfach als Geste der Ehrfurcht vor dem Genie Mozarts begriffen werden.

Das kürzeste der drei Fragmente ist jenes in d-moll. Die 55 niedergeschriebenen Takte führen uns nicht einmal an das Ende der Exposition eines Sonatensatzes – aber welcher Reichtum ist auf diesem engen Raum ausgebreitet! Das Hauptthema, dessen tragisch getöntes Piano-Parlando von resoluten Forteakkorden unterbrochen und gegliedert wird, ist durch die rhetorisch kunstvolle Erweiterung des Nachsatzes von eigenartiger Asymmetrie, die auf das sich zunächst viel „regelmäßiger“ und „gesanglicher“ gebende Seitenthema durchschlägt: Hier verirren wir uns in harmonisch so entfernte Regionen, daß die erste Schlußgruppe eine ganze Menge geschwätziger Geschäftigkeit aufwenden muß, uns in der Dur-Parallele heimisch werden zu lassen. Das Fragment bricht mitten in der ersten Kadenz dieses Passus ab – und man wird den Verdacht nicht ganz los, daß auch diese Kadenz auf trügschlüssige Abwege führen hätte können (ein Gedanke, den Abbé Stadler allerdings geflissentlich zu unterdrücken wußte).

Während dieses D-moll-Fragment gewiß als Beginn eines ersten Satzes anzusehen ist, wirft das Tempo di Menuetto – mit 151 Takten das textlich längste der drei Bruchstücke – schon hinsichtlich seiner Stellung im geplanten Werkganzen schwer zu beantwortende Fragen auf. Wir kennen aus der für die Entstehung des Entwurfs in Frage kommenden Zeit kein einziges Werk Mozarts, das ein so ausgedehntes Menuett beinhalten würde: An der Stelle, an der das Fragment abbricht, ist Mozart eben dabei, uns – nach einem für ein Menuett eher ungewöhnlichen „Durchführungs“-Abschnitt – ein viertes (!) Thema zu präsentieren. Die ganze Anlage des Bruchstücks läßt keinen Zweifel daran, daß der Satz außergewöhnlich weiträumig konzipiert gewesen sein muß. Die für das Menuett als Mittelsatz bei Mozart verbindliche Form mit einem deutlich abgesetzten Trio sollte hier offenbar durch eine völlig anders geartete Architektur ersetzt werden, für die es aber auch in den Mozartschen Finalsätzen – zumindest mit der Bezeichnung „Menuett“ – nicht einmal annäherungsweise eine Parallele gibt. Ob als Mittel- oder (wahrscheinlicher) als Finalsatz: ungewöhnlich bleibt der Torso in jedem Fall, und auch hier trägt die Stadlersche Fortführung in ihrer routinierten Artigkeit ganz sicher nicht dazu bei, uns den Plan des Komponisten zu vergegenwärtigen.

Mit dem Allegro in D-Dur, von dem Mozart 133 Takte fast vollständig notierte, befinden wir uns allem Anschein nach in der Zeit nach den drei zwischen Juni und Oktober 1788 entstandenen Klaviertrios. Da alle fünf in Wien vollendeten Klaviertrios jeweils relativ bald nach ihrer Beendigung in Einzelausgaben erschienen, kann der Kompositionsanlaß für dieses jüngste Trio nicht die Vervollständigung einer Werkserie für die gemeinsame Herausgabe (etwa in der damals handelsüblichen Sechszahl) gewesen sein, sondern bezeugt eher das unverminderte Interesse Mozarts an der Erforschung der sich im Klaviertrio eröffnenden Möglichkeiten – jener Möglichkeiten, die in den vier Jahren nach Mozarts Tod auf völlig unterschiedliche Weise, aber mit der gleichen Beharrlichkeit und Konsequenz von Haydn und Beethoven erkundet werden sollten. Es handelt sich bei diesem D-Dur-Fragment wohl kaum um einen Finalsatz, zu dem es die Dramaturgie der Stadlerschen Triokonstruktion notgedrungen macht, sondern aller Wahrscheinlichkeit um einen Kopfsatz, der den im XVIII. Jahrhundert so beliebten Topos der Jagdmusik auf ebenso originelle wie brillante Art abwandelt. Offenbar ist die Niederschrift bis zur Reprise gediehen, so daß in diesem Fall die Stadlersche Vervollständigung auf gesicherterem Grund zu stehen scheint als bei den beiden anderen Fragmenten. Wer aber die Kammermusik Mozarts gerade der letzten Schaffensjahre auf „Reprisen-Surprisen“ hin untersucht hat, wird zugeben müssen, daß auch hier der Versuch, das Werk Mozarts fortzuschreiben, bestenfalls naiv ist. Vielleicht bietet aber gerade unsere Zeit, die doch eine besondere Vorliebe für das vielzitierte work in progress entwickelt hat, und deren Interesse am Fragmentarischen und Unvollendeten manchmal sogar fetischistische Züge annimmt, ganz gute Voraussetzungen, um die bisher kaum je in ihrer Originalgestalt zu hörenden Blätter einfach als das zu nehmen, was sie sind: als geniale Torsi, die das Rätsel Mozart noch weiter vertiefen.

© Claus-Christian Schuster

Mozart – Divertimento KV 254

Wofgang Amadeus Mozart
* Salzburg, 27. Jänner 1756
† Wien, 5. Dezember 1791

Divertimento à 3 für Klavier, Violine, Violoncello und Klavier, B-Dur, KV 254

komponiert: Salzburg, August 1776

Uraufführung: nicht dokumentiert; erste dokumentierte Aufführung:
München, „Zum schwarzen Adler“ (Frauenplatz 4), 4. Oktober 1777
Wolfgang Amadeus Mozart, Cembalo
Charles Albert Dupreille (1728-1796), Violine
N.N., Violoncello

Erstausgabe: François-Joseph Heina, Paris, 1778

Das erste vollgültige Werk der Gattung Klavierkammermusik im Œuvre Mozarts ist eine Frucht jener glücklichen Zäsur in Mozarts bewegtem Leben, welche ihm zwischen den ausgedehnten und anstrengenden Reisen seiner Kindheit und dem großen Parisabenteuer, also zwischen September 1773 und September 1777 im Kreis seiner Familie in Salzburg vergönnt war. Diese Periode ist es vor allem, auf die sich die zahllosen Anekdoten vom vorlauten und ständig zu mitunter recht derben Spässen aufgelegten Wolferl beziehen, der etwa das hochanständige Tagebuch seiner Schwester mit allerlei verbalem Unflat bereicherte – aus dem Blickwinkel des XIX. Jahrhunderts ein irritierender Zug, der, ebenso wie die Unverblümtheit der Bäsle-Briefe, so gar nicht in das engelhaft verklärte Bild des Meisters passen wollte. Und eben dieser „Flegel“ Mozart ist es, der uns in den Ecksätzen (Allegro assai / Rondeaux. Tempo di Menuetto) des B-Dur-Divertimentos entgegentritt: niemals ist er um eine unerwartete Wendung, um ein den Zuhörer schalkhaft desorientierendes Detail verlegen, und doch fließt alles so natürlich, daß man hinterher jedesmal meint, es habe gar nicht anders kommen können. Der Mittelsatz, den diese beiden vitalen Kabinettstücke umrahmen (Adagio, Es-Dur), ist in denkbar großem Kontrast dazu ein herzinniges, im besten Wortsinn „empfindsames“ Stück, das auch als eine Reverenz an den verehrten Vorläufer Mozarts Carl Philipp Emanuel Bach verstanden werden könnte.

Mozart selbst scheint sich der Qualitäten seines Trio-Erstlings wohl bewußt gewesen zu sein, denn es gehört zu jenen ausgewählten Werken, die er während seines Parisaufenthaltes dort in Druck geben ließ.

Über die Uraufführung des Werkes ist nichts bekannt. Bei der frühesten nachweisbaren Aufführung in einer Privat-Akademie, die Mozart am „Hochfeyerlichen Nammens-tag seiner königlichen Hoheit des Erzherzogs Albrecht“ auf der Reise nach Paris in seinem Münchner Quartier veranstaltete, hatte er jedenfalls keinen Grund zur Freude. (Zum Troste heutiger Konzertbesucher: Diese „kleine accademie“ „fienge um halbe 4 Uhr an, und endigte sich um 8 uhr“!) Der Münchner Orchestergeiger und Tartini-Schüler Charles Albert Dupreille (1728-1796), den Mozart dazu eingeladen hatte, verärgerte den Meister schon im ersten Werk des Programms: „…mir war sehr leid, ich hörte ihn kaum; er war nicht im stande 4 täcte fort zu geigen ohne zu fehlen. Er fand keine applicatur. Mit die sospirs war er gar nicht gut freünd. Das beste war daß er sehr höflich gewesen…“ Beim anschließenden Divertimento wurde es dann noch bunter: „dann spiellte ich… daß Trio von mir. Das war gar schön accompagnirt. In Adagio habe ich 6 tact seine Rolle spiellen müssen.“

Über eine sehr viel befriedigendere Aufführung des Werkes hingegen konnte Leopold Mozart seinem Sohn einige Zeit später, am 26. Jänner 1778, nach Mannheim berichten, wohin dieser in der Zwischenzeit weitergereist war. Der Geiger Antonín Janič (1752?-1812) und der Cellist Josef Rejcha (1746-1795), die Wolfgang wenige Wochen zuvor in Hohenaltheim am Hofe des Fürsten Kraft Ernst von Öttingen-Wallerstein kennengelernt hatte, besuchten Vater Mozart in Salzburg – nicht zuletzt wohl, um ihm über das närrische Benehmen seines Sohnes zu berichten (der freilich postwendend beteuert, immer „ganz serios“ gewesen zu sein). Bei dieser Gelegenheit konnten sie einige von Mozarts Kompositionen hören, über die sie in großes Erstaunen gerieten und ausriefen: „….das heist recht gründlich Componiert! Sie accompagnierten dann der Nannerl dein Trio fürs Clavier ex B recht recht vortrefflich“.  Das ist das letzte Mal, daß wir zu Mozarts Lebzeiten von dem Werk hören – nicht ganz eineinhalb Jahre nach der Komposition war es für seinen Autor wohl schon „neiges d´antan“ geworden.

© Claus-Christian Schuster

Haydn – Trio Hob.XV:32

Joseph Haydn
*  31. März (1. April) 1732 Rohrau (Niederösterreich)
+ 31. Mai 1809 Wien

Trio G-Dur Hob.XV:32
komponiert: London, 1791/92 (?)
Widmung: (Marianne von Genzinger / Maria Anna Tost, geb. Jerlischek (?))
Uraufführung: nicht dokumentiert
Erstausgabe: Preston, London, 1794

Lange Zeit hindurch war dieses Werk nur in seiner (ursprünglichen?) Fassung als Sonate für Violine und Klavier bekannt. Manches spricht dafür, daß es sich wirklich um Haydns einziges Originalwerk dieses Genres handeln könnte – die auffällige Übereinstimmung des Beginns mit dem Thema des zweites Satzes aus W. A. Mozarts G-Dur-Sonate KV 301, die ja ebenfalls eine zweisätzige Violinsonate ist, könnte so besehen auch bewußtes Zitat sein. Mit ziemlicher Sicherheit kann man annehmen, daß diese „Sonate“ Haydns einzige Klavierkomposition aus der Zeit seines ersten Londoner Aufenthaltes (Jänner 1791 – Juni 1792) ist. Für ein „unkommerzielles“ Vergnügen, wie es das Schreiben eines so unspektakulären Stückes Kammermusik war, hatte der Meister damals allerdings wirklich wenig Zeit:

„…wenn Euer gnaden seheten, wie ich hier in London Seccirt werde in allen denen privat Musicken beyzuwohnen, wobey ich sehr viel zeit verliehre, und die menge deren arbeithen so man mir aufbürdet, würden Sie gnädige Frau mit mir und über mich das gröste Mitleyd haben, ich schriebe zeit lebens nie in Einen Jahr so viel als im gegenwärtig verflossenen, bin aber auch fast ganz Erschöpft, und mir wird es wohl thun nach meiner nach haußkunft ein wenig ausrasten zu können…“

(an Marianne von Genzinger, 17. Jänner 1792)

Daß Haydn schließlich doch noch Zeit fand, zwischen seine offiziellen Verpflichtungen die Komposition dieser Sonate einzuschieben, hat wahrscheinlich mit einem Vorfall zu tun, dessen Hintergründe nicht restlos geklärt sind: Anscheinend hatte Haydns Wiener Adlatus und Kopist Johann Elßler die Abwesenheit des Meisters dazu mißbraucht, eine Klaviersonate (wahrscheinlich Hob.XVI:49), die Haydn Frau von Genzinger und/oder deren Freundin Maria Anna („Nanette“) Jerlischek zugedacht hatte, zu eigenem Gewinn an den Wiener Verleger Artaria zu verkaufen, der das Werk natürlich ohne die vom Komponisten intendierte Widmung druckte. Haydn  ist empört:

„…ich Erschracke nicht wenig, als ich die unangenehme nachricht von der Sonate lesen muste, bey gott! Ich wolte lieber 25 Ducaten verlohren haben, als diesen diebstahl zu erfahren, und diss kann niemand anderer gethan haben, als mein eigener Copist. Allein, ich hofe zu Gott diesen verlust zu ersetzen…“

(an Marianne von Genzinger, falsch (?) datiert 2. März 1792)

Da unser Trio das einzige Klavierwerk dieser Zeit ist, liegt die Vermutung nahe, daß es sich hier um dieses versprochene „Ersatzstück“ handelt. Gedruckt wurde das Werk, und zwar wieder ohne Widmung, erst zwei Jahre später, während Haydns zweitem Londoner Aufenthalt. Die beiden Fassungen erschienen nahezu gleichzeitig, die Trioversion bei Haydns Londoner Verlag Preston und die Violinsonate in Wien bei Artaria. Es besteht zunächst kein triftiger Grund, an der Authentizität der Triofassung, d. h. konkret: der Cellostimme, zu zweifeln. Allerdings hat sich in einem in der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrten Manuskriptband eine offenbar nur wenige Jahre später entstandene Alternativfassung des Werkes erhalten, deren Cellostimme recht einschneidende Änderungen gegenüber der gedruckten Version aufweist. Das mag zunächst von rein philologischem Interesse sein – schließlich haben die Cellostimmen der Haydnschen Klaviertrios den Ruf, nichts weiter als willenlose Sklaven des Klavierbasses zu sein. Der Vergleich dieser beiden Fassungen zeigt uns aber, daß die zeitgenössische Aufführungspraxis auch in von den meisten heutigen Hörern und Interpreten als untergeordnet und nebensächlich empfundene Details eine ganze Menge Phantasie investieren konnte. Wo wir oft Gefahr laufen, uns vom Buchstaben des Textes beengt zu fühlen, bevor wir noch seinen Sinn erfaßt haben, verstand man damals offenbar, die vom Komponisten gewährten Freiräume spielerisch zu erfüllen. Freilich weisen beide Fassungen – die gedruckte Londoner und die handschriftliche aus Berlin – in einigen charakteristischen Details (Stimmführung und -lage, Tonlängen etc.) Abweichungen von den Cellostimmen der anderen Klaviertrios auf. Ob man daraus nun schließen mag, daß keine der beiden Stimmen authentisch sei (wie das die Herausgeber der Haydn-Gesamtausgabe tun), oder ob man darin einfach ein Indiz für die Priorität der Duofassung sehen will – in jedem Fall ist es anregend, sich durch solche Fragen zu genauerem Hören verleiten zu lassen: im Detail steckt nicht nur der Teufel, sondern auch das Genie…

Unter den fünfzehn zwischen 1792 und 1796 entstandenen Haydnschen Klaviertrios gibt es nur zwei zweisätzige Werke. Das zweite Werk, das 1794/95 komponierte Trio in es-moll (Hob.XV:31) ist eine Pasticcio-Komposition, bei der Haydn den in anderem Zusammenhang niedergeschriebenen Es-Dur-Satz einer Violinsonate („Jakobs Traum“) als Finale verwendete. Festzuhalten ist also, daß in beiden Fällen durch die Entstehungsgeschichte ein enger Konnex zum Genre der Violinsonate gegeben ist. Unser G-Dur-Trio repräsentiert mit seinen beiden in der gleichen Tonart stehenden Sätzen einen Sonatentyp, den etwa auch Mozart seinen Kurfürstin-Sonaten („op.II“, KV 301-306) zugrundegelegt hat.

Ganz nahe an die Welt dieser Sonaten führt uns der erste Satz unseres Trios. Der Anfang dieses Andantes scheint, wie schon oben erwähnt, mit dem Beginn des zweiten Satzes, Allegro, aus der ersten dieser Violinsonaten (e-moll, KV 301, Mannheim 1778) identisch zu sein. Doch gerade an einer solchen Konstellation läßt sich sehr gut studieren, wie sehr die Physiognomie eines Kunstwerkes eben nicht durch das Was, sondern durch das Wie bestimmt wird. Haydn und Mozart gehen von der selben thematischen Keimzelle aus: Themenkopf (die ersten acht Noten), Metrum (bei Mozart Dreiachtel-, bei Haydn Sechsachteltakt) und rhythmische Struktur (in beiden Fällen durchgehende Achtelbewegung) entsprechen einander aufs Haar. Mehr noch: beide Meister machen diese Keimzelle zum Ausgangspunkt einer bis in Einzelheiten übereinstimmenden formalen Großanlage – sogar das harmonische Grundgerüst der beiden Sätze ist nahezu ident. So weitgehend ist die äußere Verwandtschaft, daß man gar nicht mehr erstaunt ist, bei näherer Untersuchung herauszufinden, daß auch die Dimensionen völlig übereinstimmen: den 158 Sechsachteltakten Haydns entsprechen bei Mozart (unter Berücksichtigung der obligaten Wiederholungen) 325 Dreiachteltakte. (Daß diese Fülle von Analogien auch das Resultat bewußter Paraphrasierung sein könnte, wurde ja schon eingangs in Erwägung gezogen.) Aber wer nach all dem Gesagten meint, Aussage und Charakter der zwei Stücke müßten bei so vielen materiellen Ähnlichkeiten nahe verwandt sein, irrt. Was bei Mozart ein französisch angehauchter, schwerelos-tändelnder Tanz mit flüchtigen melancholischen Schatten ist, wird bei Haydn zu einem eigenwillig-bedächtigen Stück Musik mit dramatischen Akzenten. Wenn man aus jeder Verästelung des weitverzweigten Themas nach und nach frische Variationen hervorsprießen sieht, fühlt man sich mitten in den erdigen Duft des ersten Frühlingsmorgens versetzt. Diese beseelte Erdenschwere gewinnt Haydn aus den mit unzähligen Sforzati belasteten „leichten“ Taktteilen, ein Kunstgriff, den er wenige Jahre später in der „Schöpfung“ bei der  Schilderung des dritten Schöpfungstages („Nun beut die Flur das frische Grün dem Auge zur Ergötzung dar…“, Hob.XXI:2, Nr.9) in ganz analoger Weise (wenn auch viel sparsamer) einsetzen wird.

Das abschließende Allegro ist auf vielfältige und subtile Weise mit dem vorangehenden Satz verbunden und stellt so etwas wie die Ernte der im Andante gelegten Saat dar. Es ist ein breit ausgeführter Sonatensatz mit einer Fülle von thematischen Einfällen. Das Hauptthema ist dialogisierend angelegt; die „Satzzeichen“ (=Pausen) zwischen den einzelnen Repliken vermitteln den Eindruck eines allmählich in Gang kommenden Gesprächs. Und ganz so, als würde man einer geistreichen Konversation folgen, die nach und nach auf immer ungezwungenere und freiere Bahnen gerät, können wir im Folgenden miterleben, wie ein Gedanke nach dem anderen aufblitzt, zunächst nur als spielerische Möglichkeit, bis er schließlich seine endgültige, ausformulierte Gestalt annimmt. Eingebettet in den Seitensatz liegt ein kontrastierender, humoristisch kurzatmiger Einfall, dessen Italianità unüberhörbar ist – er würde sich in jeder Rossinischen Buffo-Arie hervorragend ausnehmen. (Man sollte nicht vergessen, daß Haydn – vor allem im schriftlichen Ausdruck – im Italienischen gewandter war als im Deutschen; die teilweise erhaltene Korrespondenz mit seiner langjährigen Geliebten, der Sängerin Luigia Polzelli (1760-1832), belegt das eindrucksvoll.) Gerade dieses „italienische“ Motiv wird dann zum eigentlichen Motor der Durchführung, die mit Ausnahme einer unscheinbaren Überleitungswendung aus dem Hauptthema und einer simplen Schlußfloskel sonst nichts von all dem thematischen Überfluß der Exposition  wissen will. Diese eigenwillige Art der Entwicklung, bei der die Durchführung weder die „eigentlichen“ Themen verwertet noch auch eigenständiges neues Material bringt, stellt an die Gestaltungskraft des Komponisten sehr hohe Anforderungen; niemand ist diesen schwierigen Weg so oft gegangen wie Haydn. Es bereitet ein besonderes Vergnügen, zu sehen, wie diese Durchführung sich aus den kümmerlichen Brosamen der Exposition eine Kraftnahrung zusammenbraut, die ihr schließlich ganz unerwartete dramatische Energie verleiht. Vielleicht ist es diese Unabhängigkeit der Durchführung, die Haydn dazu bewog, diesmal auf eine kunstreiche Rückführung zur Reprise zu verzichten und die Nahtstelle zwischen den beiden Formteilen unbekümmert offenzulegen. Strenge Kommentatoren, die hier einen Stilbruch wittern, neigen freilich eher dazu, diese auffällige „Rücksichtslosigkeit“ mit dem Zeitdruck zu entschuldigen, unter dem wohl auch dieser Satz entstanden sein muß. Wenn Haydn aber am Ende der Reprise die artistische Glanzleistung der Durchführung in einer sie en miniature paraphrasierenden Coda noch einmal nachspielt, meint man doch, ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen, und ist nur zu geneigt, die Zufriedenheit des Meisters dankbar zu teilen.

© Claus-Christian Schuster

Haydn – Trio Hob.XV:30

Joseph Haydn
* 31. März (1. April) 1732 Rohrau (Niederösterreich)
† 31. Mai 1809 Wien

Trio Es-Dur op. 79 (Hob.XV:30, Robbins Landon Nr. 42)

komponiert: Wien, beendet vor dem 9. November 1796

Uraufführung: nicht dokumentiert

Erstausgabe: Artaria, Wien, Oktober 1797

Schon am 16. April 1796 kündigt Haydn seinem Verleger Christoph Gottlob Breitkopf – „nur noch ein wenig geduld, Sie werden Geld und Music erhalten“ – die Übersendung dieses Werkes an, das er aber dann doch erst am 9. November 1796 abschicken kann. Die „versprochene Claviersonate“ ist Haydns letztes Klaviertrio und ein würdiger Abschluß für diese in der Geschichte unseres Genres einzigartige Werkreihe; sie ist darüber hinaus auch Haydns letzte Komposition für Klavier – alle weiteren Pläne sind über das Entwurfstadium nicht hinausgediehen. An Weite der Anlage und harmonischem Reichtum übertrifft dieses Trio fast alle seine Vorgänger, unter denen es allerdings einige gibt, die formal und idiomatisch noch weiter in bis dahin unerforschtes Neuland vordringen.

Der erste Satz (Allegro moderato) entfaltet einen sogar für Haydn ungewöhnlichen Ideenreichtum. Man hat in etlichen Details ebenso wie in der Gesamtanlage dieses prächtigen Satzes den Nachklang mozartischer Modelle zu hören gemeint; mir  scheint aber eher, daß Haydn hier in größter Abrundung und Vollendung die Quintessenz seiner ureigensten Errungenschaften und Erfahrungen vorlegt – und nur in dieser Brechung ist natürlich auch der Schatten Mozarts gegenwärtig. Die Exposition quillt förmlich über von thematischem Material, das auf subtilste Weise miteinander verknüpft wird. Eben diese Verknüpfung ist es, in der Haydn seine ganze Meisterschaft erweist. Ein unscheinbares Motiv, das im ersten Takt als Begleitung versteckt auftritt, dient in den verschiedensten Metamorphosen als Klammer zwischen den einzelnen Formteilen. Zwei voll entwickelte Hauptthemen werden vor uns ausgebreitet, bevor uns eine Variation des ersten gleichsam durch einen Nebeneingang zum Seitensatz führt. Bei dieser Gelegenheit tritt ein zweites, in der Tat ganz mozartisch anmutendes Klammermotiv (eine Achtelkette von „Sospiri“) auf, das sich zuvor an unscheinbarer Stelle im zweiten Hauptthema verborgen hatte und erst nun seine Wandlungsfähigkeit erweisen kann. Bemerkenswert und außergewöhnlich ist die Wahl der Molldominante als Tonart für das zweite Seitenthema – einer Tonart, die im Idiom der Wiener Klassik meist ein Vorbote außergewöhnlicher Komplikationen ist, zumal wenn sie an so prominenter Stelle auftritt. Hier kündigt sie aber nur die erstaunliche Erweiterung des harmonischen Horizontes an, die uns in der Durchführung erwartet. Dabei erweist sich wieder einmal, daß auch entfernteste Tonarten nicht willkürlich, einer Genielaune folgend, sondern nur in Erfüllung einer inneren organischen Notwendigkeit  aufgesucht werden. So erstaunt es uns nicht, gleich am Eingang der Durchführung nacheinander jene Trabantentonarten von Es-Dur zu finden, die uns schon aus anderem Zusammenhang vertraut sind (vgl. Hob.XV:29 und Hob.XV:31): Das erste Hauptthema erscheint in Ces(H)-Dur, während uns das zweite unmittelbar darauf in einer es-moll-Verkleidung entgegentritt. Von hier aus führt uns Haydn gleichsam auf einem Saumpfad über Des-Dur, es-moll, f-moll und c-moll zurück zur Tonika, von der die nach all diesen Abenteuern unerwartet regelmäßige Reprise ihren Ausgang nimmt.

Auch der zweite Satz (Andante con moto, C-Dur) verrät in jedem Takt den reifen Meister. Der für einen langsamen Satz eher ungebräuchliche Dreiachteltakt (von Haydn in keinem seiner anderen Trios in dieser Funktion verwendet) sorgt für einen leichten Fluß, der uns scheinbar schwerelos über das chromatisch blühende Terrain trägt. Der rastlosen Modulatorik der Ecksätze steht hier eine unerschütterliche Stabilität gegenüber – die Grundtonart C-Dur herrscht uneingeschränkt über den ganzen Satz. Allerdings ist diese Tonart selbst (Variante der Mollparallele) schon eine kleine Kostbarkeit: Haydn scheint eine besondere Vorliebe für diese nicht sehr naheliegende Verwandtschaft besessen zu haben – in seinen späten Trios kommt sie gleich viermal vor (Hob.XV:20, Hob XV:25, Hob.XV:27, Hob.XV:30) -, und Beethoven hat diese Neigung vielleicht von seinem Lehrmeister geerbt, wie sich etwa aus seinen aus eben dieser Zeit stammenden Werken op.1/Nr.2 (Klaviertrio G-Dur) und op.7 (Klaviersonate Es-Dur) schließen ließe. (Übrigens werden wir Beethoven noch ein gutes Jahrzehnt später diesem Erbe treu finden – und zwar wieder in einem in Es-Dur stehenden Schlüsselwerk der Klaviertrioliteratur: op.70/Nr.2). – Die Form des Satzes ist die „gewöhnliche“ dreiteilige Liedform – aber mit welchem Raffinement und welcher Freiheit gehandhabt! Durch dezent eingesetzte Asymmetrie versteht Haydn es, dem ganzen Satz einen Anschein improvisatorischer Freiheit zu geben. Vor allem aber gelingt ihm das seltene Kunststück, die Wiederholung des Hauptteils durch Angleichung der Textur und Vertauschen einzelner Abschnitte so innig mit dem Mittelteil zu verschmelzen, daß das (üblicherweise in langsamen Sätzen  durchaus erwünschte) statische Element dieser Bauart völlig aufgehoben erscheint.

Nicht einmal für die Überleitung zum attacca anschließenden Presto wird die Grundtonart des zweiten Satzes verlassen. Direkt von der Dominante G-Dur aus werden wir in den ungebändigten Übermut dieses entfesselten „Deutschen Tanzes“ entlassen. Hier erklärt sich auch rückblickend, warum dem Komponisten so sehr an der Aufrechterhaltung des Flusses und der Dynamisierung der Form im Andante gelegen war. Er hat nämlich auch für diesen Schlußsatz die dreiteilige Form gewählt, wobei der Tanzcharakter eine „genaue“, unverschleierte Reprise wünschenswert erscheinen ließ. Durch die so grundsätzlich andere Handhabung des gleichen Formschemas im vorhergehenden Satz vermeidet er auch den leisesten Anflug von Stereotypie. Im Mittelteil finden wir wieder unsere alten Bekannten es-moll und H-Dur in fulminanter Aktion – diesmal in kroatischer Bauerntracht. Eine geistreiche und brillante Coda setzt einen lapidaren Schlußpunkt unter Haydns letztes Klaviertrio.

Haydn – Trio Hob.XV:31

Joseph Haydn
*  31. März (1. April) 1732 Rohrau (Niederösterreich)
+ 31. Mai 1809 Wien

Trio es-moll Hob. XV:31

komponiert: London, 1794/95

Widmung: ursprünglich wohl für Theresa Jansen (später Bartolozzi, 1770-1843)
Erstdruck der Triofassung: Magdalena Kurzböck (1770-1845)
Duofassung (Klavier/Violine): Alexandrine Louise Eugénie Moreau, geb. Hulot d´Oseray (1781-1821)

Uraufführung: nicht dokumentiert

Erstausgabe: Johann Traeg, Wien, 1803

 In seinem ersten Londoner Notizbuch von 1791 erwähnt Haydn unter den hervorragenden Musikern der Stadt eine damals einundzwanzigjährige, aus Aachen stammende Pianistin: Theresa Jansen (1770-1843). Sie war Schülerin von Muzio Clementi und scheint Haydn mit ihrem Spiel so beeindruckt zu haben, daß er ihr den anspruchsvollsten Teil seines klavieristischen Spätwerkes widmete: zumindest zwei der letzten drei Klaviersonaten (C-Dur, Hob. XVI:50, und Es-Dur, Hob. XVI:52) und die letzte Dreiergruppe von Klaviertrios (Hob. XV:27-29). Wahrscheinlich sind alle fünf Werke während Haydns zweitem Londoner Aufenthalt (4. Februar 1794 bis 15. August 1795) entstanden. Die Klaviersonaten sind noch Miss Jansen gewidmet, sind also jedenfalls vor ihrer Hochzeit mit dem Kunsthändler Gaetano Bartolozzi (16. Mai 1795) geschrieben, bei der Haydn Trauzeuge war. Aus eben dieser Zeit stammt auch unser es-moll-Trio, dessen Entstehung Gegenstand einer uns von dem Maler und Haydn-Biographen Albert Christoph Dies überlieferten Anekdote ist:

„…(Haydn) stand in London in genauer Bekanntschaft mit einem deutschen Musikliebhaber, der sich auf der Geige eine an Virtuosität gränzende Fertigkeit erworben, aber die üble Gewohnheit hatte, sich immer in den höchsten Tönen, in der Nähe des Steges zu versteigen. Haydn nahm sich vor, einen Versuch zu machen, ob es nicht möglich wäre, dem Dilettanten seine Gewohnheit zu verleiden und ihm Gefühl für ein solides Spiel beyzubringen.

Der Dilettant besuchte oft eine Demoiselle J(ansen,) die mit großer Fertigkeit das Pianoforte spielte, wozu er gewöhnlich akkompagnirte. Haydn schrieb ganz in der Stille eine Sonate für das Pianoforte mit Begleitung einer Violine, betitelte die Sonate Jakobs Traum und ließ sie versiegelt, ohne Nahmensunterschrift durch sichere Hände, der Demoiselle J(ansen) überliefern, die auch nicht weilte, die dem Anschein nach leichte Sonate, in Gesellschaft des Dilettanten zu probiren. Was Haydn vorher gesehen hatte, traf richtig ein; der Dilettant blieb immer in den höchsten Tönen, wo die Passagen überhäuft waren, stecken, und sobald Demoiselle J(ansen) dem Gedanken auf die Spur kam, daß der unbekannte Verfasser die Himmelsleiter, die Jakob im Traum sah, habe vorstellen wollen, und sie dann bemerkte, wie der Dilettant auf dieser Leiter bald schwerfällig, unsicher, stolpernd, bald taumelnd, hüpfend auf und abstieg: so schien ihr die Sache so kurzweilig, daß sie das Lachen nicht verbergen konnte, während der Dilettant auf den unbekannten Compositor schimpfte, und dreist behauptete: derselbe wisse nicht für die Violine zu setzen.

Nach fünf oder sechs Monathen entdeckte es sich erst, daß die Sonate Haydn zum Author habe, der nun dafür von der Demoiselle J(ansen) ein Geschenk erhielt.“

(Albert Christoph Dies, Biographische Nachrichten von Joseph Haydn, Wien 1810)

Hält man sich die hier beschriebene Entstehungsgeschichte des Finalsatzes unseres Trios vor Augen, wird man wohl zunächst ein durch und durch humoristisches Werk zu finden erwarten. Doch der es-moll-Kopfsatz, den Haydn Anfang 1795 nachkomponierte, um aus „Jakobs Traum“ ein zweisätziges Trio zu machen, gehört zu seinen tiefsinnigsten und ernsthaftesten Schöpfungen. Als ob Haydn besorgt gewesen wäre, daß man die tiefere Bedeutung seines Werkes verkennen könnte, tilgte er im Autograph nicht nur den auf den Entstehungsanlaß bezüglichen Titel des Finales, sondern setzte auch die Worte „In Nomine Dei“ an den Anfang und „Laus Deo“ an das Ende des Werkes. Aber auch ohne diese Hinweise wird wohl keinem aufmerksamen Hörer verborgen bleiben, daß Haydn hier, freilich ohne alle gesuchte Grübelei und mit der ihm eigenen Natürlichkeit und Glaubenseinfalt, von letzten Dingen spricht.

Haydn war offenbar selbst von dem Werk, dem man seine Pasticcio-Abstammung nicht im mindesten ansah, so angetan, daß er der Versuchung nicht widerstehen mochte, es gleich mehrmals an den Mann, richtiger: an die Frau zu bringen. Da die allererste Adressatin, die inzwischen glücklich verheiratete ehemalige Mademoiselle Jansen, ohnehin mit einem ganzen Triobouquet und zwei prächtigen Klaviersonaten beschenkt worden war, konnte er den 1803 bei Johann Traeg in Wien verlegten Erstdruck des Werkes der gleichaltrigen und nicht weniger brillanten Pianistin Magdalena von Kurzböck widmen, die nach den Berichten der Zeitgenossen um 1800 als die beste Mozart-Interpretin Wiens galt – ihr Vater, der Universitätsbuchhändler und Schriftsteller Joseph Edler von Kurzböck (1736-1792) hatte 1774 Haydns Klaviersonaten Hob. XVI:21-26 verlegt; unser Trio ist übrigens nicht das einzige Haydn-Werk, das die beiden Jahrgangskolleginnen teilen mußten: Auch die Artaria-Ausgabe der letzten Klaviersonate Hob. XVI:52 trägt anstelle von Haydns ursprünglicher Widmung an Therese Jansen eine solche an Magdalena Kurzböck.

Als aber Fürst Nikolaus II. Esterhazy Haydn noch im selben Jahr 1803 um ein Werk für Madame Moreau, die junge Gattin des französischen Feldherren (und späteren Widersachers Napoleons) Jean-Victor Moreau (1763-1813), bat, schickte der Meister eine im Handumdrehen hergestellte Schmalspurfassung unseres Trios für Klavier und Violine nach Paris und gab sie  als eigens und neu komponiertes Werk aus – ein manchen Moralisten vielleicht irritierender Zug im Wesen Haydns, der übrigens nicht vereinzelt dasteht (man denke etwa an die sattsam bekannte Pleyel-Affaire). Die dritte und letzte Widmungsträgerin unseres vielgesichtigen Es-moll-Trios war eine Kreolin: als Tochter Guy Hulot d´Oserays, des Generalschatzmeisters von Mauritius, war sie in Port Louis geboren worden; in Paris gehörte sie dann bald zur Entourage von Joséphine Beauharnais-Bonaparte, die es ja auch von einer fernen Insel (Martinique) in die französische Hauptstadt verschlagen hatte. Joséphine war es denn auch gewesen, die im November 1800 die Eheschließung des ruhmreichen Generals Moreau mit ihrer 19jährigen Freundin arrangiert hatte. Das Paar hatte sich aus den Kriegswirren und politischen Intrigen auf Schloß Grosbois (Boissy-Saint-Léger) zurückgezogen; doch schon wenige Monate nachdem Haydn Madame Moreau die „gefälschte“ Sonate zugedacht hatte, ließ Napoleon den ihm gefährlich gewordenen Ehemann verhaften und verbannen – und so mußte sie zusammen mit ihrem Mann 1804 Frankreich verlassen. Nach mehrjährigem Exil in Morrisville (Pennsylvania) wird das Ehepaar erst 1813 zum Endkampf gegen Napoleon wieder nach Europa zurückkehren, wo Jean-Victor Moreau bei Dresden schwer verwundet wird und am 2. September 1813 stirbt. Louis XVIII. übersendet nach der endgültigen Niederschlagung Napoleons der Witwe Moreau den Marschallstab, und nun kann endlich auch die ihr von Haydn gewidmete „Dernière Sonate“ mit der Widmung an die „Maréchale Moreau“ erscheinen…

Wie seltsam auch immer die Begleitumstände der Komposition gewesen sein mögen: uns bleibt die Freude über ein höchst originelles und faszinierendes Klaviertrio. Mit der größten Selbstverständlichkeit gelingt es Haydn, die beiden Sätze in all ihrer Verschiedenheit in den Dienst eines einheitlichen und eindrucksvollen dramaturgischen Konzeptes zu stellen. Besonders bemerkenswert ist etwa, wie er eine sehr charakteristische und an zentraler Stelle plazierte, aber für den Verlauf des Es-Dur-Finales nicht weiter folgenreiche Modulation zum Ausgangspunkt der tonartlichen Anlage des nachkomponierten Kopfsatzes (Andante, es-moll) macht: Den dort berührten Tonarten es-moll und H-Dur (die übrigens auch in dem wohl in enger zeitlicher Nachbarschaft entstandenen Trio Hob. XV:29 zusammen mit Es-Dur eine Art Triumvirat bilden) werden hier eigenständige Bezirke von formtragender Bedeutung eingeräumt: Der formalen Anlage ABACA entspricht nämlich der Tonartenplan es-Es-es-H-es. Doch der Satz hat nicht nur mit einem extravaganten tonalen Bauplan aufzuwarten, er birgt – trotz der auf den ersten Blick „schulmäßigen“ Rondogestalt – auch formal einiges an Überraschungen. Die erste Episode (Es-Dur) beginnt mit einer Umkehrung des Rondothemas. Im Zusammenspiel mit dem liedartigen Bau beider Abschnitte (A und B) wird dadurch im Zuhörer die Erwartung geweckt, man stünde am Beginn einer Doppelvariationsreihe. Erst mit der unveränderten Wiederkehr des Ritornells erscheint diese Erwartung getäuscht. Doch nachdem uns Haydn mit der zweiten Episode (H-Dur), die auf neuem thematischen Material basiert, in der Sicherheit eines „normalen“ Rondoablaufs wiegt, greift das abschließende Ritornell doch noch den immanenten Variationsgedanken auf. Auch unter diesem Aspekt ist die Verwandtschaft unseres Satzes zum Kopfsatz von Hob. XV:29 auffällig.

Das folgende Allegro (Es-Dur), also der 1794, einige Monate vor dem Andante als „Jakobs Traum“ geschriebene Schlußsatz, ist zwar formal und harmonisch von weit schlichterem Zuschnitt, demonstriert aber Haydns unerschöpfliche Variationskunst in ebenso brillanter Weise. Die traditionelle dreiteilige Liedform, die dem Satz zugrunde liegt, ist durch assoziative und variierende Gestaltungselemente so aufgelockert, daß sie gleichsam nur noch wie von ferne durchzuschimmern scheint. Alle Aufmerksamkeit ist auf das geistvolle Passagenspiel gerichtet, in dem Klavier und Geige einander in immer neuen, mitunter halsbrecherischen Wendungen zu überbieten suchen. Genau in der Mitte des Mittelteils erklimmt dann die Geige mit gis3 die höchste Sprosse der Jakobsleiter und entrückt uns für einige kurze Augenblicke in jenes verklärte H-Dur, das ja, wie wir gesehen haben, auch schon die Zentralepisode des Andantes überstrahlt hat. In der Reprise überwuchern immer üppiger werdende Figurationen die ursprüngliche Gestalt des Hauptteils, bis eine fanfarenartige Coda das Werk festlich beschließt.

© Claus-Christian Schuster

Haydn – Quintett Hob. XIV:1

Joseph Haydn
*  31. März (1. April) 1732 Rohrau (Niederösterreich)
+ 31. Mai 1809 Wien

 Quintett Es-Dur für Klavier, zwei Hörner, Violine und Violoncello, Hob. XIV:1

 komponiert: Eisenstadt, um 1765 (oder Dolní Lukavice, Böhmen, um 1760?)
Uraufführung: nicht dokumentiert
Erstausgabe: Hummel, Amsterdam, 1767

 Bei der Datierung dieses Werkes sind wir auf Vermutungen angewiesen. Seit 1763 verfügte Haydn in der Esterházyschen Kapelle über nicht weniger als vier Hornisten, und er schöpfte die sich dadurch bietenden Möglichkeiten in der Instrumentation zweier Symphonien in D-Dur (Hob.I:13 und Hob.I:72) auch sofort aus. 1765 werden zwei der Hornisten durch jüngere und fähigere Kräfte ersetzt. Die in diesem Jahr komponierte D-Dur-Symphonie (Hob. I:31, bekannt unter den Beinamen „Mit dem Hornsignal“ oder „Auf dem Anstand“) zeigt eindeutig, daß dem Komponisten nun eine erstklassige Horngruppe zu Gebote stand. Kein Wunder also, daß sich Haydns Vorliebe für dieses Instrument ( – schon 1762 hatte er ein Hornkonzert geschrieben – ) noch steigerte: In den folgenden Jahren schrieb er nicht weniger als zehn Divertimenti, in denen zwei Hörner mit einem Baryton, dem Lieblingsinstrument des Fürsten Nikolaus, und anderen Streichinstrumenten konzertieren. Von all diesen Werken – einem Quartett, zwei Quintetten und sieben Oktetten – sind leider nur zwei vollständig überliefert; in den meisten Fällen ist die Baryton-Stimme verschollen, was einen böswilligen Kommentator auf den Gedanken bringen könne, der fürstliche Dilettant sei mit seinen Noten nicht sehr sorgsam umgegangen.

Die erste Erwähnung unseres Werkes findet sich in einem Verlagskatalog der Leipziger Firma Breitkopf aus dem Jahre 1766. Ein Jahr später gab der deutsch-niederländische Verleger Johann Julius Hummel das Werk in Amsterdam heraus. Sein Interesse gerade an diesem Stück könnte damit zu tun haben, daß er selbst, ebenso wie sein Bruder und Geschäftspartner, ausgebildeter Hornist war. Dennoch scheinen die Brüder gewußt zu haben, daß gute Hornisten nicht überall verfügbar waren, und so gute wie in der Esterházyschen Kapelle vielleicht überhaupt nirgendwo sonst; daher gaben sie ihrer – übrigens von Haydn nicht autorisierten – Ausgabe zwei alternative Bratschenstimmen bei. An der Zusammenstellung der Werke dieser Erstausgabe kann man auch ersehen, daß unser Stück schon von den Zeitgenossen als eine erweiterte Variante des Genres Klaviertrio betrachtet wurde: J. J. Hummel stellte unserem Quintett – immer unter der selben apokryphen Opusnummer IV – fünf Klaviertrios des Meisters voran (Hob. XV:37, Hob. XV:C1, Hob.XIV:6, Hob. XV:39 und Hob.XV:1), von denen freilich zwei recht willkürliche, anonyme Bearbeitungen Haydnscher Klaviersonaten sind.

Gerade diese Nähe zu den Klaviertrios ist es aber, die unsere sich nach all dem bisher Gesagten aufdrängende Vermutung, das Werk sei um 1765 in Eisenstadt komponiert worden, wieder ins Wanken bringt. Auf jeden Fall ist es merkwürdig, daß es sich hier um die einzige uns bekannte Komposition Haydns handelt, in der die Hörner der fürstlichen Kapelle mit dem Cembalo anstelle des vom Fürsten bevorzugten Baryton kombiniert werden. Könnte unser Quintett nicht vielleicht doch – wie H. C. Robbins Landon in seiner fundamentalen (und unerklärlicherweise noch immer nicht ins Deutsche übersetzten) Haydn-Biographie mutmaßt – an einem anderen Hof entstanden sein, nämlich dem des Grafen Morzin, in dessen Dienst Haydn ab 1759 stand? Dann nämlich bestünde für die Verwendung des Cembalos ein sehr nachvollziehbarer Grund: das Spiel der Gräfin Morzin, einer Musikliebhaberin, die den jungen Komponisten sehr beeindruckte, wie wir aus einer uns von Georg August von Griesinger in seinen 1810 erschienenen „Biographischen Notizen über Joseph Haydn“ überlieferten Anekdote wissen. Haydn selbst soll die Geschichte gerne und oft erzählt haben – also dürfen wir uns erlauben, sie hier einzufügen: Bei einer gemeinsamen Probe habe die Gräfin (wohl Wilhelmine, geborene Freiin von Reisky) sich über die Noten gebeugt, wobei ihr Busentuch auseinanderfiel. „Es war das erste Mal, daß mir solch ein Anblick ward; er verwirrte mich, mein Spiel stockte und die Finger blieben auf den Tasten ruhn. »Was ist das, Haydn!« rief die Gräfin. »Was treibt Er da?« – »Aber, gräfliche Gnaden!« versetzte ich. »Wer sollte auch hier nicht aus der Fassung kommen?«“

Als Indiz für eine Entstehung des Werkes bei Graf Morzin in Dolní Lukavice könnte man vielleicht auch gelten lassen, daß in der Bibliothek des südmährischen Kremsier (Kromeriz) eine sehr frühe Abschrift des Werkes aufgefunden wurde. Wann und für wen auch immer unser Quintett aber geschrieben wurde, es ist jedenfalls schon bester Haydn: die drei kurzen Sätze – Moderato, Menuet und  Allegro, alle in Es-Dur – quellen vor Ideen nur so über. Esprit und Noblesse kennzeichnen die Themen und ihre durchwegs originelle Verarbeitung, in der sich übrigens schon vieles von Haydns unerschöpflicher Variationskunst vorausahnen läßt. Einzig das harmonische und formale Gerüst mutet ein wenig bieder an, wenn man die späteren Errungenschaften des Komponisten auf diesen Gebieten im Ohr hat. Über allem aber steht die vitale Ursprünglichkeit, der diese Musik ihre nie verblassende Frische verdankt.

© Claus-Christian Schuster

Brahms – Quartett op.60

Johannes Brahms
* Hamburg, 7. Mai 1833
† Wien, 3. April 1897

Quartett für Klavier, Violine, Viola und Violoncello Nr.3, c-moll, op.60

komponiert: Düsseldorf, 1855/56; Wien 1869, Winter 1873/74; Rüschlikon, Sommer 1874; Ziegelhausen, Sommer 1875

Uraufführung: Wien, Musikverein, 18. November 1875
Johannes Brahms, Klavier
Josef Hellmesberger sen. (1828-1893), Violine
Sigismund Bachrich (1841-1913), Viola
Friedrich Hilpert (1841-1896), Violoncello

Erstausgabe: Simrock, Berlin, November 1875

Obwohl im Œuvre von Johannes Brahms langwierige und komplizierte Entstehungsgeschichten durchaus keine Seltenheit sind, stellt die sich über zwanzig Jahre hinziehende Gestaltwerdung des dritten Klavierquartetts einen Sonderfall dar. Die Urfassung des Werkes entstand nach dem übereinstimmenden Zeugnis der Jugendfreunde Albert Dietrich und Joseph Joachim schon im Jahre 1855, gleichzeitig mit den ersten  Entwürfen zu den ersten beiden Klavierquartetten (op. 25 und op. 26). Das Quartett stand damals in cis-moll. Offenbar wurden in dieser ersten Entstehungsphase nur die Ecksätze komponiert, denn am 18. Oktober 1856 vermerkt Clara Schumann in ihrem Tagebuch:

„Johannes hat seinen Concertsatz beendet – wir haben ihn mehrmals auf zwei Clavieren gespielt. Zu seinem Cis-moll-Quartett hat er ein wunderschönes Adagio componirt – tiefinnig.“

Bei dem „Concertsatz“ handelt es sich um die Urfassung des ersten Klavierkonzertes op. 15; diese Nachbarschaft ist im Hinblick auf den Bekenntnischarakter beider Werke nicht ohne Bedeutung.

Bemerkenswert ist aber auch, daß Clara von einem „Adagio“ spricht, während der auf uns gekommene langsame (und gewiß „tiefinnige“) Satz des Quartetts ja ein Andante ist: Es ist zwar durchaus möglich, daß es sich hier einfach um ein Versehen Claras handelt, aber wir dürfen Brahms ohne weiteres auch zutrauen, für dieses Werk mehr als nur einen tiefinnigen langsamen Satz geschrieben zu haben; und die immer wieder vorgebrachte Meinung, schon die Tonart (E-Dur) des uns bekannten Andante beweise seine Zugehörigkeit zur Cis-Moll-Periode der Werkentstehung, ist zwar naheliegend, aber alles andere als unwiderlegbar: Oder gibt es etwa irgendeinen Hinweis darauf, Beethoven habe sein C-moll-Klavierkonzert mit dem himmlischen E-Dur-Largo zunächst in cis-moll konzipiert?

Schon am 21. Oktober 1856 trifft Brahms von Düsseldorf kommend in Hamburg ein, wo er einen Monat später, am 22. November, zusammen mit Joseph Joachim an einem Gedenkkonzert für Robert Schumann mitwirkt. Bei dieser Gelegenheit probiert man auch das (inzwischen schon dreisätzige) Werk, aber offenbar in großer Eile und unter schlechten Bedingungen: Joachim nennt dieses Durchspiel schlicht „eine Schweinerei“, und Brahms verteidigt eine von seinem Freunde beanstandete Note mit den Worten:

„…vom eis… kann ich gar nicht lassen; wie mir´s im Ohr klingt, klang es am Montag freilich nicht, sie griffen je e und fis mit…“

(an Joachim, November 1856)

Joachim mußte also, um sich ein klareres Bild des neuen Werkes machen zu können, das Manuskript zum Studium mit nach Hannover nehmen, von wo aus er es einige Tage später (29. November) dem Komponisten mit einem schwärmerisch begeisterten, aber durchaus auch konstruktiv kritischen und recht detaillierten  Kommentar zurücksendet. Aus diesem Brief wissen wir, daß das Werk damals aus einem „Allegro“, einem „Andante“ und einem „konzisen Finale“ bestand.

Während die beiden Schwesterwerke aber zwischen 1859 und 1861 ihre endgültige Gestalt erhielten (und Brahms im Herbst 1862 ein fulminantes Entrée in Wien verschafften), verschwindet das dritte Quartett auf viele Jahre aus unserem Gesichtskreis. Erst 1869 scheint Brahms das Werk wieder vorgenommen zu haben; um diese Zeit dachte er auch schon an eine Veröffentlichung (als „op. 54“). Immerhin muß das Werk in dieser Phase schon eine Gestalt angenommen haben, die Brahms dazu ermutigte, es während seines Sommeraufenthaltes 1872 in Lichtenthal am Rande einer von Richard Pohl in dessen Baden-Badener Heim gegebenen Abendgesellschaft von den dort versammelten Musikern prima vista probieren zu lassen: So konnten an diesem Abend Hans von Bülow, Pablo de Sarasate, Johann Gustav Krasselt und Bernhard Coßmann – also ein ad hoc gebildetes, aber hochkarätiges Ensemble – einen ersten Eindruck von dem Quartett gewinnen. Doch erst im Winter 1873/74 raffte sich Brahms endlich dazu auf, die Arbeit einem Abschluß nahe zu bringen. Wahrscheinlich wurde es während des darauffolgenden Sommers, den Brahms in Rüschlikon am Züricher See verbrachte, noch einmal überarbeitet, denn erst am 23. Oktober 1874, einige Wochen nach seiner Rückkehr aus der Schweiz schickt Brahms das Manuskript an Theodor Billroth mit den lakonischen Zeilen:

„Das Quartett wird bloß als Kuriosum mitgeteilt! Etwa eine Illustration zum letzten Kapitel vom Mann im blauen Frack und gelber Weste.“

Dieser Hinweis auf den Goetheschen Werther ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert: erstens gibt Brahms uns so gut wie nie außermusikalische Schlüssel zum Verständnis seiner Werke in die Hand; die musikalischen Charakterisierungen aber, die in seiner Korrespondenz häufig die Ankündigung neuer Werke begleiten, erweisen sich in der Regel als humor- und absichtsvolle Irreführung. Hier jedoch haben wir es offensichtlich mit einer recht wörtlich zu nehmenden Assoziation zu tun, die noch dadurch an Gewicht erhält, daß Brahms über mehrere Jahre hinweg immer wieder zu diesem selben Bilde greift, wenn die Rede auf das Quartett kommt: Hermann Deiters zitiert Brahms mit den Worten: „Nun stellen Sie sich einen Menschen vor, der sich eben totschießen will, und dem nichts anderes mehr übrig bleibt.“ (1868). Seinem Verleger Fritz Simrock schreibt Brahms am 12. August 1875:

„Sie dürfen auf dem Titelblatt ein Bild anbringen, nämlich einen Kopf mit der Pistole davor. Nun können Sie sich einen Begriff von der Musik machen! Ich werde Ihnen zu dem Zweck meine Photographie schicken! Blauen Frack, gelbe Hose und Stulpstiefeln können Sie auch anwenden…“

Der burleske Unterton vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, wie bitter ernst diese Werthersche Parallele zu nehmen ist. Und es bedarf weder übertriebener Phantasie noch journalistischer Indiskretion, um sich mit Blick auf die Düsseldorfer Jahre 1855/56 einen Reim auf diesen Bezug machen zu können.

Letzte Korrekturen und Änderungen nahm Brahms dann im Sommer 1875 während seines Sommeraufenthaltes in Ziegelhausen bei Heidelberg vor. Clara, die ihn dort am 17. Juli auf der Durchreise in die Schweiz besuchte, konnte eine Probe des Quartetts mitanhören, die bei ihr einen zwiespältigen Eindruck hinterließ:

„Über das Quartett habe ich noch viel gedacht, die drei letzten Sätze sind mir tief in´s Gemüth gedrungen, aber, dürfte ich mir erlauben es zu sagen, ich finde den ersten nicht auf gleicher Höhe stehend, es fehlt mir darin der frische Zug…“

(an Brahms, 23. Juli 1875)

Für die nach wie vor ungeklärten Fragen der Entstehungsgeschichte interessant ist ein am selben Tage an Albert Dietrich gerichtetes Schreiben Claras:

„Wir waren auf der Herreise einen Tag in Heidelberg, wo ich wahre Seelenstärkung atmete in Brahms´ neuen Liedern, Duetten und einem wundervollen Quartett in c-moll für Klavier und Streichinstrumente. Die ersten zwei Sätze hatte er schon früher gemacht (der erste ist mir weniger lieb, aber das Scherzo!) , und nun die beiden letzten Sätze, die sind wieder ganz genial, eine Steigerung bis zum Schlusse, daß man ganz hingerissen wird. Merkwürdig ist mir dabei auch die Einheit der Stimmung, obgleich die Sätze zu so verschiedenen Zeiten entstanden sind.“

Hält man zu dieser Aussage einen Satz, den Brahms in seinem oben zitierten Brief an Fritz Simrock (12. August 1875) schrieb – „dies Quartett ist zur Hälfte alt, zur Hälfte neu – es taugt also der ganze Kerl nichts!“ -, so ergibt sich, daß die letzten beiden Sätze des Werkes in der uns bekannten Gestalt wirklich „neu“ waren, daß also das veröffentlichte E-Dur-Andante nicht mit jenem Adagio/Andante identisch sein kann, von dem in den Tagebüchern und Briefen des Jahres 1856 die Rede ist. Die uns durch Max Kalbeck überlieferte Erinnerung Joachims, daß nämlich das Scherzo des Quartetts eine Metamorphose des Scherzos der im Oktober 1853 komponierten F.A.E.-Sonate (WoO 2) sei, ließe eine frühe Entstehung dieses Satzes vermuten, was sich mit den zuletzt angeführten Bemerkungen sehr gut in Einklang bringen ließe. Daß aber das „konzise Finale“, von dem Joachim schreibt, nichts anderes als eben dieses Scherzo gewesen sein sollte, muß (vor allem bei näherer Betrachtung der Joachimschen Detailkritik des Satzes) als äußerst unwahrscheinlich gelten.  Man könnte also etwa folgende Satz- und Entstehungsfolge (ohne Berücksichtigung der unterschiedlichen Entwicklungsstadien) annehmen:

1855/56 1856/61 1869/75
Allegro (non troppo)
Scherzo. Allegro
Adagio Andante
Finale Finale. Allegro comodo

Zweiter und dritter Satz der cis-moll-Urfassung wären demnach gänzlich verworfen worden. Die traditionelle Begründung des „irrationalen“ E-Dur im Andante mit der Grundtonart dieser Frühfassung, wäre damit jedenfalls nicht in der zumeist vorgebrachten Weise stichhaltig.

Am Ende dieser dornenreichen Entstehungsgeschichte und am Beginn der ruhmreichen Wirkungsgeschichte dieses letzten und gewichtigsten der Brahmsschen Klavierquartette stand seine Uraufführung durch den Komponisten und die Mitglieder des Hellmesberger-Quartetts im „Kleinen Saal“, dem heutigen Brahms-Saal des Wiener Musikvereins, am 18. November 1875. Unter den Zuhörern waren Richard Wagner und Cosima, deren Urteil über Autor und Werk genau so ausfiel, wie es der ideengeschichtliche Hintergrund dieser Begegnung erwarten ließ:

„Abends Quartett-Soirée von Hellmesberger, ich lerne Herrn Brahms kennen, welcher darin ein Klavier-Quartett eigener Faktur spielt, ein rot und roh aussehender Mann, sein Opus sehr trocken und gespreizt.“

Andere Ohren und Herzen waren hellhöriger und offener; doch leichte Kost ist diese Bekenntnismusik auch heute noch nicht geworden.

Daß Clara im ersten Satz des Quartetts (Allegro non troppo) den „frischen Zug“ nicht fand, ist viel weniger verwunderlich, als daß sie ihn dort suchen konnte und wollte. Beklemmendere und düsterere Musik ist selten geschrieben worden. Der Kopfsatz des Herzogenbergschen Op. 75, das in Metrum und Motivik deutliche (und sicher nicht zufällige) Bezüge zu diesem Satze aufweist, mutet – trotz seines Epitaphcharakters – im Vergleich geradezu gelöst und heiter an. Auch das tröstlich-innige Es-Dur-Seitenthema mit seiner sehnsüchtig pulsierenden Fortsetzung vermag nicht, sich gegen diese Stimmung ausweglos brütender Verzweiflung durchzusetzen, und erscheint in der Reprise fahl und ermattet.

Ganz analog dazu sind im Scherzo (Allegro, c-moll) die schüchternen Einwürfe in den mitleidlos dahinpeitschenden Sturm viel zu schwach, um sich Gehör zu verschaffen – das Trio, das im Scherzo der F.A.E.-Sonate immerhin noch eine, wenn auch sturmumtoste Insel im Aufruhr der Elemente war, ist hier völlig im Ozean der Unrast untergegangen.

In die Zeit der Endausarbeitung des Quartetts fällt Brahms´ Bekanntschaft mit Heinrich von Herzogenberg (29. Jänner 1874 in Leipzig). Vielleicht findet sich das „schlanke Frauenbild in blauem Samt und goldenem Haar“, das er bei dieser Gelegenheit wiedersah, in dem „neuen“ Andante (E-Dur) wieder? Das (heute verschollene) Autograph des Satzes hat Brahms jedenfalls wirklich Elisabeth von Herzogenberg zugedacht:

„Zur Versöhnung wollte ich das Andante aus meinem dritten Klavierquartett beilegen, das sich noch vorfand, und das Ihnen ja gefiel. Ob ich es aus Eitelkeit oder aus Zärtlichkeit aufbewahrt habe, weiß ich nicht. Ich bringe es mit.“

(12. Dezember 1877)

Die wahrhaft überirdische Schönheit dieses Satzes ist schon für sich allein genommen berückend: vor dem Hintergrund der ihn umgebenden drei c-moll-Tragödien gewinnt diese Schönheit aber eine schmerzliche Intensität, die an die Grenzen des Menschen Erträglichen reicht.

Der Schlußsatz (Finale. Allegro comodo), von dem Max Kalbeck mit hochachtungsvollem Bedauern feststellt, hier trete die Individualität des Schöpfers doch allzusehr zurück, gehört zu den erschütterndsten und  eindrucksvollsten „Verweigerungen“ der Musikgeschichte. Man stelle sich nur den Bruchteil eines Augenblickes lang einen kräftigen, gesunden oder auch nur schlicht normalen Finalsatz an seiner Stelle vor, um zu begreifen, wie unausweichlich das Werk auf diesen „nachkomponierten“ Schluß hin angelegt ist. Beethoven, der (in einer völlig anderen dramaturgischen Situation und mit wesentlich anderen Mitteln) das Finale eines seiner Klaviertrios (c-moll, op. 1 Nr. 3) ähnlich „scheitern“ läßt, hatte noch die Wahl – ein artistisch freies und spielerisches Element ist jenem Satz über alle Kompromißlosigkeit hinweg noch anzuhören. Hier aber ist die Freiheit einem inneren Zwang geopfert, der dem oberflächlich ironischen Bezug zu Werther einen erschreckend weitreichenden Sinn gibt. Nur der gedankenlosen Dur-Moll-Routine des Musikführer-Unwesens ist es zuzuschreiben, daß irgend jemand im C-Dur- Schluß des Werkes den erlösenden Frieden einer wirklichen Befreiung zu spüren und zu hören vermeinte. Und wer glaubt, den „hymnischen“ Ton des dritten Themas mit dem Finale der (zeitlich benachbarten) ersten Symphonie in Zusammenhang bringen zu können, wofür sich durchaus gestische und tonartliche Argumente finden ließen, möge auch bedenken, daß nicht überall, wo Hymnen angestimmt werden, eine Auferstehung zu feiern ist.

© Claus-Christian Schuster

Brahms – Quartett op. 26

Johannes Brahms
* Hamburg, 7. Mai 1833
† Wien, 3. April 1897

Quartett für Pianoforte, Violine, Viola und Violoncello Nr. 2, A-Dur, op. 26

komponiert: Düsseldorf 1855 (?), Hamm bei Hamburg, Juli – September 1861

Uraufführung:Wien, Musikverein (Tuchlauben), 29. November 1862
Johannes Brahms, Klavier
Josef Hellmesberger sen. (1828-1893), Violine
Franz Dobyhal (1817-1894), Viola
Heinrich Röver (1827-1875), Violoncello

Widmung: Elisabeth Rösing, geb. Reiffenberg (1797-1871)

Erstausgabe: Simrock, Bonn, Juni 1863

 Wenn es auch keine eindeutigen Belege dafür gibt, so darf es doch als wahrscheinlich gelten, daß Brahms den Plan zu seinem A-Dur-Quartett etwa gleichzeitig mit den ersten Skizzen zu den beiden Schwesterwerken in g-moll (op. 25) und c-moll (op. 60) entworfen hat. In jenen allzu oft und meistens mit überbordender poetischer Freiheit beschworenen Düsseldorfer Tagen der Jahre 1854 bis 1856 liegt jedenfalls der Keim für die einzigartige Triade dieser Klavierquartette, die wohl den Scheitelpunkt der gesamten Gattungsgeschichte markiert.

Die überaus komplizierte Entstehungsgeschichte der drei Werke läßt sich in vielen Details nicht mehr rekonstruieren; fraglos bleibt aber, daß die drei Quartette eine gedankliche Einheit bilden: So grundverschieden Schicksal und Aussage dieser höchst individuellen Schöpfungen auch ist, so ergänzen sie einander doch zu einem Organismus von bezwingender Kohärenz. Neben den zwei Schwesterwerken, dem schon allein wegen des mitreißenden Rondo alla zingarese populären G-moll-Quartett und dem wertherisch-bekenntnishaften C-moll-Quartett, das in seiner unerhörten Radikalität und Konsequenz einen Sonderfall nicht nur innerhalb der Brahmsschen Kammermusik darstellt, hatte unser A-Dur-Quartett schon immer einen recht schweren Stand – ein Factum, das sich in Aufführungsstatistik und Rezeptionsgeschichte recht deutlich widerspiegelt.

Max Kalbeck mutmaßte, die Anfänge des Opus 26 reichten in die Tage des 33. Niederrheinischen Musikfestes (Düsseldorf, Mai 1855) zurück: „Jenes träumerische, süße Adagio, welches den zweiten Satz des Quartetts bildet, scheint einer ganz bestimmten rheinischen Mainacht seine Entstehung zu verdanken.“ Kalbecks ebenso rührende wie bilderreiche Deutung des Satzes hätte den Komponisten wohl peinlich berührt – womit aber nicht gesagt ist, daß sie am Kern der Sache völlig vorbeiginge.

Mit dem Joachim-Schüler Carl Bargheer (1831-1902), dem Bratschisten Schulze und Julius Schmidt („Schlummer“-Schmidt) am Cello probierte Brahms im Herbst 1857 in Detmold Klavierquartette aus – ob aber darunter schon Teile unseres A-Dur-Quartettes waren, läßt sich nicht sagen. Erst nachdem Brahms Detmold endgültig den Rücken gekehrt hatte und vorübergehend in seiner Heimatstadt seßhaft geworden war, sollte das Opus 26 aus dem Nebel der Vorgeschichte treten.

Am 13. Juli 1861 bezog Brahms in dem Hamburger Vorort Hamm (Schwarze Straße 5) eine Wohnung im Hause von Elisabeth Rösing, der Witwe eines Privatgelehrten; Frau Dr. Rösings Nichten, Betty und Marie Völckers, die im Nachbarhaus wohnten, waren Stützen des von Brahms zwischen Juni 1859 und Mai 1861 geleiteten Hamburger Frauenchores gewesen. Zusammen mit ihren Freundinnen Laura Garbe und Marie Reuter bildeten sie noch immer jenes Vokalensemble, das Brahms zärtlich „mein Mädchenquartett“ nannte, und dessen ständige Verfügbarkeit wohl nicht den geringsten Reiz des neuen Domizils ausmachte. Bis zu Brahms´ Abreise nach Wien (September 1862) sollte Hamm seine Künstlerresidenz bleiben. Der damals noch ganz ländliche Ort am linken Alsterufer war von der Stadt aus bequem zu erreichen, und Brahms konnte den ihn besuchenden Freunden sein verwaistes Zimmer im Elternhaus anbieten. Zu den Gästen, die Brahms hier schon in den ersten Monaten seines Aufenthaltes besuchen sollten, gehörten natürlich allen voran Clara Schumann aus Berlin und Joseph Joachim aus Hannover – aber bald gesellten sich auch neue Bekanntschaften hinzu, wie Hermann Levi, der aus Rotterdam anreiste (und dessen innige Beziehung zu Brahms einen so unglücklichen Verlauf nehmen sollte), oder der umtriebige Selmar Bagge aus Wien, den wir weiter unten als Kritiker der Uraufführung des Opus 26 wiederfinden werden.

Unter den allerersten Arbeiten, die Brahms in seinem neuen Quartier zu einem vorläufigen Abschluß brachte, müssen die ersten beiden Sätze von Opus 25 und der 3. Satz unseres A-Dur-Quartetts gewesen sein – denn Clara, die in einem Brief vom 15. Juli um eine Notensendung gebeten hatte, konnte sich schon zwei Wochen später über diese Stücke auslassen:

„Ein Urteil kann ich natürlich nicht fällen, nur über den ersten Eindruck zu Dir sprechen – wird Dir daran etwas liegen? Und doch habe ich oft erfahren, daß der erste Eindruck mir blieb. […] Das Scherzo in A dur kenne ich noch zu wenig, habe aber doch mit großem Interesse die schönen Verwebungen des Themas verfolgt – das schlingt sich immer so schön ineinander und entwickelt sich ebenso eines aus dem andern. Das 2. Motiv erinnerte mich sehr an eine Stelle in Roberts Streichquartett [op. 41 Nr. 3], nicht melodisch gerade, aber in der Anlage und Stimmung. Das Trio ist recht frisch, und eigentümlich im Rhythmus, die 6 und 7 Takte frappierten mich erst nicht angenehm, aber daran gewöhnt man sich. Ich glaube, mit diesem Stücke ist es wie mit manchem von Dir, das wird einem erst recht lieb, wenn man es genau kennt, erst oft gehört hat.“

(Clara Schumann an Johannes Brahms, [Bad] Kreuznach, 29. Juli 1861)

Gegen Ende des Sommers muß das Quartett schon sehr weit gediehen gewesen sein; Brahms´ Jugendfreund Albert Dietrich berichtet in seinen „Erinnerungen an Johannes Brahms“ über den September 1861:

„Nun machte ich die projectirte kleine Tour nach Hamburg, um Brahms zu besuchen, und wohnte bei dessen Eltern in der Stadt, Fuhlentwiete, einer engen alten Straße. Brahms selbst wohnte, um ruhiger arbeiten zu können, äußerst freundlich in dem Vorort Hamm bei einer Frau Dr. Rösing. Ihr widmete er eins seiner schönsten Werke, sein A-dur-Clavierquartett. Er spielte mir gegen seine Gewohnheit aus den Skizzen vor, und ich gewann dabei schon die Überzeugung, daß es ein hervorragend herrliches Werk werden würde.“

In den letzten Septembertagen kann Brahms die Quartett-Zwillinge an seinen „liebsten Jussuf“ Joachim nach Hannover schicken. Joachims erste Reaktion (Brief vom 2. Oktober 1861)  nimmt in mancher Hinsicht die seit anderthalb Jahrhunderten im wesentlichen gleichbleibende Rezeption der beiden Werke vorweg: Während er über das G-moll-Quartett sofort ins Schwärmen gerät, bedenkt er op. 26 gerade mit einem einzigen mageren Satz. Doch es wäre nicht Joachim gewesen, wenn sich seine Perspektive nach näherem Studium nicht grundlegend gewandelt hätte:

„Mit dem A-Dur-Quartett habe ich mich immer mehr befreundet. Der Ton innigster Zartheit wechselt schön mit frischer Lebenslust. Manche harmonische Besonderheit würde mir, hätte ich sie im raschen Fortgang gleich gehört, statt sie mit dem Aug´ zu betrachten, nicht störend gewesen sein! […] Herrlich ist das Adagio! Erst meint ich, der Gegensatz zum E dur wäre nicht glücklich; aber als ich´s (selbst auf meine stockende Weise) auf dem Klavier durchspielte, wurde ich doch ganz warm dabei, und wenn dann der goldene Faden des Themas in die unbestimmte Leidenschaft beruhigend hineinschimmert, so ist das gerade ganz wunderschön. Einige schwere Griffe werden leicht in den Streichinstrumenten zu ändern sein. Auch das Nachschlagen im Scherzo, das sich bei der Ausführung unpraktisch erweisen dürfte. Schon im ersten Satz des Schumannschen A-Dur-Quartetts, das doch viel langsamer geht, klingt es unruhig. Aber wie rund und aus dem Ganzen ist sonst das Scherzo geraten. Es gemahnt manchmal an letzten Beethoven, so konzentriert ist der Bau, und eigentümlich die Wendung der Melodie. Mache nur, daß ich bald alle Sachen höre.“

(Joseph Joachim an Johannes Brahms, Hannover, 15. Oktober 1861)

Daß der Schreiber hier treffsicher genau dieselbe Parallele zu Schumanns op. 41 Nr. 3 zieht wie Clara in ihrem Brief zwei Monate zuvor, ist ein schönes Beispiel für die Dichte und Tragfähigkeit des Beziehungsgeflechtes, auf dem die Wahlverwandtschaft zwischen diesen musikalischen Geistern beruhte.

Als Joachim dann Gelegenheit bekam, die beiden Werke nicht nur zu hören, sondern auch zu spielen, entwickelte er – wie viele tiefer veranlagte Musiker – eine ganz besondere Vorliebe für das A-Dur-Quartett; von einer mit Brahms unternommenen Konzertreise wird er einige Jahre später schreiben:

„Die beiden Quartette von ihm haben mich in Zürich und Aarau wieder recht erwärmt; namentlich hat das A-dur soviel Zartheit und Verklärung an vielen Stellen, daß man nur daran zu denken braucht, will man über einzelne Rücksichtslosigkeiten des Freundes hinwegkommen. Wer so schreibt, ist edel und gut.“

(Joseph Joachim an Clara Schumann, Basel, 4. November 1866)

Obwohl das Opus 25 schon am 16. November 1861 in Hamburg von Clara Schumann (mit John Böie, Friedrich Breyther und Louis Lee) aus der Taufe gehoben werden konnte, mußte es sich ebenso wie seine A-Dur-Schwester in den folgenden Monaten noch zahlreiche Änderungen und Verbesserungen gefallen lassen – von diesem langwierigen und vielschichtigen Prozeß geben die erhaltenen autographen Quellen einen ungefähren Begriff. Daß aber damit der Läuterungsweg der Werke noch lange nicht beendet war, erfährt man aus dem Schreiben, das die Übersendung der beiden vorläufig abgeschlossenen Partituren an den Musikkritiker Adolf Schubring (1817-1893) nach Dessau begleitete:

„Sehr geehrter Freund!

Ich weiß Sie nicht besser zu grüßen, was ich doch gerne wollte, als indem ich Ihnen einige Noten schicke.

Zwei Klavier-Quartette, denen ich die Stimmen beilege, obschon ich glaube, Sie werden dieselben lieber lesen als nach dem schlechten Manuskript spielen.

Ohne Egoismus geht´s freilich nicht, ich wünschte sehr zu hören, was die Quartette für Eindruck machen.

Und, bitte, grade heraus, denn es ist doch besser, wir zanken uns im Notfall einmal, als sagen kein rechtes Wort.

Leider muß ich auch wieder drängen um die Rücksendung, da ich die Quartette gern zur Herausgabe vornähme; durch Feuer und Wasser müssen sie noch gehörig, ehe sie eingehen können in dem Tempel Härtel oder sonst wo.

Ich denke, in acht Tagen haben Sie sie vollauf genossen, und spätestens lassen Sie Ihren rücksendenden, und wenn es Ihre Zeit und Lust erlaubt, besprechenden Brief mir eine Geburtstagsfreude sein.“

(Johannes Brahms an Adolf Schubring, Hamm, 27. April 1862)

Der erwartete „besprechende Brief“ blieb sicher nicht aus – leider ist er uns nicht erhalten geblieben. Daß aber Brahms, als er am 8. September 1862 von Hamburg nach Wien aufbrach, den Weg über Dessau nahm, wo er mehrere Tage bei Schubring zu Gast blieb, könnte durchaus mit den Quartetten zu tun haben. Jedenfalls bildeten die beiden Partituren einen gewichtigen Teil des musikalischen Gepäcks, mit dem der junge Komponist Mitte September in der Kaiserstadt eintraf. Wie dann Brahms Anfang Oktober bei Julius Epstein vorsprach und –spielte, wie der perplexe Pianist daraufhin einen Extrakt des jungen musikalischen Wiens – das Hellmesberger-Quartett, den Verleger Johann Peter Gotthard(-Pazdirek), Josef Gänsbacher und andere zu sich zu auf ein Brahms-Frühstück einlud, bei dem die beiden Quartette prima vista musiziert wurden, das alles ist schon längst unveräußerlicher Besitz der musikalischen Mythologie. Natürlich war es nicht das A-Dur-Quartett, sondern das Rondo alla zingarese, das den erhitzten Josef Hellmesberger die Geige aufs Bett werfen ließ, um den verblüfften Komponisten mit den Worten „Das ist der Erbe Beethovens!“ zu umarmen; aber schon der Zufall, daß diese legendäre Matinee in eben jenem Hause (Schulerstraße 8/Domgasse 5) stattfand, das als Mozarts „Figarohaus“ musikalisch vorbelastet war, tauchte diese Episode in symbolträchtiges Licht, dessen Zauber sich vielleicht auch die Protagonisten selbst nicht ganz zu entziehen vermochten. Jedenfalls konnte Leopold Alexander Zellner schon am 12. Oktober in seinen „Blättern für Theater, Musik und Kunst“ die bevorstehende Zusammenarbeit des Hellmesberger-Quartetts mit dem Neuankömmling ebenso avisieren wie die für den 7. Dezember anberaumte Erstaufführung der Brahmsschen Serenade op. 11 in den philharmonischen Gesellschaftskonzerten. Am 16. November 1862, auf den Tag genau ein Jahr nach der Hamburger Uraufführung des Werkes, trat Brahms dann mit dem G-Moll-Quartett wirklich das erste Mal vor das Wiener Publikum. Knapp zwei Wochen später (am 29. November) bescherte er diesem Publikum mit der Präsentation des A-Dur-Quartetts das allererste Mal auch das Erlebnis einer Brahms-Uraufführung – ein Ereignis, dessen zahlreiche Wiederholungen den Mythos der „Musikstadt Wien“ über die folgenden fünfunddreißig Jahre hinweg fortschreiben sollten.

Und wie quittierten die Wiener Kritiker diese historische Begebenheit?

Was immer man der Musikkritik im allgemeinen und jener in Wien im besonderen vorgeworfen haben mag – daß sie diesen Moment unbeachtet vorübergehen habe lassen, kann man beim schlechtesten Willen nicht behaupten. Und weil es sich um einen ganz besonderen Augenblick im Leben des Komponisten wie in der Musikgeschichte seiner zukünftigen Heimatstadt handelt, mögen abschließend die (hier erstmals gesammelten) Rezensionen in chronologischer Reihe folgen, etwa so, wie sie dem erwartungsvollen Debutanten wohl vor Augen gekommen sein dürften.

Der anonyme Rezensent des „Fremdenblattes“, der in seiner Eigenschaft als Korrespondent der einflußreichen Leipziger „Signale“ eine ihm selbst offenbar durchaus bewußte Bedeutung hatte, reagierte am raschesten:

Herr Johannes Brahms, über dessen G-moll-Piano-Quartett wir uns letzthin ausgesprochen, veranstaltete vorgestern Abends ein Konzert im Musikvereinssaale, und hatte Gelegenheit, sich dem Publikum nach beiden Richtungen seiner künstlerischen Thätigkeit, nach Seite seiner Kompositionsweise und seines Klavierspiels zu zeigen. Sein Talent wurde bei Gelegenheit des oben erwähnten G-moll-Quartettes bereits anerkannt; wir können aber nicht verhehlen, daß uns das vorgestern gehörte Piano-Quartett in A-dur in keiner Weise befriedigte, und wir danken es dem Componisten, daß er die „Variationen und Fuge über ein Thema von Händel“ darauf folgen ließ, wodurch es ihm gelungen, den ungünstigen Eindruck des Quartetts wieder zu verwischen. Das Allegro (1. Satz) enthält nichts als musikalische Phrasen; zu einem eigentlichen Thema kommt es nicht. Das Adagio bringt zwar ein solches, allein es ist nicht bedeutend genug, um zu fesseln, und verläuft nach Art modern italienischer Canzonen in nichtssagenden Wendungen. Einen ursprünglich frischen herzlichen Ton schlägt der Komponist hingegen im Scherzo an, welcher Satz, sowohl was Erfindung, als was die Durchführung (diese beruht großentheils auf einer geistreichen Imitation) betrifft, wirklich hervorgehoben zu werden verdient. Auf das schöne Scherzo aber folgt zum Abschlusse ein polkaartiges Allegro, welches, wie schon gesagt, einen unangenehmen Eindruck hinterließ. Ganz anders verhält es sich mit den genannten Variationen. Hier zeigte Brahms eine Fülle von Phantasie und Erfindung. Als Klavierspieler besitzt Herr Brahms eine durchgebildete, ausgeglichene, wenn auch nicht immense Technik. Äußerer Glanz, bestechende Eigenschaften einer außerordentlichen Bravour fehlen ihm, aber sein Spiel ist durchaus der Ausdruck echter Empfindung. Er spielte den Clavierpart im A dur-Quartette, in welchem er von den Herren Hellmesberger, Dobyhal und Röver auf das Vortrefflichste unterstützt wurde. […]

Fremdenblatt, XVI. Jahrgang, Nr. 329, Wien, 1.12.1862, unpag. S. 5,

stark gekürzt in: Signale für die musikalische Welt, Zwanzigster Jahrgang, Nr. 50, Leipzig, 4.12.1862, S. 689

Zwei Tage später ließ sich Eduard Hanslick (1825-1904), der sich später gerne als Brahms-Apologet der allerersten Stunde fühlte und gerierte, ein erstes Mal zum Thema Brahms vernehmen; über unsere Uraufführung schreibt er:

Nicht so günstig wirkte das Clavierquartett in A-dur. Die Schattenseiten von Brahms´ Schaffen treten darin sprechender hervor. Fürs erste sind die Themen nicht bedeutend. Brahms liebt es bei der Wahl seiner Themen, deren contrapunktische Verwendbarkeit weit über ihren selbständigen, inneren Gehalt zu schätzen. Die Themen des Quartetts klingen trocken und nüchtern. Es werden ihnen im Verlaufe allerdings eine Fülle geistvoller Beziehungen abgewonnen; allein eine Wirkung im Großen ist ohne bedeutende Themen unmöglich. Sodann vermissen wir den großen, einheitlichen Zug der Entwicklung. Wir betrachten ein fortwährendes Anknüpfen und Abreißen, ein Vorbereiten ohne Endziel, ein Verheißen ohne Erfüllung. In jedem Satz finden wir feine Episoden-Motive, aber keines, das im Stande wäre, ein ganzes Stück zu tragen. Mit dem Quartett nur vom einmaligen Hören bekannt, vermögen wir natürlich nur den ersten Eindruck, nicht das Werk selbst zu schildern. Ohne Zweifel würde ein genaueres Studium hier wie bei Brahms überhaupt viele Vorzüge des Werkes ans Licht bringen. Für die lebendige Wirkung wäre damit kaum viel gewonnen. Diese verlangt plastisches Hervortreten der Melodien, große, nach einem Ziel treibende Steigerung und Entwicklung. Das Clavierquartett und andere neuere Sachen von Brahms mahnen uns bedenklich an Schumann´s letzte Periode, gerade wie uns Brahms´ Anfänge an Schumann´s erste Periode erinnern. Nur zu der goldklaren, reifen Mittelzeit des echten Schumann bietet uns sein Lieblingsschüler kein Seitenstück. […]

Ed[uard] H[anslick] in: Die Presse, 15. Jahrgang, Nr. 331, Wien, 3.12.1862, 2. unpag. S.

Am Vortag von Brahms´ philharmonischem Début erschienen zwei weitere Kritiken der nun schon eine Woche zurückliegenden Première. Die erste stammt aus der Feder des Cellisten, Komponisten und Journalisten Selmar Bagge (1823-1896), den wir schon als Brahmspilger in Hamm getroffen haben; Bagge lebte von 1842 bis 1863 in Wien, wo er sich, nachdem er mehrere Jahre hindurch neben seinem eigenen Lehrer Simon Sechter als Kompositionslehrer am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde gewirkt hatte, in mehreren publizistischen Anläufen als Musikkritiker etablierte:

Das Concert, welches Herr Brahms heute vor acht Tagen gab, versammelte ein nicht ganz vollzähliges aber wie es schien, den besten Musikkreisen angehöriges Publikum, und die Stimmung desselben war eine immer animirtere. Man schien allmälig sich mit der neuen Erscheinung zu befreunden und sich an ihr zu erwärmen. Das Clavierquartett in A-dur, eine durchweg verständliche, fein und interessant gearbeitete, liebenswürdige Composition fand sehr vielen Beifall, namentlich die beiden mittleren Sätze. Ob es werthvoller sei, als das kürzlich gespielte in G-moll wollen wir vorläufig nicht entscheiden, – eingänglicher, ansprechender ist es unbedingt. Der Componist scheint auf jenes in G-moll mehr Werth zu legen, da er es zu seinem ersten Debut in Wien wählte, klüger hätte er gewiß gethan umgekehrt zu verfahren. Doch charakterisirt es gerade den wirklichen Künstler sich von solchen Erwägungen nicht leiten zu lassen, oder überhaupt über die äußere Wirksamkeit nicht nachzudenken. […]

Selmar Bagge in: Deutsche Musik-Zeitung, III. Jahrgang, Nr. 49, Wien, 6.12.1862, S. 389

Das erste öffentliche Auftreten Joh. Brahms´ in Wien war, nach dem Rufe, der ihm voranging, und nach den Proben, die man bereits von seinem Talente kennen gelernt hatte, für musikalische Kreise von besonderem Interesse. In dem ersten von ihm am 29. November d. J. im Musikvereinssaale veranstalteten Konzerte hat er sich durch den Vortrag der Hauptstimme eines Quartetts für Piano, Violin, Viola und Cello (A-dur) und einer Partie Variazionen nebst Fuge über ein Händel´sches Thema für das Klavier allein, (beide Werke von eigener Komposizion) in seiner Doppel-Eigenschaft als Tonsetzer und Pianist vorgestellt.

Bei dem Anhören des berührten Quartetts tritt uns gleich im Beginne des ersten Satzes eine Tonsprache entgegen, die uns in eine aus dem Alltäglichen emporhebende Stimmung versetzt und unsere Aufmerksamkeit fesselt; wir fühlen das, was man „Geist“ nennt, über uns ergehen. Dieser Geist trägt allerdings weniger das Gepräge einer schöpferischen Begeisterung als jenes einer feinen Bildung an sich und regt mehr an, als er hinreißt; allein da ihm auch eine beachtenswerthe musikalische Gestaltungskraft zur Seite steht, so verliert er sich nicht so leicht in unzusammenfaßbar verschwommene Elemente und ringt nicht auf Kosten jedes formellen Reizes nach einem Anscheine von Bedeutung, wie es bei Neuern so häufig der Fall ist.

Wohl folgt auch Brahms im Wesentlichen der modernen Richtung, und die pathologischen Eindrücke walten daher vor, so wie er auch von geistigen Ausschweifungen nicht frei ist; allein eben so unverkennbar ist es, daß es sich an klassischen Vorbildern, namentlich an Beethoven, herangebildet hat. Wenn er auch die Fäden nicht in ein vollkommen durchsichtiges, sich mit organischer Triebkraft entfaltendes Ganze zu verweben vermag, so verliert er doch nie ganz den leitenden Grundgedanken und weiß ihn wiederholt in anziehenden Wendungen und Umgestaltungen zum Vorschein zu bringen.

Nur dann, wenn die Stimmung in der Entwicklung der Seelenzustände sich zur Leidenschaft steigert, dann ist auch für ihn die Klippe da, an der schon so Viele gescheitert sind; denn nur den Höchstbegabten ist es gegeben, auch im Sturme der Leidenschaft stets dem Gesetze des Schönen treu zu bleiben, nie dem Ohre des Hörers mißfällig zu werden.

Im Adagio, welches die meiste Theilnahme erregte, ist die Behandlung der Streichinstrumente gegenüber der Hauptstimme eine äußerst wirksame. Der eindringenden Sprache dieser Stimme, die uns gewaltsame innere Bewegungen enthüllt, geht die schöne Harmonie der Streichinstrumente wie mit flehenden Trostesklängen versöhnend zur Seite, und nur Schade ist es, daß dann, als die Stimmung sich bis zum Gewitter steigert, dieser Höhepunkt der Schilderung mehr auf äußere Effekte angelegt ist und die versöhnenden Elemente selbst grollend mit hinabsinken in das Dunkel. Dem Scherzo, in welchem das der Weise des Komponisten eigenthümliche Pathos ebenfalls durchklingt, wäre um des Gegensatzes willen ein etwas frischerer Humor zu wünschen; doch ist es schön gearbeitet und hat einen gefälligen lebendigen Schritt, so wie auch der letzte Satz durch innere Lebendigkeit und manche überraschende Züge in der Behandlung sich auszeichnet. […]

H—l in: Recensionen und Mittheilungen über Theater, Musik und bildende Kunst, Achter Jahrgang, Nr. 49, Wien, 6.12.1862, S. 781-82

Die letzten beiden Rezensionen erschienen drei Tage nach der philharmonischen Erstaufführung der Serenade op. 11, und dementsprechend fassen sie die Eindrücke aller drei Brahms-Konzerte dieser Wochen zusammen. Der wie der Brahms-„Entdecker“ Julius Epstein aus Zagreb stammende Leopold Alexander Zellner (1823-1894), der 1868 Generalsekretär der Gesellschaft der Musikfreunde werden sollte, macht aus seiner Skepsis gegenüber dem Komponisten Brahms (der eine ausgeprägte Wertschätzung des Pianisten gegenüberstand) kein Hehl:

Begonnen wurde das Concert mit einer Serenade für Orchester in sechs Sätzen [op. 11]. Auch diese Composition, so wirksame Einzelheiten sie immer aufweist (sehr schön sind der erste und zweite Satz, dann der erste Menuett), wollte gleich den bisher gehörten dieses Tonsetzers dennoch keinen lebhaften Eindruck hervorbringen. Wir glauben dem wesentlichen Grunde dieser Erscheinung auf die Spur gekommen zu sein. Brahms componirt zu voll und zu breitspurig. Seine Sachen sind zu wenig durchsichtig und zu wenig concis in der Form. Man könnte ihm vielleicht mit mehr Recht, als es einst ein Potentat gegenüber Mozart that, bemerken: zu viel Noten, Freund. […]

Jene nur theilweise Befriedigung, welche die Serenade gewährte, empfing man auch von dem zweiten Quartette (A-dur) des Hrn. Brahms, welches er im Vereine mit Hrn. Hellmesberger und Genossen in seinem eigenen Concerte zur Aufführung brachte. Die beiden ersten Sätze sind frisch und – so weit dieß bei der Art dieses Componisten: jeden nur übrigen Fleck der Partitur möglichst dicht mit Notenköpfen zu besäen, sein kann – auch durchsichtig. Reminiscenzen dagegen, zumal an Schubert, lassen sich manche vernehmen.. Die beiden letzten Sätze sind – gemacht und die Längen werden empfindlich. Im Ganzen indessen war es nicht uninteressant, dieses Werk kennen zu lernen.

[Leopold Alexander Zellner in:] Blätter für Theater, Musik und Kunst, VIII. Jahrgang, Nr. 99, Wien, 10.12.1862, S. 398

Das letzt Wort soll aber der Wiener Schumann-Apostel Karl Debrois van Bruyck (1828-1902) haben. Der aus einer flämischen Adelsfamilie stammende, in Brünn geborene und in Wien aufgewachsene van Bruyck, der einige Jahre später (1867) mit einer sehr bemerkenswerten Analyse des Wohltemperierten Klaviers an die Öffentlichkeit trat, wurde wegen seines „trockenen“, „gelehrten“ Stils ebenso oft getadelt wie belächelt; es ist aber gar nicht schwer, hinter der predigerhaften Fassade dieser Besprechung eine wirklich empfindsame Seele und ein offenes Ohr auszumachen. Von den meisten der vorangegangenen „Beurteilungen“ unterscheidet sich dieser journalistische Segensspruch jedenfalls gar nicht unvorteilhaft:

Herr Johannes Brahms hat nun zu drei verschiedenen Malen Gelegenheit gehabt, sein Verhältnis zu dem Publikum Wiens zu prüfen und eine Erfahrung zu sammeln, welche für den Künstler immer einen gewissen Werth hat. Zwar darf für diesen weder Beifall noch Mißfall, weder Enthusiasmus noch Gleichgiltigkeit jemals absolute Bedeutung haben, aber es wird stets für ihn von einem gewissen Interesse sein, sich über sein Verhältniß zur Welt zu orientiren. Daß das Quartett [op. 25], mit welchem Herr Brahms sich zuerst in einer Hellmesberger´schen Soirée einführte, im Ganzen nur mäßigen Anklang fand, hat uns nicht sehr überrascht, dagegen sind wir verwundert, daß dasselbe Schicksal einem Orchesterwerk zu Theil ward, einer Art Suite (der Komponist nennt es Serenade [op. 11]), welche in dem zweiten Gesellschaftskonzert zur Aufführung kam und als eine durchaus schöne, interessante, geistvolle Arbeit wohl eine wärmere Aufnahme verdient hätte. Einigermaßen für solche Lauheit entschädigt wurde der junge Künstler in einem Konzert, welches er selbst veranstaltete. Zwar vermochte sich ein Pianoforte-Quartett [op. 26], welches er in diesem produzirte, auch nur getheilte Gunst zu erobern, dagegen errang er sich mit einer Serie von ihm über ein Händel´sches Thema komponirter Variationen [op. 24] einstimmigen, lebhaften Beifall; und mochte auch an diesem Beifall das eminente, brillante Spiel des Komponisten einigen Antheil haben (welches zu entfalten ihm sein Werk reichen Anlaß bot), so glauben wir doch die bessere Hälfte desselben auf Rechnung der Komposition selbst setzen zu dürfen. […]

Brahms ist unzweifelhaft – wir haben es vor Jahren schon ausgesprochen – eine genialische, d.h. aus sich selbst schöpfende Natur, eine wirklich künstlerische Individualität, und das will schon etwas heißen. Er besitzt Phantasie, Geist und Gemüth, für den Ausdruck des Pathetischen wie Humoristischen stehen ihm gleich treffende Töne zu Gebote, und seine neuesten Produktionen zeigen uns, zu einem wie hohen Grad von Feinheit er insbesondere auch sein formelles Talent auszubilden gelernt hat.Wir haben also für seine weitere Entwicklung keinen anderen Wunsch, als daß er nicht auf die Ausbildung gerade des letzteren die höchste Energie seines geistigen Vermögens wenden, sondern daß es ihm Gelingen möge, dieses mit einem immer höheren substanziellen Gehalt zu erfüllen und sich, möglichst fern vom Element des Phantastischen und Nebulosen, mit seinem Denken und Empfinden in die Region des rein Menschlichen zu versenken, da, was er sich so innerlich erarbeitet, uns gewiß auch voll und warm aus seinen Tönen entgegenklingen wird. Dem Adel seiner Natur könnte ein solcher Flug bei ausdauernder Kraft und Selbstverleugnung und einiger Gunst der Verhältnisse wohl gelingen. […]

[Karl Debrois] v[an] Br[uyck] in: Wiener Zeitung – Abendblatt, Nr. 283, Wien, 10.12.1862, p. 1130

Wenn man bei der Lektüre dieser gesammelten kritischen Ergüsse als Nachgeborener ein, je nach Temperament, belustigtes oder verärgertes Kopfschütteln kaum unterdrücken kann, so wird man doch auch neidlos anerkennen müssen, daß das Echo zumindest seinem Ausmaße nach in einem recht ausgewogenen Verhältnis zu seinem Anlaß stand; und von welcher medialen Äußerung der Gegenwart ließe sich das noch behaupten?

© Claus-Christian Schuster

Brahms – Quartett op. 25

Johannes Brahms
* Hamburg, 7. Mai 1833
† Wien, 3. April 1897

Quartett für Pianoforte, Violine, Viola und Violoncello Nr . 1, g-moll, op. 25

komponiert: Düsseldorf, 1855 (?), Detmold, 1859 (?), Hamm bei Hamburg, Juli – September 1861

Uraufführung: Hamburg, Kleiner Wörmerscher Konzertsaal, 16. November 1861
Clara Schumann (geb. Wieck, 1819-1896), Klavier
John Böie (1822-1900), Violine
Friedrich Breyther (1804-1864), Viola
Louis Lee (1819-1896), Violoncello

Widmung: Baron Reinhard von Dalwigk (1802-1880)

Erstausgabe: Simrock, Bonn, September 1863

Das erste Kammermusikwerk, mit dem der zehnjährige Brahms 1843 im Hamburger Lokal „Zum alten Raben“ vor die Öffentlichkeit trat, war wahrscheinlich Mozarts G-moll-Klavierquartett KV 478 von 1785, das mit Recht als das erste große Werk dieses ein wenig stiefmütterlich behandelten Genres gilt. Das von Florence May (1845-1923), der Schülerin und Biographin des Meisters, überlieferte Programm jenes öffentlichen Débuts läßt zwar immerhin die Möglichkeit offen, daß es sich auch um das Schwesterwerk (KV 493, Es-Dur) gehandelt haben könnte, aber da wir KV 478 auch noch später in Brahms´ Repertoire finden, in dem KV 493 ansonsten gar nicht aufscheint, darf unsere Mutmaßung als recht gut begründet gelten. Doch auch abseits dieser praktischen Argumentation böte das erste der drei Brahmsschen Klavierquartette einige Indizien, die jenes berühmte Mozartwerk zu einem plausiblen Ausgangspunkt seiner Erkundungen auf diesem Gebiet machen. Neben und über allen auf der Hand liegenden und tiefgreifenden Unterschieden zwischen dem Brahmsschen Opus 25 und Mozarts KV 478 ist es freilich die gemeinsame Grundtonart g-moll, die einen in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzenden Berührungspunkt zwischen den beiden Werken darstellt. Denn obwohl Brahms selbst der Frage der Tonartenwahl wie der damit verbundenen Diskussion der Tonartencharakteristik scheinbar gleichgültig (wenn nicht gar spöttisch) gegenüberstand, so bietet sein Schaffen doch immer wieder aussagekräftige Beispiele für historische Fernbezüge, in denen gerade dieser Aspekt eine große Rolle spielt – man denke etwa nur an seine (nach ungezählten verworfenen) erste erhaltene Sonate für Klavier und Violine (G-Dur, op. 78), die in ihrer ganzen tonalen Dramaturgie sehr deutlich an Beethovens letztes Werk in diesem Genre (op. 96) anknüpft.

Ist mit Mozart einer der wesentlichen Bezugspunkte des Opus 25 benannt, so lassen sich die beiden anderen, nämlich Haydn und Schumann, unschwer ausmachen: Die „Schöpfungs“-Anklänge im dritten Satz des Werkes hat schon Kalbeck ausfindig gemacht, und sie führen uns geradewegs in jene Zeit, die Brahms während Schumanns Todeskrankheit als Stütze des verwaisten Hauses in Düsseldorf verbrachte; am 27. Mai 1855 eröffnete Ferdinand Hiller das 33. Niederrheinische Musikfest mit seiner eigenen Frühlings-Symphonie und einer denkwürdigen Aufführung von Haydns „Schöpfung“, in der Jenny Lind das Festpublikum bezauberte. Die grandiosen Wirkungen, die Haydn oft mit einfachsten Mitteln erzielt, beeindruckten Brahms tief, und sicher nicht zufällig lesen wir in der Folge recht oft davon, daß Brahms sich mit dem Studium der Haydnschen Kammermusik vergnügt.

Zu den anderen Beschäftigungen dieser Zeit zählte aber auch die Anfertigung einer vierhändigen Version von Schumanns 1842 komponiertem Klavierquartett Es-Dur op. 47, die freilich erst 1887 im Druck erscheinen sollte, uns aber jedenfalls bestätigt, daß Brahms sich schon 1855 intensiv mit dem Genre auseinandersetzte.

Obwohl die dokumentarischen Belege nicht eindeutig sind, gibt es also guten Grund dafür, Joseph Joachims Behauptung, daß nämlich die Keime aller drei Brahmsschen Klavierquartette in eben dieses Jahr 1855 zurückreichen, Glauben zu schenken. Es ist – nach dem Zeugnis Joachims und Carl Bargheers – auch durchaus glaubwürdig, daß das Quartett, das Brahms im Sommer 1859 in Hamburg mit dem Cellisten Christian Reimers (1827-1889) bei der Schumann-Freundin Sophie Petersen (geb. Petit) ausprobierte und dann im November des selben Jahres in Detmold mit Joachim und Bargheer noch einmal vornahm, eine frühe Fassung unseres G-moll-Quartetts war.

Während das (vielleicht als erstes und zunächst noch in cis-moll konzipierte) Quartett op. 60 noch volle zwei Jahrzehnte warten mußte, bis es 1875 in seiner gründlich veränderten C-moll-Gestalt das Licht der Öffentlichkeit erblicken durfte, machte sich Brahms schon 1861 an die Endredaktion der beiden Schwesterwerke, die unter den Opusnummern 25 und 26 im Sommer 1863 erscheinen konnten. Wenn man die eigenhändigen Datierungen des Komponisten in seinem Werkverzeichnis zu Grunde legt, kehrt dabei die numerische Reihenfolge die Enstehungschronologie um, wie wir das ja auch etwa bei den Klavierkonzerten Beethovens und Chopins beobachten können, was sich aber in diesem Fall (und auch das ist typisch für Brahms´ Arbeitsweise) auch auf das Erscheinungsdatum auswirkt: Das schon seit Juli 1861 auf dem Schreibtisch des Komponisten liegende Opus 26 wurde im Juni 1863 gedruckt, das erst im Herbst 1861 wieder vorgenommene Opus 25 kam erst im Spätsommer 1863 auf den Markt. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Zwillingswerke freilich schon ihre Uraufführungen erlebt, und zwar doch in der von den Opusnummern suggerierten Ordnung: Unser Opus 25 am 16. November 1861 in Hamburg als die vorletzte der wichtigen Hamburger Brahms-Premieren (am 7. Dezember 1861 hob Clara Schumann dann dort noch die Händel-Variationen op. 24 aus der Taufe), das A-Dur-Quartett ein Jahr später (am 29. November 1862 im alten Musikverein auf den Tuchlauben) als erste Wiener Uraufführung eines Brahms-Werkes.

Wie präzise Brahms´ eigene Datierungen sind, läßt sich allerdings schwer überprüfen: Als Antwort auf einen besonders betrübten Brief Clara Schumanns (Kreuznach, 15. Juli 1861) schickt er ihr postwendend die ersten beiden Sätze des G-moll-Quartetts und das Scherzo des A-Dur-Quartetts, was eher darauf schließen ließe, daß die Ausarbeitung der beiden Werke nicht nacheinander, sondern doch parallel erfolgte.

Daß Brahms zunächst nur ein Paar seiner drei Klavierquartett-Kinder zur Welt brachte, folgt einer inneren Gesetzmäßigkeit, der wir schon in den Jahren davor im Diptychon der beiden Detmolder Orchesterserenaden (op. 11 für großes und op. 16 für kleines Orchester, 1857-1859) und dem wohl noch weiter zurückreichenden Variationenpaar op. 21 begegnet sind – und auch in der Folge wird er sich immer wieder einer ganz konkreten Aufgabe gleichzeitig von zwei verschiedenen Seiten nähern (so etwa in den Streichquartetten op. 51, den Klavier-Rhapsodien op. 79, den Orchester-Ouverturen op. 80/81 und den Klarinettensonaten op. 120).

Zwar zeigt der Komponist sich im (nach dem Klaviertrio op. 8 und dem Streichsextett op. 18) erst dritten seiner zur Veröffentlichung freigegebenen instrumentalen Kammermusikwerke womöglich noch selbstkritischer und ökonomischer als bisher – so mußte sich etwa das Andante noch in der allerletzten Überarbeitungsphase einen empfindlichen Strich (19 Takte zwischen Takt 206 und 207) gefallen lassen –, aber das Resultat ist von Kargheit und Lakonik denkbar weit entfernt. Ganz im Gegenteil: Wollte man einen Grundzug benennen, der das ganze Werk auszeichnet – es ist, wie die Aufführungsstatistiken überdeutlich belegen, bei weitem das populärste der drei –, so wäre das wohl gerade die verschwenderische Fülle seiner Ideen, die sich sowohl im Reichtum der thematischen Einfälle als auch in der Großzügigkeit und Weite der formalen Gestalt manifestiert.

Schon der erste Satz (Allegro, g-moll, C) bietet ein Paradebeispiel für diese Qualität: Jeder der konstituierenden Formteile ist mehrgliedrig ausgearbeitet, wobei sowohl dialektische Verknüpfungsmodelle (wie sie auch für das Mozartsche G-moll-Quartett typisch sind) als auch evolutiv-variierende eingesetzt werden. Besonders eindrucksvoll tritt diese Strategie im Seitensatz zutage: Ein erstes Seitensatzglied tritt in der spannungsgeladenen Molldominante (d-moll, T. 50) auf und bietet dem Hörer schon alles, was er von einem veritablen Seitenthema erwarten darf – thematische Prägnanz und Rundung, Kontrast zum Hauptthema in Gestalt, Textur und Metrik –, mündet aber schließlich (T. 79) in ein alternatives Thema auf der (eigentlich erwarteten) Durdominante (D-Dur), das seinem Vorgänger geschwisterlich eng verwandt, aber in ein viel helleres Licht getaucht ist. Dieser Seitenthemen-Doppelgänger landet mit der für Brahms auch später so typischen metrischen Verschränkung (T. 101) im Jubel eines dritten Themas, das zwar wie eine erste Schlußgruppe wirken mag, in Wahrheit aber ein letzter Formteil des Seitensatzes ist, mit dessen beiden vorhergehenden Abschnitten es auf mehreren Ebenen verknüpft ist. Erst hieran schließt Brahms eine ausgedehnte Coda (TT. 130-160), die auf das erste Hauptthema zurückgreift und diese überreiche Exposition – eine der entwickeltsten und reichhaltigsten im Œuvre des Meisters – abrundet.

Man mag in dieser Freigiebigkeit auch Elemente jugendlichen Überschwangs, ja sogar einer gewissen Verschwendungssucht sehen (wie das etliche der Kommentatoren in der Vergangenheit auch getan haben); nachdenklich stimmt freilich, daß Brahms sogar in dieser Exposition nicht nur niemals den narrativen Faden verliert, sondern offenbar auch – ob bewußt oder instinktiv, bleibe dahingestellt – immer den konstruktiven Überblick bewahrt. Wie sonst ließe sich erklären, daß von den 160 Takten dieser Exposition nicht mehr und nicht weniger als genau 80 (nämlich der Hauptsatz selbst und die Coda) vom Hauptthema und seinen Ableitungen regiert werden und eben so viele der Trias der „Seitenthemen“ gehören?

Aus der Überfülle des Bemerkenswerten und Eigenartigen, das die Physiognomie dieses Kopfsatzes prägt, seien nur noch zwei Détails hervorgehoben: Unisono-Themenköpfe sind ein Archetyp der musikalischen Formenwelt, aber sie sind fast ausnahmslos nicht nur diastematisch (vulgo „melodisch“), sondern eben auch rhythmisch „konturiert“, d. h.: sie werden auch durch eine charakteristische „rhythmische Signatur“, eine einprägsame Folge unterschiedlicher Notenwerte hervorgehoben. Mozarts G-moll-Quartett (das mit dem Intervallpaar fallende Quart/kleine Sekund eine generische Verwandtschaft mit dem das Brahmssche Incipit ab dem zweiten Takt beherrschenden Gestus aufweist) bietet ein Musterbeispiel für einen solchen „prägnanten“ Unisono-Beginn. Brahms erlaubt es sich, in der Eröffnung dieses Satzes auf dieses probate Kunstmittel völlig zu verzichten: Die ersten drei Takte seines Unisono-Incipits beschränken sich auf eine durchgehende Viertelbewegung, die erst im vierten Takt – und das auch nur durch eine motivische Verkürzung – von einer halben Note unterbrochen wird. Nicht genug damit, kommt auch der diesem Vordersatz folgende ausharmonisierte Nachsatz (T. 5-10) mit der ebenmäßigen und ununterbrochenen Fortsetzung dieser Viertelbewegung aus. Es dürfte nicht leicht sein, in Musikstücken, die nicht motorisch, sondern, wie das vorliegende, rhetorisch-expressiv geprägt sind, eine ähnlich radikale rhythmische Askese zu finden.

Die zweite (und wohl noch bemerkenswertere) Besonderheit betrifft den Umgang des Komponisten mit jenem Formteil (T. 101 ff.), den wir als den abschließenden dritten Teil des Seitensatzes aufgefaßt haben: Was uns Brahms in der Exposition als lebensmutigen, klangstrotzenden D-Dur-Siegesgesang vorgestellt hat, treffen wir in der Reprise (T. 304 ff., tranquillo) als schattenhaftes Nebelgebilde, als fragiles und fadenscheiniges G-moll-Gespinst wieder. (Vielleicht haben Pfitzner, Šostakovič und andere nachgeborenen Komponisten den erstaunlichen Mut zur kaltblütigen Ermordung ihrer eigenen Themen – wir erinnern uns an das Finale von Pfitzners Klaviertrio op. 8 oder den Kopfsatz von Šostakovičs Cellosonate op. 40 – aus Beispielen wie diesem bezogen.)

Angesichts solcher und vieler anderer Extravaganzen, deren Erörterung uns hier zu weit führen würde, ist es nicht verwunderlich, daß Brahms´ Zeitgenossen ihre liebe Mühe mit diesem Satz hatten. So schreibt etwa Joseph Joachim dem Komponisten unumwunden:

„Am wenigsten lieb bleibt mir der erste Satz des G moll-Quartetts. Er scheint mir in der Erfindung unverhältnismäßig weit den kommenden Sätzen nachzustehen, und manche Unregelmäßigkeit in dem rhythmischen Bau kommt mir nicht durch Charakteristik geboten vor, die sie allein rechtfertigen könnte.“

(Hannover, 15. Oktober 1861)

Jedenfalls ist es eben die „Unregelmäßigkeit“, sprich: Individualität der Brahmsschen Lösungen, die den Komponisten hier dazu bewegt, ein erstes Mal auf die traditionelle Wiederholung der Exposition zu verzichten – denn wie unwiederholbar die musikalischen Ereignisse geworden sind, haben wir ja schon am Schicksal des Seitensatzes erlebt.

Obwohl dieser Eröffnungssatz sicher zu den gewichtigsten und eigenwilligsten im Œuvre des Meisters gehört, ist es doch der zweite Satz (Intermezzo. Allegro ma non troppo, c-moll – Animato, As-Dur, 9/8), der am weitesten in jenes Terrain vordringt, das später die eigentlichste Domaine des Komponisten werden sollte. Clara schwärmt denn auch schon nach der allerersten Begegnung mit der Partitur, in welcher der Satz damals noch „Scherzo“ hieß:

„Vom Scherzo in C moll, meine ich, müßtest Du schon beim Aufschreiben, wenn Du an mich gedacht, mein Entzücken gewußt haben. Scherzo würde ich es nun freilich nicht nennen, kann es mir überhaupt nur Allegretto denken, aber das ist ein Stück so recht eigens für mich. […] … das Stück möchte ich mir immer und immer wieder spielen können! Und wie schön muß das klingen, immer die Orgelpunkte! Du lächelst gewiß über mich und meinst vielleicht, ich kenne nicht den höheren musikalischen Wert des ersten Satzes, gewiß weiß ich ihn, aber in dem C-moll-Stück, da kann ich so schön sanft träumen, mir ist, als ob die Seele sich wiegte auf Tönen.“

(Kreuznach, 29. Juli 1861)

Der langsame Satz (Andante con moto, Es-Dur, 3/4), in dem uns jener schon im ersten Satz vorkommende „altmodische“ Doppelschlag wiederbegegnet, den die gestrengen Kritiker auch im Streichsextett op. 18, wo er fast allgegenwärtig zu sein scheint, nur mit angestrengtem Stirnrunzeln aufnehmen und gar nicht gelten lassen wollen, zieht ganz unbeeindruckt von aller beckmesserischen Spiegelfechterei seine majestätische Bahn, die vom choralhaften Es-Dur des Beginns zum Festglanz des C-Dur-Mittelteils mit seinen Händel- und Haydn-Zitaten und wieder zurück führt. Dem feingewebten, durchsichtigen Klang des Intermezzos antwortet hier ein reicher, volltönender Wohllaut.

Das wohl in erster Linie für die Popularität des Quartetts verantwortliche Finale (Rondo alla zingarese, Presto, g-moll, 2/4) schöpft gleichermaßen aus den „magyarischen“ Erfahrungen des jungen Brahms in den abenteuerlichen Reisetagen mit Ede Reményi (recte Eduard Hoffmann, 1828-1898) und den folkloristischen Anregungen, die Brahms von seinem Lieblingsfreund „Jussuf“ Joachim empfing: Joachim hatte zu Beginn des Jahres 1861 sein Brahms gewidmetes „Concert in ungarischer Weise“ (d-moll, op. 11) uraufgeführt, das mit einem zündenden „Rondo alla zingara“ schließt – Brahms wird sich dafür siebzehn Jahre später mit seinem Opus 77 revanchieren.

Was immer Joachim schon im November 1859 in Detmold zu Gesicht bekommen haben mag: Das Werk, dessen Manuskript Brahms ihm Ende September 1861 aus Hamburg nach Hannover schickt, muß ihm in weiten Teilen ganz neu gewesen sein. Sein ausführlicher Dankesbrief, in dem sich nur – wie schon erwähnt – der erste Satz herbe Kritik gefallen lassen muß, gibt uns freilich Rätsel auf: Sollte mit dem hier erwähnten „Menuetto“ etwa wirklich das Andante gemeint sein? Brahms´ Eindringen auf ungarisches Hoheitsgebiet bringt Joachim jedenfalls so sehr aus der Fassung, daß er sich zu höchst bedenklichen (aber wohl nicht gut bedachten) Sätzen hinreißen läßt:

„Wie freue ich mich, Scherzo, Menuetto und Finale zu hören! In letzterem hast Du mir auf meinem eignen Territorium eine ganz tüchtige Schlappe versetzt, und ich wollte, meine (etwas arrogant auftretenden) Landsleute würden nächstens von den Deutschen so zwingend von der Letzteren geistigen Überlegenheit überzeugt! Sie fügten sich dann freundschaftlich in das Unvermeidliche, und freuten sich, daß man ihre Muttersprache anerkennt.“

(Hannover, 15. Oktober 1861)

Weit jenseits der entbehrlichen Debatte über diverse „Überlegenheiten“, die immer sehr unüberlegt vom Zaun gebrochen wird, hat dieses Finale einen unwiderstehlichen Schwung, dem man sich auch nach anderthalb Jahrhunderten der „Ausschlachtung“ nur schwer zu entziehen vermag. Dem Sog der feurigen Dreitakter konnte auch das Hellmesberger-Quartett nicht standhalten, das Julius Epstein schon kurz nach Brahms´ Ankunft in Wien in seine kleine Wohnung im Figaro-Haus (Schulerstraße 8 / Domgasse 5) einlud, um den tonangebenden Protagonisten der Wiener Kammermusik den jungen Komponisten vorzustellen: „Das ist der Erbe Beethovens!“ soll Primarius Joseph Hellmesberger am Ende ausgerufen haben. Ob Brahms, der schon an der Hypothek der Schumannschen Prophezeiungen („Neue Bahnen“) schwer genug zu tragen hatte, sich darüber freuen mochte, ist freilich sehr fraglich.

Jedenfalls zögerte Hellmesberger keinen Augenblick lang, seine Neuentdeckung mit dem Wiener Publikum zu teilen: Und so konnte Brahms am 16. November 1862, dem Jahrestag der Hamburger Uraufführung, sich mit seinem Opus 25 im Konzert des Hellmesberger-Quartetts den Wienern das allererste Mal als Komponist vorstellen. Vor allem das Zingarese-Finale, in dem Brahms seine Mitstreiter (Joseph Hellmesberger, Franz Dobyhal und Heinrich Roever) in eine wahre Ekstase mitriß (und der Violoncellosteg effektvoll zu Bruch ging) beeindruckte die Hörer tief.

Wie bei solchen Gelegenheiten bis heute üblich, erkalteten die Kritiker im selben Ausmaß, wie sich das Publikum erwärmte. Leopold Alexander Zellner (1823-1894), aus Zagreb stammender Musiker, Komponist und Musikjournalist (und später langjähriger Generalsekretär der Gesellschaft der Musikfreunde) resümierte in seinen „Blättern für Musik“ lakonisch:

„Öde, Sturm, Graus, Frost, Vernichtung, Trostlosigkeit sind die Vorstellungen, welche diese von keinem lichten oder milden Strahl auch nur auf Augenblicke erleuchteten und durchwärmten Nachtbilder hervorrufen.“

Joseph Hellmesberger selbst, der sich, je mehr Brahms´ Ruhm wuchs, immer skeptischer verhielt, hat später – mit reuigem Rückblick auf seinen inzwischen legendär gewordenen Beethoven-Ausruf – beteuert, einfach „bei Epstein zu viel kroatischen Wein getrunken zu haben“. Uns aber kann es nur recht sein, wenn sich in Wesen und Wirkung des ganzen Werkes hanseatisches Erbe, die scharfen Gewürze der Roma und Sinti und der schwere Wein der Magyaren und Kroaten gar nicht mehr voneinander scheiden lassen, und uns nur das Staunen über ein urwüchsiges Werk bleibt, in dem Tiefe und Temperament einander auf staunenswerte Weise die Waage halten.

© Claus-Christian Schuster

Brahms – Trio op. 8

Johannes Brahms
* Hamburg, 7. Mai 1833
† Wien, 3. April 1897

Trio Nr. 1, H-Dur, op. 8 (Fassung 1889)

Umarbeitung: Bad Ischl, Mai – August 1889, Wien, September – Dezember 1889

Uraufführung : Budapest, 10. Jänner 1890
Johannes Brahms, Klavier
Jenö Hubay (1858-1937), Violine
David Popper (1843-1913), Violoncello

Erstausgabe: Simrock, Berlin, Februar 1891

„Kunstwerke lernt man nicht kennen, wenn sie fertig sind; man muß sie im Entstehen aufhaschen,  um sie einigermaßen zu begreifen.“ Wie gerne würde man den Rat Goethes befolgen, doch wie selten bietet sich dem nichtschöpferischen Menschen dazu eine Gelegenheit! Was Brahms betrifft, gibt es jedenfalls keinen Punkt, wo wir der Erfüllung dieses Wunsches näher wären als bei seinem Klaviertrio op. 8. Es ist zwar nicht die eigentliche Geburt des Kunstwerkes, der wir hier beiwohnen können, sondern nur eine Metamorphose, aber die ist so umfassend und tiefgreifend, daß sie uns die faszinierendsten Einblicke in die Werkstatt des Komponisten bietet, die er uns je gestattet hat. Zwar ist es vorlaut, hier von „gestatten“ zu sprechen, denn daß Brahms uns diese Einblicke nur wider Willen gewährt, steht außer Frage. Wäre die Erstfassung dieses Werkes nicht seit November 1854 gedruckt vorgelegen, so wäre sie wohl dem unerbittlichen Meister zum Opfer gefallen und in eben jenem Ischler Sommer, der uns die „Neufassung“ bescherte, genauso der Traun überantwortet worden, wie viel „zerrissenes Notenpapier“ vor und nach ihr. So aber können wir in aller Ruhe die beiden Fassungen dieses Werkes vergleichen, die recht eigentlich zwei unabhängige, nur dem selben Keim entsprungene Werke darstellen. Wer sich die Zeit nimmt, diesen Vergleich anzustellen, dem wird sich ein ganzer Kosmos rätselhafter und wunderbarer Verwandlungen eröffnen.

Es ist hier selbstverständlich nicht der Platz, auf die Beziehungen zwischen den beiden Werken näher einzugehen. Ein kurzer Überblick über die Art der Umformung und Neuschöpfung mag genügen. Hier ist an erster Stelle die Eliminierung der beiden beziehungsreichen Liedzitate aus dem dritten und vierten Satz der Urfassung zu nennen: Schuberts „Das Meer erglänzte weit hinaus“ (Am Meer (Heine) / „Schwanengesang“, D 957 Nr. 12) und Beethovens „Nimm sie hin denn, diese Lieder“ (An die ferne Geliebte (Jeitteles), op. 98 Nr. 6) waren in der ursprünglichen Komposition Kristallisationskerne von Momenten besonderer lyrischer Dichte. Die Tilgung dieser beiden Bezugspunkte hatte einschneidende Folgen für Dramaturgie und Aussage dieser beiden Sätze. Als womöglich noch radikaler erwiesen sich die Eingriffe bei der Neukomposition des Kopfsatzes. Hier behielt Brahms überhaupt nur den Hauptsatz bei, während Seitensatz und Durchführung zur Gänze ersetzt wurden. Die neukomponierten Teile traten hier an die Stelle von Passagen, die Klangwelt und Gestik der Musik von Janáček, Mahler und Pfitzner vorweggenommen hatten. Weitere Umformungen zielen auf Verknappung und Formteilverschmelzung. Alles in allem erscheint der Text in seinen äußeren Dimensionen um etwa zwei Fünftel gekürzt,  wobei aber vom ursprünglichen Material der Ecksätze nur etwa ein Achtel, von dem des Adagios nur rund ein Drittel übernommen wurde. Lediglich das Scherzo beider Fassungen kann als inhaltlich ident bezeichnet werden, obwohl auch hier zahlreiche instrumentatorische Änderungen vorgenommen wurden (die man – ganz in Brahms´ Sinne durchaus „Verböserungen“ nennen darf), und der Satz auch eine völlig neue Coda erhielt. Die neukomponierten Teile weisen durchwegs eine kräftigere und dichtere Textur als die ausgeschiedenen auf, so daß die Neukomposition ganz allgemein gedrängter und „solider“ auftritt als die Erstfassung. Die Aussage beider Werke ist nicht nur verschieden, sie erscheint in manchen und nicht eben den unwesentlichsten Punkten geradezu als einander diametral entgegengesetzt. Instrumentation und Tektonik der zweiten Komposition bezeichnen einen der Höhepunkte der Brahmsschen Meisterschaft. Die Bändigung der Zentrifugalkräfte des Materials, die bei der ersten Komposition wohl gar nicht versucht worden war, kann als in höchster Vollendung geglückt bezeichnet werden. Daß diesem Sieg einige der anrührendsten Momente der Brahmsschen Musik geopfert werden mußten, zeigt ein Grunddilemma des menschlichen Schaffens schlechthin auf.

Brahms, den man vielleicht den kritischsten Komponisten der bisherigen Musikgeschichte nennen könnte, hat dieses Dilemma  ganz bewußt erlebt und durchlitten. Ich glaube daher, daß die Äußerungen des Komponisten selbst uns dichter an den Kern der Fragen heranführen, die diese einzigartigen Schwesterwerke aufwerfen, als alle wertenden und beschreibenden Vergleiche. Beim Lesen dieser Zeugnisse wird man hinter der Selbstironie und dem Sarkasmus des Autors immer wieder auch jenen nicht lähmenden, sondern läuternden Selbstzweifel  anklingen hören, der das Adelsprädikat des wahren Genies ist.

Schon wenige Tage, nachdem Breitkopf & Härtel die Erstfassung des Werkes zur Herausgabe angenommen hat, schreibt Brahms, von Gewissensbissen geplagt, aus Düsseldorf an Joseph Joachim (19. Juni 1854):

„…Das Trio hätte ich auch gern noch behalten, da ich jedenfalls später darin geändert hätte…“

Doch das Werk ist eben schon unwiderruflich „vom Stapel“ und kommt im November 1854 in seiner unverändert frischen und urwüchsigen Gestalt in den Handel. Am 22. November 1854 stellt Brahms selbst das Werk in einem Hauskonzert bei Joseph Joachim in Hannover vor. Clara notiert:

„Später spielte Johannes noch sein Trio, dem ich nichts wünschte als einen anderen ersten Satz, denn ich kann mich mit diesem nicht befreunden.“

Louis Köhler (1820-1886) meldet aus Königsberg in seiner im März 1855 in den „Signalen für die musikalische Welt“ erschienenen Rezension etwas mildere Bedenken ähnlicher Art an:

„ …Der erste Satz ist überhaupt reich von schöner Wirkung; doch störte uns die Fughette etwas. Vielleicht erfreut sie andere um so mehr…“

Die ersten öffentlichen Aufführungen des Trios finden kurz hintereinander in Danzig (13. Oktober 1855), New York (27. November 1855) und Breslau (18. Dezember 1855) statt. Einige Wochen später kann man in Kiel die Novität mit Brahms selbst, Carl Georg Peter Grädener und John Böie hören (20. Jänner 1856). Doch als kurz darauf, im März 1856, Joachim Brahms vorschlägt, das Werk mit ihm in einer Kammermusiksoiree in Hannover zu spielen, zeigt der junge Meister wenig Lust. Ist Brahms´ Absage (die er schlicht damit begründet, in Düsseldorf sei gerade „der schönste Frühling“) schon ein Anzeichen wachsender Distanz gegenüber seinem Kammermusikerstling? Jedenfalls ist uns aus den folgenden Jahren keine einzige Aufführung des H-Dur-Trios durch Brahms bekannt geworden.

1869 kehrt der Pianist Anton Door (1833-1916) aus Moskau in seine Heimatstadt Wien zurück. Door hat sich in Rußland, wo er zum engeren Freundeskreis von Nikolaj Rubinštejn und Čajkovskij gehört hat, einen Namen als hervorragender Kammermusiker gemacht. Ihm bleibt es vorbehalten, dem ersten (und bis dahin einzigen) Brahmsschen Klaviertrio zu seiner Wiener Erstaufführung zu verhelfen – man schreibt inzwischen das Jahr 1871, und seit der Komposition des Werkes sind nicht weniger als siebzehn Jahre vergangen. Doch auf ausdrücklichen Wunsch des Komponisten bekommen die Wiener nicht die gedruckte Fassung, sondern eine um eben jene von Clara Schumann und Louis Köhler beanstandeten Durchführungsteile des ersten Satzes gekürzte Version zu hören.

Wieder vergehen siebzehn Jahre, da bietet sich Brahms schließlich ein Anlaß zur Neukomposition des Werkes – denn nicht anders kann man die Umarbeitung nennen. 1888 hat Fritz Simrock dem Verlag Breitkopf & Härtel alle dort erschienenen Brahms-Werke abgekauft und will sie nun neu herausgeben. Diese Gelegenheit zu einer gründlichen Ausmerzung aller erkannten Schwächen seines Jugendwerkes will  der Meister sich nicht entgehen lassen. Er durchforstet das Werk mit unbestechlichem Auge und findet „viel Häßliches“ und „viele unnütze Schwierigkeiten drin“. Daß er zunächst wohl wirklich nur an eine Korrektur und nicht an eine so tiefgreifende Neukomposition denkt, erscheint aufgrund der Bleistifteintragungen im Handexemplar der Erstausgabe wahrscheinlich. Doch während seines Ischler Sommeraufenthaltes 1889 arbeitet er sich immer tiefer in das Werk hinein, und kurz vor seiner Abreise nach Wien kann er Clara Schumann nach Baden-Baden berichten:

„…Mit welcher Kinderei ich schöne Sommertage verbrachte, rätst Du nicht. Ich habe mein H-Dur-Trio noch einmal geschrieben und kann es Op. 108 statt Op. 8 nennen. So wüst wird es nicht mehr sein wie früher – ob aber besser?

Wenn sich´s träfe, daß dort kleine Joachims und Hausmanns tummelten, könnten wir’s immer einmal versuchen…“

(3. September 1889)

Schon zwei Tage zuvor hat er bei seinem Verleger Fritz Simrock angefragt:

„Auch muß ich z.B. jetzt doch Sie fragen wegen des Trios op. 8, ob Sie davon eine neue Ausgabe machen und einige neue Platten daran wenden mögen. Es wird kürzer, hoffentlich besser und jedenfalls teurer – in welcher frohen Aussicht bestens grüßt Ihr
J.B.“

Doch Brahms hat es beileibe nicht eilig mit der Drucklegung seiner Neukomposition. Nach Wien zurückgekehrt feilt er weiter an dem Werk, bis er es schließlich am 10. Jänner 1890 in Budapest der Öffentlichkeit präsentiert.

 

Am 22. Februar 1890 kann auch das Wiener Publikum das neue Werk kennenlernen: Brahms stellte es in einer Soirée des Rosé-Quartetts im Bösendorfer-Saal mit Arnold Rosé, Violine, und Reinhard Hummer, Violoncello, vor. Am nächsten Tag schreibt er an Clara:

 

„…Ich hatte das Stück schon zu den Toten geworfen und wollte es nicht spielen. Daß es mir selbst nicht genügen und gefallen wollte heißt wenig, aber wenn darauf die Rede kam, war niemand neugierig darauf, und jeder, auch Joachim, Wüllner z.B., fing dann davon an, wie er erst neulich mit so vielem Vergnügen das alte Stück gespielt habe, und fand es schwärmerisch, romantisch und was alles.

Nun ist mir lieb, daß ich´s doch gespielt habe, es war ein sehr vergnügter Tag.“

Und Brahms hat offensichtlich Lust bekommen, sich noch mehrere solche vergnügte Tage zu verschaffen, denn am selben Tag schreibt er an seinen Freund Franz Wüllner, den städtischen Kapellmeister und Konservatoriumsdirektor in Köln:

„…Gestern erst habe ich denn das verneuerte Trio hier gespielt und bin wirklich in Versuchung es Dich hören zu lassen…“

Diese Anregung wird dankbar aufgegriffen, und Brahms kann auf diese Weise seinen Freunden aus Düsseldorfer Tagen sein erwachsen gewordenes Jugendwerk vorführen. Zu dem auf den 13. März 1890 in Köln angesetzten Konzert (ein von  Wüllner dirigiertes Chorkonzert, in dessen Mitte Brahms sein „verneuertes“ Trio mit Gustav Holländer, Violine, und Lájos Hegyesi, Violoncello, spielen wird) lädt er seinen Jugendfreund Julius Otto Grimm („Isegrimm“) und dessen Frau Philippine („Pine Gur“) ein:

„…es wäre ganz ausnahmsweise schön und lieblich, wenn Du und gar Pine Gur dabei wären. Du hörst allerlei würdige Chormusik, einen Haufen Motetten von mir und ein Stück, das Dich notwendig interessieren muß.

Kennst Du etwa noch ein H-Dur-Trio aus unserer Jugendzeit, und wärst Du nicht begierig, es jetzt zu hören, da ich ihm – (keine Perrücke aufgesetzt – !) aber die Haare ein wenig gekämmt und geordnet[?]“

(Anfang März 1890)

Gleich nach dem Kölner Konzert setzt Brahms seine Reise in die Vergangenheit fort und besucht Clara in Frankfurt am Main, wo er am 23. März auch noch einmal das Trio aufführt. Damit ist die Reihe der Probekonzerte, in denen sich das neue Werk bewähren muß, zu Ende.

Aus Bad Ischl kann Brahms am Ende seines Sommeraufenthaltes 1890 an Elisabeth und Heinrich von Herzogenberg die nun ausgereifte Neukomposition zusammen mit dem ganz neuen zweiten Streichquintett (G-Dur, op. 111) schicken. Kurz davor hat er an Heinrich von Herzogenberg noch geschrieben:

„…mit Buchstaben geht mir´s noch schlimmer als mit den Noten – diese gefallen mir doch erst morgen nicht, wenn ich sie heute geschrieben…“

(14. Juni 1890)

Elisabeths Antwortschreiben enthält die wohl herzlichste und gültigste Anmerkung zu dem  „Problem“ des doppelten Op. 8, das eben viel mehr ein Geschenk als ein Problem ist – soviele Fragen es auch aufwirft:

„Bei dem  alt-neuen Trio ging mir´s eigen. Im Stillen protestierte etwas in mir gegen die Umarbeitung – es war mir, als hätten Sie kein Recht dazu, in die Jugendzüge, die lieblichen, wenn auch ab und zu verschwommenen, mit Ihrer Meisterhand jetzt hineinzukomponieren, und ich dachte, das kann nimmermehr werden, weil niemand derselbe ist nach so langer Zeit – und ob man nicht wehmütig singen würde: Es war ein Duft, es war ein Glanz. –

Absichtlich sah ich das „alte“ Trio deshalb nicht vorher wieder an, da vieles mir davon entfallen war, und ich wußte nicht, wo der neue Brahms angesetzt hatte, da ich Kritiken mir nie merke! Im ersten Satz erkannte ich sofort die Stelle, wo Sie eingegriffen, aber ich wurde trotz aller Bedenken fortgerissen und spielte hingerissen weiter! – Es ist schön, wie es ist, und das Rechten mit Ihnen überlasse ich gern den Philologen unter den Musikern, die das Datum an dem Ding mehr interessiert als das Ding… Das Adagio ist durch die Zusammenziehung wunderbar rund geworden, und wie von neuem bezaubert das herrlich feierliche Schreiten des Hauptmotivs. Im Scherzo, wo ja scheinbar die wenigsten Veränderungen vorgenommen wurden, bewundern wir die riesig klare Akzentuierung der früheren Intentionen. Genug, wer wollte sich nicht freuen, das Werk mit dem Jünglingsgesicht und mit dem Meisterantlitz –

„Nun kann man´s zweimal lesen,
Wie gut ist das gewesen!“

(9. Oktober 1890)

Am 13. Dezember 1890 endlich schickt Brahms die beiden neuen Opera (8 und 111) zur Drucklegung nach Berlin. Wenige Tage später heißt es in einem Brief an Fritz Simrock:

„…Ich dachte alles ganz gut korrigiert zu haben!? Und nun stimmt’s nicht!? Und Sie schwindeln einen Takt mehr heraus, als ich fürs Geld geben will!? Ja, Geld – was habe ich denn für das erste Quintett gekriegt? Und wie rechnet man das Kastrieren eines Trios?“

(22. Dezember 1890)

Eine Woche später kommt hier dann auch das weitere Schicksal der Erstfassung zur Sprache:

„…Ich meine, es brauchte bei op. 8 nichts weiter zu stehen als: Neue Ausgabe. In Ankündigungen können Sie ja beisetzen: vollständig umgearbeitete und veränderte und was Sie wollen. Was mit der alten Ausgabe geschehen soll: es ist wirklich unnütz, darüber zu reden und zu beschließen – nur meine ich, man kann sie nicht wohl jetzt mit der neuen Ausgabe zugleich anzeigen. Wird sie verlangt, so schicken Sie sie, und scheint es Ihnen eines Tags nötig oder wünschenswert, so drucken Sie sie neu (lassen ja auch möglicherweise die neue Ausgabe eingehen!) Ein Vorsatz aber ist überflüssig. Ich denke selbstverständlich dabei nicht an das Honorar und weiß wirklich nicht, was ich fürs Kastrieren verlangen soll….

Für das verböserte Trio hätte ich nichts verlangt und erwartet, aber Sie schreiben ganz klar, kurz und grob, daß Sie es nicht umsonst nehmen! So kaufe ich mir noch Kuchen zu Ihrem Champagner – wird alles den armen Leibeigenen abgezapft!…“

(An Fritz Simrock, 29. Dezember 1890)

Die fast kaltblütig zu nennende Objektivität, mit der Brahms sein Jugendwerk noch einmal auf die Welt gebracht hatte, verstellte ihm nicht die Sicht auf das Lebensrecht des Erstgeborenen. Daß uns auf diese Weise Jünglingsgesicht und Meisterantlitz erhalten blieben, zählt zu den schönsten Geschenken der Musikgeschichte.

© Claus-Christian Schuster