Archiv der Kategorie: Einführungstexte

Dvořák – Ballade op. 15

Antonín Dvořák
Ballade für Violine und Klavier, d-moll, op. 15 [B 139]
komponiert: 1884?

Erstausgabe: J. W. Coates, London, Dezember 1884

 Die D-moll-Ballade entstand wahrscheinlich in Erfüllung eines Kompositionsauftrages des Londoner Verlegers J. W. Coates, der als Herausgeber des „Magazine of music“ fungierte. Wahrscheinlich weist die hier von Dvořák verwendete niedrige Opusnummer (im Erstdruck heißt es: Op. 15 I, was die Vermutung nahelegt, der Komponist habe zumindest ein weiteres Stück dieser Besetzung geplant) nicht auf eine frühere Skizzierung des Werkes hin. Dvořák pflegte mitunter, die bei der Publikation seiner Werke zunächst „übersprungenen“ Opusnummern nachträglich mit Gelegenheitskompositionen aufzufüllen. Jedenfalls ist das Autograph der Komposition undatiert; Otakar Šourek hat aufgrund tonartlicher, charakterlicher und motivischer Indizien die Vermutung geäußert, die Ballade könne die Metamorphose einer verworfenen Skizze zum langsamen Satz der D-moll-Symphonie (op. 70/B 141) sein; die dokumentierte Entstehungszeit der Symphonie reicht von Dezember 1884 bis März 1885 – sollte Šoureks Hypothese zutreffen, müßte es sich also angesichts des Publikationsdatums um einen schon im Frühstadium der Niederschrift ausgeschiedene Passus handeln. Unbestreitbar ist allerdings die Stimmungsverwandtschaft der Ballade mit dem fraglichen Symphoniesatz. – Dvořák scheint Coates übrigens nur territorial beschränkte Rechte an dem Werk überlassen zu haben, denn schon im August 1885 erschien im Prager Verlag Urbánek eine zweite Ausgabe der Ballade.

© Claus-Christian Schuster

Dvořák – Quintett op. 5

Antonín Dvořák
* Nelahozeves, 8. September 1841
† Prag, 1. Mai 1904

Klavierquintett Nr. 1, A-Dur, op. 5 [B 28]
komponiert: Prag, August 1872; umgearbeitet in Prag und Vysoká, April bis Juli 1887

Uraufführung der Erstfassung: Prag, Convict-Saal, 22. November 1872
Karel Slavkovský (1845-1919), Klavier

Vojtěch Hřímalý jun. (1842-1908), Violine
Josef Krehan, Violine
Wilhelm Bauer, Viola
Alois Neruda (1837-1899), Violoncello

Uraufführung der revidierten Fassung: Prag, Konservatorium, 29. März 1922
Fr. Bartová, Klavier
Jaroslav Štěpánek (1905-?), Violine
Bedřich Ort (1902-?), Violine
Josef Kudrnovský, Viola
Josef Fikais, Violoncello

Erstausgabe: Editio Supraphon, Prag 1959 (Dvořák-Gesamtausgabe Serie IV, Band 11/1)

Man könnte die Gattung des Klavierquintetts als das „Leitfossil“ der Hochblüte der Kammermusik bezeichnen: Entstehung und Aufführung von Werken dieses Genres waren meist nur dort möglich, wo es schon ein dichtes Netz von kamnmermusikalischen Traditionen und Aktivitäten gab. Kein Wunder also, daß das erste wirklich „klassische“, das heißt jenseits aller Spezialinteressen und Wiederbelebungsversuche bis heute omnipräsente Werk dieser Gattung, Schumanns Es-Dur-Quintett op. 44, erst 1842 – also ein gutes halbes Jahrhundert nach den ersten Klassikern der Genres Streichquartett und Klaviertrio – entstanden ist. Und ebenso wenig ist es ein Zufall, daß dieses Schumannsche Paradigma in Prag besonders lange und intensiv nachwirkte. Denn nirgendwo war Schumanns Botschaft auf fruchtbareren Boden gefallen als hier – und Schumanns epochemachende Neue Zeitschrift für Musik zählte schon ein Jahr nach ihrer Gründung (1833) in Prag ebensoviele Abonnenten wie in Dresden und Hamburg zusammen. Der Prager „Davidsbund“, dem mit August Wilhelm Ambros und Eduard Hanslick Zentralfiguren auch der späteren österreichischen Musikgeschichte angehörten, erfüllte den spätestens seit Mozarts Triumphen weithin anerkannten Ruf Prags als Musikmetropole mit neuem Leben und strafte jene „angeblich gut informierten“ Ratgeber Lügen, deren Cassandrarufe Hector Berlioz im Kapitel LIII seiner Mémoires zitiert:

„Gehen Sie nicht nach Prag, sagte man mir, das ist eine Pedantenstadt, wo man nur die Werke der Toten zu würdigen weiß: die Böhmen sind hervorragende Musiker, das ist wahr, aber nach der Art der Professoren und Schulmeister ; für sie ist alles, was neu ist, abscheulich, und es ist anzunehmen, daß Sie an ihnen keine Freude haben werden.“

Daß Berlioz dieser Warnung nach seinen fulminanten Prager Erfolgen rückblickend jenen von der tschechischen Tourismusindustrie weidlich ausgenützten Sehnsuchtsruf „O Praga! Quando te aspiciam!“ entgegensetzt, ist Musikgeschichte. Und in Prag schrieb man Musikgeschichte mit einer Ausdauer und Vitalität, wie man sie nicht häufig findet – und das, obwohl niemand der Diagnose des Prager Davidsbündlers Franz Balthasar Ulm widersprechen mochte, daß es nämlich eine geradezu unlösbare Aufgebe darstelle, „die disparaten Mitglieder unserer zerklüfteten Gesellschaft von Musikern und Musikfreunden unter einen Hut zu bringen“.

Anlaß zu dieser bitteren Diagnose hatte das vorzeitige Abschiedskonzert des hochverdienten Antonín Apt (1815-1887) gegeben, der im März 1865 mit dem 117. Konzert des von ihm 1840 gegründeten und seither geleiteten  Cäcilienvereins, der neben Orchester- und Chorwerken auch der Kammermusik ein Podium geboten hatte, sein Wirken beendete. Aber es wäre nicht Prag gewesen, hätte sich nicht sogleich neues Leben geregt: In Ludevít Procházka (1837-1888) fand das Prager Musikleben einen jungen, phantasievollen Anreger und tatkräftigen Förderer. Schon während seines Jusstudiums war Procházka Klavierschüler Bedřich Smetanas gewesen, dessen treuer Verehrer und Verteidiger er zeitlebens bleiben sollte, hatte sich 1861 an der Gründung der bis heute bestehenden Chorvereinigung Hlahol, 1863 gemeinsam mit Smetana (der im selben Jahr Leiter des Hlahol wurde) an der noch folgenreicheren der Umělecká beseda beteiligt, wo er als Sekretär der Musiksektion wirkte, und war außerdem seit 1865 als Musikkritiker der einflußreichen Národní listy tätig. Neben seinem „bürgerlichen“ Beruf als wohlbestallter Magistratsbeamter gab er seit 1870 eine eigene (bis 1875 bestehende) Musikzeitschrift, die Hudební listy, heraus und gehörte 1871 zu den Initiatoren der für das tschechische Musikleben der nächsten Jahrzehnte unentbehrlichen Verlagsgesellschaft Hudební matice.

Da Procházka nach dem Rückzug Apts das Fehlen eines Prager Forums für die Präsentation neuer Musik als besonders schmerzlich empfand, entschloß er sich kurzerhand, eine eigene Kammermusikreihe ins Leben zu rufen.

Die zunächst formlos als Hauskonzerte in Procházkas Neustädter Wohnung in der Ječná ulice (Gerstengasse) 7 abgehaltenen Zusammenkünfte genossen bald den besten Ruf. Am 10. Dezember 1871 konnten die Zuhörer hier die erste öffentliche Aufführung eines Werkes des immerhin schon dreißigjährigen Antonín Dvořák hören, der erst wenige Monate zuvor sein relativ ruhiges und sicheres Bratschistendasein in dem von Smetana geleiteten Theaterorchester zugunsten einer ungewissen Zukunft als freischaffender Komponist aufgegeben hatte: Vzpomínání  (Gedenken), das letzte der fünf Lieder (B 23), die Dvořák kurz zuvor auf gerade erst veröffentlichte Gedichte der jungen Eliška Krásnohorská (i. e. Alžběta Pechová, 1847-1926), Smetanas späterer Librettistin, geschrieben hatte. Offenbar fand dieses Début Anklang bei Hörern und Veranstalter, denn schon im April 1872 wurden im selben Rahmen Dvořáks Lieder Proto (Darum, die zweite der Vertonungen aus dem Krásnohorská-Zyklus B 23) und Sirotek (Das Waisenkind, B 24) auf einen Text des 1870 verstorbenen Karel Jaromír Erben (dessen 1853 erschienenes Kytice z pověstí národních (Blumenstrauß von Volkssagen noch 1896 die Vorlagen zu vier der fünf symphonischen Dichtungen Dvořáks liefern wird) aufgeführt. (Dieses letztere Lied trug ursprünglich die später auf unser Klavierquintett übergegangene Opusnummer 5.) Kurz darauf präsentierte Ludevít Procházka seinen Zuhörern das Adagio aus einem der beiden (später von Dvořák vernichteten) Klaviertrios op. 13 (B 25-26).

Da Procházkas Hauskonzerte – wohl nicht zuletzt wegen der Qualität der hier vorgestellten neuen Werke – ein immer zahlreicheres Publikum anzogen, mußte man bald in einen richtigen Konzertsaal übersiedeln. Das erste Konzert dieser unentgeltlich zugänglichen Matinéenreihe fand am Freitag, dem 22. November 1872, im traditionsreichen Convict-Saal statt. Das Programm dieses Mittagskonzertes wurde gleich mit dem gewichtigsten und längsten Werk, der Uraufführung von Dvořáks Quintett, eröffnet. Die Autorenliste der nachfolgenden  Kompositionen gibt nicht nur einen Eindruck von Procházkas Überparteilichkeit, Weltoffenheit und Zurückhaltung (seine eigenen Kompositionen programmierte er fast nie), sondern auch von der bewundernswerten Aufnahmebereitschaft des Prager Publikums: Lieder von Zdenko Fibich (1850-1900), von Betty Hanušová, seiner zukünftigen Schwägerin und späteren zweiten Frau gesungen, von Robert Franz (i. e. Robert Knauth, 1815-1892) und Richard Wagner, Werke des von Hans von Bülow so hochgeschätzten Joachim Raff (1822-1882) und des in Wien als Verleger (und später als unermüdlicher Bibliograph) tätigen  Johann Peter Gotthard (i. e. Bohumil Pazdírek, 1839-1919), sowie die von Karel Slavkovský, der 1878 auch Dvořáks Klavierkonzert aus der Taufe heben wird, vorgetragenen Klavierstücke des (später in St. Petersburg wirkenden) Organisten Vojtěch Hlaváč (1849-1911) und des in Prag und Paris ausgebildeten Polen Władysław Želeński (1837-1921) bildeten das überreiche Programm dieses Mittagskonzertes.

Daß mit Wagner der älteste der vertretenen Komponisten 59, die Mehrzahl der anderen aber zwischen 22 und 35 Jahre alt waren, scheint keinem der zahlreichen Musikfreunde, die sich an diesem Tag zusammenfanden, das Gefühl vermittelt zu haben, an einer provokanten Avantgarde-Veranstaltung teilzunehmen; doch deutsche, tschechische und polnische Gegenwartsmusik in dieser Weise zu vereinen, war in einer Atmosphäre stetig wachsender nationaler Spannungen sicher weder alltäglich noch unumstritten. Gerade der Zusammenklang all dieser verschiedenen Idiome und Strömungen hat aber als Umgebung für die Uraufführung von Dvořáks Quintett geradezu symbolische Bedeutung: Denn in dieser Partitur, die im Jahr nach der Vollendung der Erstfassung der komischen Oper Král a uhliř (König und Köhler, B 21), eines besonderen Sorgenkindes im Œuvre des Komponisten, entstand, sind die sich allmählich zu einem Personalstil von ganz unverwechselbarer Eigenart klärenden Tendenzen, in denen sich die widersprüchlichen Erfahrungen der zwölf Orchesterjahre des Verfassers auf ganz eigentümliche Weise widerspiegeln, besonders deutlich vernehmbar. Wahrscheinlich ist es die außergewöhnliche Komplexität dieser Schaffenssituation, die das recht unglückliche Schicksal des Werkes mitbestimmt hat.

Der anonyme Rezensent der Hudební listy (etwa Ludevít Procházka selbst?) lobt die „lebendige, mit schwungvollen und poetischen Gedanken überschäumende  Phantasie, die Gewandtheit und Kühnheit in der Harmonisierung und den Modulationen sowie in der polyphonen Verflechtung der Stimmen und der Instrumentation“, prophezeit dem Werk aber abschließend: „Solange in ihm noch allzusehr, wenn auch noch so interessante, so doch willkürliche „Einfälle“ vorherrschen, so lange wird es nicht zu organischer Geschlossenheit, klarer Übersichtlichkeit und ästhetischem Ebenmaß gelangen.“ Dieses Verdikt muß freilich vor dem Hintergrund der Tatsache gesehen werden, daß dem Publikum der bis zu diesem Punkt schon durchlaufene, facetten- und entwicklungsreiche Werdegang des Komponisten (mit Ausnahme der erwähnten drei Lieder und des Triosatzes) unbekannt war, die Richtung seiner Bestrebungen und das Potential seiner Schaffenskraft also überaus schwer beurteilbar bleiben mußte.

Es ist unwahrscheinlich, daß das Werk nach dieser Premiere in seiner Urgestalt noch einmal  öffentlich aufgeführt wurde. Erst knapp anderthalb Jahrzehnte nach der Niederschrift des Stückes, am 20. März 1887, nachdem Dvořák das Werk nicht lange davor noch in einem Verzeichnis „zerrissener und verbrannter“ Kompositionen angeführt hatte, wendet er sich mit folgenden Zeilen an seinen alten Förderer Ludevít Procházka, der schon 1878 mit seiner vom legendären Bernhard Pollini als dramatischer Sopran an die Hamburger Oper engagierten Frau Marta Reissingerová dorthin übersiedelt war:

Milý příteli!

Pamatujete se ještě na onen kvintet (A dur) s klavírem, který asi před 14 lety zásluhou Vaší poprvé v Praze hrán byl?

Nemohu se nikde dopídit své partitury, jenom vím, že Vy jste si dal onen kvintet opsat a snad jej ještě máte. Kdyby tak bylo, prosil bych Vás snažně mně jej laskavě zapujčit, dal bych si jej opsat.

Nyní tak někdy rád se koukám na své staré hřichy i rád bych tento po dlouhém čase viděl.

Račte mi laskavě korespondenčním lístkem dáti zprávu.

Vam vždy oddaný
A. Dvořák

Lieber Freund!

Erinnern Sie sich noch an jenes Klavierquintett (A-Dur), das durch Ihr Verdienst vor etwa 14 Jahren in Prag zum ersten Mal gespielt wurde?

Ich kann meine Partitur nirgends auffinden, weiß jedoch, daß Sie sich jenes Quintett haben abschreiben lassen, und hoffe, daß Sie es noch haben. Falls dem so wäre, bäte ich Sie inständig, es mir liebenswürdigerweise zu leihen, damit ich es abschreiben lassen kann.

Zurzeit betrachte ich ab und zu gerne meine alten Sünden, und diese würde ich nach langer Zeit gerne wiedersehen.

Ich bitte Sie höflich, mir mittels einer Postkarte Nachricht zu geben.

Ihr Ihnen immer ergebener
A. Dvořák

Procházkas Antwort ist zwar nicht erhalten, aber die im Prager Nationalmuseum aufbewahrte Abschrift mit den 1887 von Dvořák eigenhändig vorgenommenen Änderungen beweist, daß Procházka diese 1872 für die Uraufführung angefertigte Kopie dem Autor aus Hamburg zurückgesendet hat – ein Unterfangen, das angesichts der damaligen Verläßlichkeit und Schnelligkeit der Post nicht annähernd so riskant war, wie es uns heute erscheinen mag. Das Ausmaß der in der Folge (offenbar zwischen April und Juli 1887) vorgenommenen Retouchen und Kürzungen legt nahe, daß der Vater über die erbetene Heimkehr des verlorenen Sohnes nicht restlos glücklich werden konnte. Wie tiefgreifend vor allem die formalen Eingriffe waren, läßt sich schon rein statistisch ermessen: Der in der revidierten Fassung 230 Takte lange Kopfsatz hatte in der ursprünglichen Version um wenigstens 152 Takte mehr, und auch das jetzt noch 106 Takte zählende Andante war in der Urfassung um mindestens 24 Takte länger. Daß das Finale seine volle Länge von 468 Takten behalten durfte, zeugt wohl weniger von zunehmender Milde als von abnehmendem Interesse des Komponisten-Korrektors. Irgendwann vor dem 18. August 1887 muß Dvořák dann zu dem Schluß gekommen sein, es sei besser, gleich ein ganz neues A-Dur-Quintett zu schrieben – denn an diesem Tag beginnt er in Vysoká, wo er sich schon seit der zweiten Maihälfte aufhält,  die Niederschrift seines berühmten Opus 81, das es der Nachwelt sehr schwer machen wird, jenes jugendliche Opus 5 – in welcher Gestalt auch immer – im Gedächtnis zu behalten.

Unsere heutige Aufführung folgt dem 1959 erstmals in der Dvořák-Gesamtausgabe vorgelegten gekürzten Text von 1887, weil dieser, totz des Abbruchs der Umarbeitung, den Intentionen des Komponisten und seinen ästhetischen Ansprüchen wohl näher kommt als die (ungedruckt gebliebene und nicht zweifelsfrei rekonstruierbare) Urfassung von 1872. In dieser 1887 von Dvořák liegengelassenen Gestalt ist formal vor allem der Kontrast zwischen den radikal gekürzten ersten beiden Sätzen und dem weitgehend unbearbeitet gebliebenen Finale bemerkenswert.

Dem ersten Satz (Allegro ma non troppo), dessen Form durch die Auslassung des ganzen Seitenthemenkomplexes in der Reprise besonders drastisch verknappt wurde, gibt dieser Eingriff eine fast aphoristische Erscheinung, die in einem aparten Spannungsverhältnis zu dem episch-ausladenden Gestus des Ganzen steht, gleichzeitig aber einigen auffälligen Zügen der Vorlage (wie etwa schon dem fragenden Sextakkord anstelle des dort erwarteten grundständigen Dreiklanges im zweiten und vierten Takt) ideal entspricht. Über seine harmonische Wanderlust läßt uns weder der junge noch der reife Dvořák im Unklaren: der achttaktige Eröffnungssatz des Klaviers wird von den Streichern sofort im weit entfernten G-Dur (der Wechselsubdominante) aufgegriffen und erweitert, aber nur, um uns sogleich auf eine abenteuerliche Modulationsreise zu schicken, die nur auf großen Umwegen zur traditionellen Dominante des Seitensatzes führt. Daß die rhythmische Signatur des Seitenthemas direkt aus jener des Hauptthemas entwickelt ist, hat Dvořák wahrscheinlich zu der oben erwähnten Kürzung bewogen; denn eben diese emblematische Signatur, mit der das Werk einsetzt, durchpulst den ganzen Satz ohnehin schon in ihrer Ausgangsgestalt, Diminution und Augmentation.

Das in der Submediante F-Dur stehende Andante sostenuto setzt diese tonale Drift gleich fort, indem die eröffnende (durch Verschränkung von Vorder- und Nachsatz auf 15 Takte verknappte) Periode nicht wieder nach Hause findet, sondern sich in das unwirtliche Cis-Moll (eben die Mollsubmediante von F-Dur) verirrt. Diese Verirrung wird im Klavier von einem kleinräumigen ostinaten Dreitonmotiv begleitet, dessen weitausgesponnene Wiederaufnahme unmittelbar vor der Satzmitte (Takte 43 bis 51) unwillkürlich an Janáček denken läßt. (Die Umgebung dieses Zentralteiles hat Dvořák 1887 wesentlich gekürzt.)

Das Finale (Allegro con brio) setzt (ohne die in einem solchen Falle eigentlich erwartete Spielanweisung attacca) mit der Wiederaufnahme des den vorhergehenden Satzes beschließenden F-Dur-Akkordes ein und stürmt gleich zielstrebig modulierend auf ein gedachtes Forte-Ritornell in strahlendem A-Dur zu – das freilich nicht erreicht wird, weil der ganze Impetus abrupt in ratlosem Cis-moll stecken bleibt, aus dem uns dann das verspätete A-Dur-Ritornell, aber pointiert neckisch im Pianissimo, erlöst. Bei der Wiederholung des Vorganges am Schluß einer ungewöhnlich breit ausgesponnenen (und zum Mißbehagen vieler Analytiker in der Haupttonart stehenden) Episode tritt das Ritornell dann nach völlig identer Vorbereitung in G-Dur auf, wodurch ein origineller Fernbezug zum Anfang des ganzen Werkes (Takt 9ff. des ersten Satzes) geschaffen wird. Die folgende vollständige Wiederaufnahme der Episode (nun zur neuerlichen Beunruhigung der Kritiker im völlig irrationalen B-Dur) versandet unter spielerischen Scherzando-Figurationen (in denen man Mendelssohn-Echos vernehmen mag) in einem sechs Takte lang ausgehaltenen  H-moll-Sextakkord, an den sich nach wirkungsvoller Generalpause der Aufschwung zur letzten Wideraufnahme des Ritornells schließt, dessen kapriziöse Erreichung über den Cis-moll-Umweg inzwischen keine Überraschung mehr ist. Der Rezensent der Uraufführung, der diesen Schlußsatz als „Rondo-Finale“ bezeichnete, hatte also – obwohl Dvořáks Notentext diese Bezeichnung nirgendwo enthält – nicht unrecht: Der Satz ist eines jener seit Schubert mit großer Vorliebe und wechselndem Glück geschaffenen Mischwesen aus Rondo- und Sonatenform (hier nach dem Schema ABABA). Auch wenn Dvořáks Interesse an der Umarbeitung an diesem Punkte noch nicht so lau geworden wäre, hätte er hier schwerlich einen plausiblen Weg der Verknappung finden können, ohne die unbekümmerte Vitalität des Jugendwerkes ernstlich zu gefährden. So hat die Vorsehung dafür gesorgt, daß uns in seinem „liegengelassenen“, aber doch nicht verworfenen A-Dur-Quintett der bezwingende Reichtum seiner Phantasie sowohl in der durch die erfahrene Meisterhand gebändigten als auch in seiner „ungekämmten“ Ursprünglichkeit bewahrt geblieben ist.

© Claus-Christian Schuster

Beethoven – Trio op. 1 Nr. 3

Ludwig van Beethoven
* Bonn, 16.(?) Dezember 1770
† Wien, 26. März 1827

Trio Nr. 3, c-moll, op. 1 Nr. 3
komponiert: Wien, etwa 1793
Widmung: Fürst Carl von Lichnowsky (1761-1814)

Uraufführung: Wien, bei Fürst Carl von Lichnowsky (Schauflergasse 6), vor dem 19. Jänner 1794 (wahrscheinlich Ende 1793)
Ludwig van Beethoven, Klavier
(?) Ignaz Schuppanzigh (1776-1830), Violine
(?) Anton Kraft (1749-1820), Violoncello

Erstausgabe: Artaria, Wien, Oktober 1795

Von den drei Trios des emblematischen Opus 1, mit dem Beethoven in beispielloser Selbstsicherheit die Bühne der Musikgeschichte betritt, ist das dritte wahrscheinlich das populärste und zweifellos das am meisten gespielte. Beethoven selbst hielt es für das beste Stück der Reihe und war daher über die Skepsis, mit der Haydn bei der Uraufführung gerade diesem Werk begegnete, gekränkt. Es ist nicht zu leugnen, daß dieses Trio sich von seinen beiden Schwesterwerken auf ganz bezeichnende Weise unterscheidet: Es ist noch reicher an einprägsamen motivischen Details und instrumentatorischen Effekten, klanglich noch raffinierter und noch dichter übersät mit Überraschungen aller Art. Gerade diese qualitativen Unterschiede könnten aber vielleicht Haydns Reaktion verständlich machen ( – Haydns in diesem Zusammenhang oft ins Spiel gebrachte „Eifersucht“ ist ein so abstruses Motiv, daß es sich gar nicht erst lohnt, darauf näher einzugehen). Beethoven hat mit diesem Werk nämlich ganz offensichtlich ein Ziel verfolgt, das weit außerhalb der Lebens- und Erfahrungssphäre Haydns lag: Während die beiden vorausgehenden Trios der musikalischen Naturpoesie Haydns mit ihrem organischen Ablauf gar nicht ferne stehen, ist dieses abschließende – und nach Beethovens unmißverständlicher Absicht auch krönende – Werk ein zutiefst subjektives, von erschütternder Tragik geprägtes Bekenntniswerk, in dem der Tondichter rückhalt- und schonungslos bis an die Grenzen des Mitteilbaren vordringt. Das lebensspendende Gottvertrauen, unter dessen mildem Klima der ganze überreiche Kosmos der Haydnschen Kammermusik gedeiht und einen so unerschöpflichen Reichtum an originellen Organismen hervorbingt, hier scheint es in einem aussichtslosen Überlebenskampf verdunkelt, ja verloren – und die beiden Momente, wo dieses kindliche und bedingungslose Vertrauen als ferne Ahnung oder wehmütige Erinnerung wieder auftauchen möchte, wirken vor der Folie dieses existenziellen Kampfes als idyllische, ephemere Selbsttäuschung (der zweite Satz) oder gar als dadaistischer Ulk (das Trio des Menuetts), der die schicksalhafte Ausweglosigkeit nur noch schmerzlicher hervortreten läßt. Daß ein Werk von so kompromißloser Radikalität und bestürzender Gedrängtheit Fassungslosigkeit, ja Entsetzen hervorrufen mußte, erscheint ganz unausweichlich. Weit erstaunlicher und bedenklicher dünkt mich, daß heute dieses Grauen im Regelfall genießerischem Fußwippen und einer allwissenden Kennermiene gewichen ist; jedenfalls scheint die Popularität des Werkes zu einem nicht geringen Teil auf einem fundamentalen und verharmlosenden Mißverständnis zu beruhen.  Denn wenn man erst einmal die tragische Heterogenität und die dramatische Spannung der hier verarbeiteten Ideen und Klangbilder erkennt, wird man nicht so sehr die Sicherheit und Kühnheit, mit der Beethoven alle diese widersprüchlichen Elemente zu einem zwingenden und überzeugenden (wenn auch bestürzenden) Ganzen zu einen weiß, bewundernd bestaunen, sondern viel eher vor der Erschütterung, die ein so schonungsloses Bekenntnis hervorruft, jede wertende und „wissende“ Attitude aufgeben.

Schon die Exposition des ersten Satzes (Allegro con brio, c-moll) bietet uns ein Schauspiel widersprüchlichster Gefühle und Regungen: Verirrung und banges Zögern, atemloses Drängen und zorniges Zupacken, seliges Schweben und frenetisches Stürmen – alles ist hier zu finden und auf die originellste Weise miteinander verwoben. So verwandelt sich etwa der beklemmt fragende Doppelschlag des Kopfmotivs unvermutet zu einem nervig dahinstürmenden Motiv, während andererseits das nervöse Agitato des Hauptthemas bei seiner überraschenden Wiederaufnahme in der Coda plötzlich als gutgelauntes Scherzando erscheint. Gerade dieser Kontrast bildet den Kern der Durchführung, die durch eine Reihe frappanter Modulationen eingeleitet wird. Höchst beeindruckend ist auch der dramatische Umgang mit dem traditionellen Orgelpunkt auf der Dominante vor der Reprise: zweimal versucht das Cello allein die Erstarrung zu durchbrechen und wird jedesmal mit einer herrischen Geste zurückgedrängt. Die Reprise ist gegenüber der Exposition tiefgreifend verändert, auffälligstes Detail ist eine auf den Beginn der Durchführung zurückgreifende harmonische Ausweitung, die das Kopfthema für wenige Augenblicke in Durbeleuchtung erscheinen läßt; der Schluß nimmt noch einmal das wirkungsvolle Szenario der Reprisenvorbereitung auf und entläßt uns in mit grimmigen Dissonanzen durchsetzten c-moll.

In größtem Kontrast zu diesem Satz steht das folgende Andante cantabile con Variazioni (Es-Dur). Rein äußerlich entspricht es einem bei Beethovens Vorgängern sehr beliebten Muster (Thema, fünf Variationen, Coda). Das Thema selbst ist von größter Schlichtheit; es besteht aus zwei Achttaktern, die zuerst jeweils vom Klavier alleine und dann unter Führung der Geige von allen drei Instrumenten vorgestellt werden. Da in den Klaviersoli die Baßlinie zunächst ausgespart bleibt, entsteht der Eindruck, als sei die erste Variation gewissermaßen schon im Thema selbst enthalten. In der Folge wechselt immer eine vom Klavier und eine von den Streichern dominierte Variation ab, so daß der ganze Satz von großer Klangfarbenausgewogenheit ist. Das sukzessive Fortschreiten zu immer kleineren Notenwerten (Variationen I-III) hat Beethoven bis hin zu den späten Klaviersonaten beibehalten und weiterentwickelt; die Technik erscheint aber schon hier mit großem Raffinement angewendet, da Beethoven – im Unterschied zu seinen Vorgängern – die Beschleunigung der Bewegungsart nicht mit den Anfängen der Variationen zusammen fallen läßt, sondern mit gleitenden Übergängen und Vorwegnahmen arbeitet. Das Hauptaugenmerk gilt jedoch der metrischen Interpretation des Themas – das Spiel mit abwechselnd betonten und fallengelassenen, vorgezogenen und verspäteten Auftakten ist nicht nur überaus kunstreich, es steht auch in einer sehr aparten Spannung zu der scheinbaren Simplizität des Themas. Erst die innige Minore-Variation (IV) rekapituliert die metrische Urgestalt des Themas, die dann in der letzten Variation (Un poco più Andante) von zierlicher Chromatik umspielt wird. Das Ende dieser Variation und die Coda sind vielleicht der berührendste Moment des Satzes: viermal mündet die Kadenz in einen Trugschluß, um schließlich den Weg zu einer wundervoll ausgekosteten Rückkehr in das heimatliche Es-Dur freizugeben. (Die allerletzten Takte dieser Coda hat Beethoven übrigens in seiner Bagatelle C-Dur op. 119 Nr. 2 zu einem eigenen kleinen Stück ausgeweitet.)

Wer gemeint hätte, daß Beethoven mit zwei so antithetischen Sätzen seine Möglichkeiten zu dramaturgischen Überraschungen erschöpft habe, wird in den folgenden beiden Sätzen eines Besseren belehrt: der dritte Satz erstaunt zunächst schon einmal durch seine Bezeichnung (Menuetto. Quasi allegro, c-moll). Die beiden Schwesterwerke bringen an dieser Stelle ein Scherzo – und der kulturgeschichtliche Hintersinn der Verdrängung des Menuetts durch das Scherzo wird ja gemeinhin als konstitutiv für die „nachrevolutionäre“ Musik angesehen. Warum finden wir also gerade in diesem Werk, das den Zeitgenossen so besonders revolutionär erschien, einen solchen Rückgriff? Nun, schon die relativierende Tempobezeichnung macht klar, daß der Rückgriff nur ein scheinbarer ist. Vom bärbeißigen Humor der Haydnschen oder der tänzerischen Eleganz der Mozartschen Menuette ist keine Spur mehr zu finden, die Stimmung ist unruhig, verunsichert, mit jähen Stimmungsbrüchen, die sich auch in der zerklüfteten Dynamik des Satzes widerspiegeln: jähe Fortissimoschläge durchzucken das verhaltene Piano, das zwischen nervöser Beklemmung und scheinbarem Frohsinn irisiert. Nur das Trio entläßt uns auf einige Takte in eine verspielte C-Dur-Rokokowelt – es tut dies aber mit soviel Witz, daß der ironische (oder bitter-wehmütige?) Unterton gar nicht zu überhören ist.

Der Beethoven-Liebhaber, der beim Erscheinen der Tonart c-moll sofort an die Pathétique und die V. Symphonie denkt, kann im letzten Satz (Finale. Prestissimo, c-moll) in Assoziationen schwelgen. Ein „typischerer“ Beethoven-Satz läßt sich auch wirklich schwer denken. Die Metamorphose, die das Ausgangsmaterial dieses Satzes durchgemacht hat – das Thema erscheint zuerst in einer Skizze zum Menuett des Bläseroktetts op. 103 (1792) – ist, wie so oft bei Beethoven, von unglaublicher Radikalität. Der zupackende Elan, die leidenschaftliche Unruhe und das hymnische Feuer – alle zentralen Topoi der Beethovenschen Musik sind in diesem Satz vereint. Die Sonatenhauptsatzform ist hier etwas regelmäßiger, doch um nichts weniger phantasievoll behandelt als im ersten Satz. Wirklich erschütternd ist die ausgedehnte Coda, die alle Finalerwartungen enttäuscht: das Thema wird seiner Motorik beraubt, stockt, fällt kraftlos um einen Halbton nach h-moll und mündet schließlich in den wie in tiefer Betäubung endlos wiederholten Vorhalt des-c. Das abschließende C-Dur ist fahl und erschöpft – von konventioneller Versöhnlichkeit findet sich auch nicht die leiseste Spur. Es gibt in der ganzen Musikliteratur nur ganz wenige Mollsätze, die auf so hoffnungslos tragische Weise in Dur schließen, und in den wenigen vergleichbaren Fällen scheint meist gerade dieser paradigmatische Satz Modell gestanden zu haben (so etwa im Finalsatz des dritten Klavierquartetts, op. 60, c-moll, von Johannes Brahms).

Wie hoch Beethoven selbst dieses Trio schätzte, läßt sich daran ersehen, daß er noch im August 1817 eine – übrigens nicht nur sehr gelungene, sondern auch für die Beantwortung einer ganzen Reihe textlicher Unklarheiten höchst hilfreiche –  Bearbeitung des Werkes für Streichquintett vornahm und diese zwei Jahre später als op. 104 veröffentlichen ließ.

© Claus-Christian Schuster

Beethoven – Trio op. 1 Nr. 2

Ludwig van Beethoven
* Bonn, 16.(?) Dezember 1770
† Wien, 26. März 1827

Trio Nr. 2, G-Dur, op. 1 Nr. 2
komponiert: Wien, etwa 1793
Widmung: Fürst Carl von Lichnowsky (1761-1814)

Uraufführung: Wien, bei Fürst Carl von Lichnowsky (Schauflergasse 6), vor dem 19. Jänner 1794 (wahrscheinlich Ende 1793)
Ludwig van Beethoven, Klavier
(?) Ignaz Schuppanzigh (1776-1830), Violine
(?) Anton Kraft (1749-1820), Violoncello

Erstausgabe: Artaria, Wien, Oktober 1795

Unter den drei Werken von Beethovens Opus 1 nimmt das G-Dur-Trio nicht nur formal die zentrale Stellung ein: Es ist das Herzstück des ganzen Zyklus. Das schlägt sich schon rein äußerlich darin nieder, daß es länger ist als seine beiden Schwesterwerke, und daß Beethoven hier das einzige Mal die epische Eröffnungsform der langsamen Einleitung wählt, zu der er in seinem ganzen Trioschaffen nicht mehr zurückkehren wird. Darüber hinaus aber spiegelt sich die Zentralstellung dieses Werkes auch in der dramaturgischen und stilistischen Gesamtanlage des Opus: wenn man in Nr. 1 (Es-Dur) die transzendierende Zusammenfassung der Erfahrungen Haydns und in Nr. 3 (c-moll) die Quintessenz der Charakteristika des frühen Beethoven sehen kann, so mutet einen das G-Dur-Trio wie ein träumerisches Spiel mit den Möglichkeiten der Zukunft an. Nicht zufällig gehören zu den Assoziationen, die sich beim Anhören dieses Werkes fast zwangsläufig einstellen, so weit auseinanderliegende Phänomene wie Schubert und Rossini – beides Komponisten, die zur Zeit der Niederschrift dieses Trios entweder noch nicht geboren waren oder gerade erst in den Windeln lagen, und deren Werk exemplarisch die ganze Amplitude der Musik des ersten Drittels des XIX. Jahrhunderts repräsentiert.

Wie sorgfältig geplant die Abfolge der drei Werke des Beethovenschen Opus 1 ist, erahnt man schon, wenn man die Schlußtakte des Es-Dur-Finales von op. 1 Nr. 1 etwas näher betrachtet: Man findet hier sehr willkürlich erscheinende, „antimetrische“ (und deshalb umso auffälligere) Sforzati auf den Noten G und D – also auf Tonika und Dominante des nachfolgenden Werkes. Sollte uns Beethoven hier auf eine Verbindung zwischen diesen beiden Werken aufmerksam machen? Wirklich stellt sich hier heraus, daß der Beginn des ersten Satzes (Adagio, G-Dur) von op. 1 Nr. 2 nichts anderes als eine Metamorphose des Incipits von op. 1 Nr. 1 ist (die ersten beiden Takte sind, transponiert und rhythmisch modifiziert, notenident mit der analogen Stelle des Es-Dur-Trios): Es ist eine Metamorphose ins traumhaft Spielerische, versonnen Graziöse. Wer nun, neugierig geworden, zu den letzten Seiten dieses Satzes vorblättert, findet als Eröffnung der Coda (Takte 398 bis 405) eine im Pianissimo bedeutungsvoll präsentierte Kadenz, die von G-Dur über Es-Dur nach c-moll führt, die Toniken der drei Trios also einander begegnen läßt. Purer Zufall? Wohl nicht. Kaum aber auch Ergebnis einer ausgeklügelten „strategischen“ Planung – sondern eher, und weit wunderbarer, der organische Niederschlag eines überragenden schöpferischen Instinktes, dessen Wirken auf die Einheit in der Vielfalt gerichtet ist. Diese ganz unangestrengt auftretende Fähigkeit, Zusammenhänge zu schaffen und zu wahren, manifestiert sich auch in der Beziehung zwischen Einleitung und Hauptteil: Der Themenkopf des folgenden Allegro vivace durchzieht die Introduktion ebenso wie dessen charakteristische Verzierungen, sodaß trotz des großen Stimmungs- und Tempokontrastes die Einheit zwischen den beiden Teilen niemals gefährdet ist. Der Hauptteil selbst ist ein sehr ausgedehntes und vielgliedriges Sonaten-Allegro, das die Sphäre des übermütig Neckischen und spielerisch Anmutigen ganz auskostet und fast nie verläßt. Es ist, als würde – mit einem Unterton romantischer Ironie – aller galanter Zauber des vorrevolutionären XVIII. Jahrhunderts noch ein letztes Mal zusammenfassend und beschließend aufgeboten.

Doch schon der zweite Satz (Largo con espressione, E-Dur) entführt uns in eine völlig andere Welt: Es ist sicher kein Zufall, daß Beethoven hier das einzige Mal in seinem Opus 1 das „klassische“ Muster der Tonartenbeziehungen in mehrsätzigen Werken aufgibt und eine fernliegende, „romantische“, „schubertische“ Tonart aufsucht. Wenn man weiß, wie bewußt Beethoven mit Tonartencharakteristik umgeht, und welche klangsinnliche Realität vor der Etablierung der „modernen“, gleichschwebenden Temperatur (deren erklärter Gegner Beethoven zeitlebens geblieben ist) mit dieser Charakteristik verbunden war, so wird man diesem Détail mehr Gewicht geben müssen, als es gemeinhin geschieht. (Und es ist Beethoven selbst, der uns in dieser Ahnung bestärkt: Im südländisch ausgelassenen Finale wird er uns, ganz zu Beginn der Durchführung, noch einmal auf dieses E-Dur-Terrain zurücklocken…) Jedenfalls ist dieses Largo auch in dem an Höhepunkten nicht eben armen Œuvre Beethovens eine Sternstunde: Was hier an Innigkeit, Tiefe und Sammlung erreicht ist, entzieht sich weit über das normale Maß hinaus der Be- und Umschreibung.

Das Scherzo (Allegro, G-Dur) gehört zu einem Satztypus, den der frühe Beethoven besonders liebte und um immer neue Varianten bereicherte: das Scherzo op. 1 Nr. 1 gehört ebenso hierher wie etwa das Scherzo der Klaviersonate C-Dur op. 2 Nr. 3. Gemeinsam ist all diesen Sätzen die Entwicklung aus einem prägnanten, einstimmigen Motto, das Anlaß und Ausgangspunkt für kontrapunktische

Kabinettstücke ist, wobei sich der gute, etwas bärbeißige Humor, der all diesen Sätzen eigen ist, oft in derben und eigensinnigen Akzentuierungen niederschlägt; die „Flächigkeit“ der Trios gehört ebenso zum Erscheinungsbild dieses Satztypus wie die in die Stille zurückführende, das Motto „rückentwickelnde“ Coda, die oft (so auch hier) mit einer Rücknahme des Tempos verbunden ist.

Das Finale (Presto, G-Dur) greift die ersterbenden Schlußakkorde dieser Coda mit mutwilligem Elan auf: Dieser Satz konnte mit seinem leutseligen Übermut und seiner ansteckenden Gutgelauntheit auch für den Buffo-Großmeister Rossini ein inspirierendes Vorbild sein, und es ist nicht zu überhören, daß der volkstümliche und absichtsvoll naive (aber nie primitive) Witz dieser Musik auch noch in manchen Geschwindmärschen der Strauß-Dynastie nachklingt. Wieviele solcher Sätze hätte Beethoven eigentlich schreiben müssen, um das monochrome Devotionalienbild des finster dahinschreitenden Titanen als verflachende Fiktion bloßzustellen?

© Claus-Christian Schuster

Beethoven – Trio op. 1 Nr. 1

Ludwig van Beethoven
* Bonn, 16.(?) Dezember 1770
† Wien, 26. März 1827

Trio Nr. 1, Es-Dur, op. 1 Nr. 1
komponiert: Wien, etwa 1793
Widmung: Fürst Carl von Lichnowsky (1761-1814)

Uraufführung: Wien, bei Fürst Carl von Lichnowsky (Schauflergasse 6), vor dem 19. Jänner 1794 (wahrscheinlich Ende 1793)
Ludwig van Beethoven, Klavier
(?) Ignaz Schuppanzigh (1776-1830), Violine
(?) Anton Kraft (1749-1820), Violoncello

Erstausgabe: Artaria, Wien, Oktober 1795

Das Trio, mit dem Beethovens „offizielles“, also von ihm selbst als vollgültig anerkanntes Œuvre beginnt, wurde zusammen mit seinen beiden Schwesterwerken unter dem Titel „Trois Trios Pour le Piano-Forte, Violon et Violoncelle“ im Oktober 1795 bei Artaria in Wien veröffentlicht. Die Subskriptionsliste dieser Ausgabe ist ein eindrucksvoller Beleg für die Wertschätzung, die Beethoven sich schon in den ersten Jahren seines Wiener Aufenthaltes, nicht zuletzt dank der tatkräftigen Unterstützung und Förderung des Widmungsträgers, erringen hatte können. Aufgrund der belegten, wenn auch nicht exakt datierbaren Uraufführung des ganzen Opus fast zwei ganze Jahre vor der Drucklegung muß die Möglichkeit in Erwägung gezogen werden, daß die Konzeption oder der Beginn der Komposition dieser Werke vielleicht teilweise auch noch in die Bonner Zeit fällt – der als Untermauerung für diese Mutmaßung in der Literatur verschiedentlich angeführte „Beweis“ (ein Bericht des englischen Textilfabrikanten und Musikliebhabers William Gardiner) ist allerdings völlig untauglich, da es sich bei dem dort erwähnten „Es-Dur-Trio“ ganz offensichtlich nicht um unser Werk, sondern um das Streichtrio op. 3 handeln muß. Auf jeden Fall darf man in Kenntnis von Beethovens Arbeitsweise annehmen, daß alle drei Werke in der relativ langen Zeit zwischen Uraufführung und Herausgabe noch einmal einer gründlichen Überarbeitung unterzogen wurden, so daß man für diese ersten Klaviertrios ebenso wie für alle folgenden Beethovenschen Werke dieses Genres ruhigen Gewissens Wien als Entstehungsort annehmen darf. Die genaue „Geburtsstätte“ unserer Trios wäre demnach Beethovens erstes Wiener Quartier, ein dem Fürsten Lichnowsky gehörendes Haus an der Stelle der heutigen Adresse Alserstraße 30 – und somit könnte man aus der Sicht eines Trioliebhabers den heutigen IX. Wiener Gemeindebezirk zur „Terra sancta“ erklären: denn wenige Jahre zuvor (1788) hatte Mozart in seinem nur wenige Gehminuten entfernten Domizil „Zu den drei Sternen“ (Währingerstraße 26) seine letzten drei Klaviertrios (KV 542, 548 und 564) zu Papier gebracht.

Der oft zitierte Bericht über die Uraufführung, den uns Beethovens Schüler Ferdinand Ries überliefert hat, enthält einige Züge, die der späteren Legenden- und Klischeebildung über die Beziehung Beethovens zu seinem zeitweiligen Lehrer Haydn überaus förderlich waren:

„… Die drei Trio’s von Beethoven sollten zum erstenmale der Kunst-Welt in einer Soirée beim Fürsten Lichnowsky vorgetragen werden. Die meisten Künstler und Liebhaber waren eingeladen, besonders Haydn, auf dessen Urtheil Alles gespannt war. Die Trio’s wurden gespielt und machten gleich außerordentliches Aufsehen. Auch Haydn sagte viel Schönes darüber, rieth aber Beethoven, das dritte in C moll nicht herauszugeben. Dieses fiel Beethoven sehr auf, indem er es für das Beste hielt… Daher machte dies Aeußerung Haydn’s auf Beethoven einen bösen Eindruck und ließ bei ihm die Idee zurück: Haydn sei neidisch, eifersüchtig und meine es mit ihm nicht gut…“

Wie wichtig dieser Vorfall zu nehmen ist, zeigt die Widmung von Beethovens drei Klaviersonaten Opus 2 an Haydn ebenso wie Haydns Brief an den Kölner Erzbischof und Kurfürsten Maximilian Franz, in dem es in der für Haydn so bezeichnenden (und mit der raffinierten Eleganz des Briefstils seiner Zeit eigenartig kontrastierenden) Schlichtheit heißt:

„…Kenner und Nichtkenner müssen aus gegenwärtigen Stücken unpartheyisch eingestehen, daß Beethoven mit der Zeit die Stelle eines der größten Tonkünstler in Europa vertreten werde, und ich werde stolz sein, mich seinen Meister nennen zu können, nur wünsche ich, daß er noch geraume Zeit bey mir bleiben möge…“

Das „außerordentliche Aufsehen“, das die Werke sogleich machten, ist durchaus verständlich. Es sind die ersten „nachrevolutionären“ Werke unseres Genres, und die Erweiterung der traditionellen Dreisätzigkeit zur symphonischen Viersätzigkeit bei gleichzeitiger Verdrängung des „höfischen“ Menuetts durch das angriffslustigere und pointiertere Scherzo (mit der charakteristischen und alles andere als spielerischen Ausnahme im dritten und letzten Werk der Reihe!) kann und muß auch im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen und politischen Krise der Französischen Revolution gesehen werden. Die Werke faszinieren nicht nur durch Prägnanz und organischen Reichtum ihres thematischen Materials, sondern auch durch eine bis dahin völlig ungekannte Effizienz in der Ausnützung und Erschließung der klanglichen Möglichkeiten des Instrumentariums. Hand in Hand damit geht eine bei Haydn und Mozart in diesem Ausmaß vergeblich zu suchende Konsequenz, mit der die Prämissen der Besetzung den formalen und syntaktischen Ablauf prägen: diese Trios zeigen auch nicht mehr den leisesten Anflug der „begleiteten“ oder „arrangierten“ Klaviersonate.

Gleich der erste Satz (Allegro, Es-Dur) unseres die Reihe emblematisch eröffnenden Werkes  ist ein Paradebeispiel dieser neuen Diktion. Gewiß, fast alle Elemente der Thematik und Gestik dieses Satzes lassen sich in der einen oder anderen Variante auch bei Beethovens großen Vorgängern nachweisen; doch die Stringenz, mit der die drei Instrumente in ein vielschichtiges konzertantes Gewebe verflochten werden, bezeichnet eine völlig neue Etappe in der Entwicklung des Genres. Die an sich schon vielgliedrige und großräumige Sonatenhauptsatzform gewinnt dadurch noch an Weite, daß die Durchführung die Themen weniger im traditionellen Sinne „verarbeitet“ als über sie meditiert, also nicht mit Fragmentierung und Beschleunigung, sondern eher mit koloristischer Harmonik und nachdenklicher Beharrlichkeit operiert – wobei, ganz im Gegensatz zur üblichen Durchführungsdramaturgie, die Reihenfolge der Elemente im wesentlichen nicht angetastet wird. Von diesem Vorgang ist nur das Seitenthema ganz ausgenommen, das dafür aber am Schluß der Reprise zum Ausgangspunkt einer ausgedehnten Coda wird, in deren Verlauf die Themen jetzt erstmals aus ihrem formalen Zusammenhang genommen werden und den Satz zu einem dramaturgisch höchst wirkungsvollen, frei-assoziativen Abschluß führen.

Der zweite Satz (Adagio cantabile, As-Dur) erschließt und durchmißt die ganze subdominantische Hemisphäre, auf die das Hauptthema des ersten Satzes so geistreich und ungestüm losging, mit einer zu diesem Impetus in denkbar größtem Kontrast stehenden Innigkeit und Schlichtheit. Mitte und Achse des – in freier Rondoform geschriebenen – Satzes ist eine ehrfurchtgebietende Wendung in ein numinos strahlendes C-Dur: Wen im „religiösen“ C-Dur Beethovens und Schuberts die erbaulichen Worte Klopstocks und Gellerts mehr irritieren als inspirieren, der kann sich hier einer archaischen, wortlosen Erschütterung hingeben ( – über die man folgerichtig auch nicht schreiben sollte).

Das Scherzo (Allegro assai, Es-Dur) bildet mit dem Finale (Presto, Es-Dur) eine gedankliche Einheit – nur selten werden wir Beethoven wieder bei so ungetrübt gutem Humor finden. Mutwille und Schabernack lachen uns aus jeder Wendung des musikalischen Geschehens entgegen. Das Scherzo führt uns gleich zu Beginn mit einem vorgetäuschten c-moll in die Irre, in der uns dann auch noch willkürlich versetzte Akzente weiter vom Weg abbringen. Das Trio (As-Dur) schwebt schwerelos wie ein Nebelgebilde vorüber, und die Coda des Scherzos scheint sich schließlich gar völlig ins Nichts zu verlieren, doch nur um unerwartet in den angeheiterten Dezimsprung des Finalthemas zu münden, der zum Ausgangspunkt für die drolligsten und launigsten Eskapaden wird: aller Studentenulk und alle Poesie, die uns bei E. T. A. Hoffmann und Eichendorff noch soviele schöne Stunden schenken werden, sind schon hier Musik geworden – auch die traumhafte Verzauberung (hier in Form einer wundervollen Verirrung nach E-Dur) fehlt nicht. Und wenn am Schluß, nach dem auch der letzte Studiosus gicksend im Dunkel verschwunden ist, in die unvermittelte Stille plötzlich die Schlußtakte im Fortissimo hereinbrechen, haben sie alle Siegesgewißheit, die ein Marsch der Davidsbündler gegen die Philister nur haben kann.

© Claus-Christian Schuster

Mendelssohn – Sextett op. posth. 110

Felix Mendelssohn

* Hamburg, 3. Februar 1809
† Leipzig, 4. November 1847

Sextett für Pianoforte, Violine, zwei Bratschen, Violoncello und Kontrabaß,
op. posth. 110 (MWV Q 16)

Allegro vivace
Adagio
Menuetto. Agitato
Allegro vivace – Agitato – Allegro con fuoco

komponiert: Berlin (Neue Promenade 7), ca. 18. April – 10. Mai 1824

Uraufführung: London, 16. März 1868, Saint James´s Hall
Monday Popular Concert No. 292

(Benefizkonzert für Arabella Goddard-Davison)

Arabella Goddard-Davison (1836-1922), Klavier
Joseph Joachim (1831-1907), Violine
Henry Gamble Blagrove (1811-1872), 1. Viola
John Baptiste Zerbini jun. (1839-1891), 2. Viola
Carlo Alfredo Piatti (1822-1901), Violoncello
John Reynolds (1826-1919), Kontrabaß

deutsche Erstaufführung: Frankfurt am Main, 12. Oktober 1868, Kleiner Saal des Saalbaus
Erste Quartett-Soirée

Martin Wallenstein (1843-1896), Klavier
Hugo Heermann (1844-1935), Violine
Ruppert Becker (1830-1887), 1. Viola
Ernst Welcker (1830-1905), 2. Viola
Valentin Müller (1830-1905), Violoncello
Ottomar Backhaus (1827-1893), Kontrabaß

Erstausgabe: Kistner, Leipzig / Novello, Ewer & Co., London (Mai 1868)

Ein Kind erobert sich die Musikgeschichte

An der langen Straße der abendländischen Musikgeschichte gibt es unzählige Wunder zu bestaunen – doch nur wenige sind so entwaffnend und beglückend wie die Erscheinung des Knaben Felix Mendelssohn. Zwar waren unter den großen Meistern, die den Gang dieser Geschichte prägten, nicht wenige, deren Frühreife Mit- und Nachwelt in Erstaunen versetzte, doch mit Mendelssohn gewinnt dieses rätselhafte Gottesgeschenk eine neue Dimension: nämlich die historische, oder, technischer ausgedrückt, die historistische.

Dieser Terminus bedarf allerdings einer näheren Bestimmung. Obwohl sich die moderne Wissenschaft dem von Ernst Haeckel und später auch von Rudolf Steiner vertretenen „biogenetischen“ bzw. „ontogenetischen Grundgesetz“ gegenüber sehr skeptisch verhält, läßt sich schwer bestreiten, daß es nicht wenige Phänomene gibt, die sich mit seiner Annahme recht plausibel erklären ließen. Dazu gehört auf dem Gebiete der Musik wohl auch jene an zahllosen Beispielen zu belegende Erscheinung, daß sich etliche Grundlinien des musikhistorischen Prozesses in der individuellen stilistischen Entwicklung angehender Komponisten nachgebildet finden: So wird man etwa in den ersten Gehversuchen vieler Komponisten, die ihren Weg in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts antraten, viel häufiger den Einfluß frühklassischer und klassischer als denjenigen der unmittelbar „zeitgenössischen“ romantischen und spätromantischen Modelle ausmachen können, und Analoges ließe sich bei vielen Komponisten vorangehender und nachfolgender Generationen feststellen. Insofern könnte und dürfte man also bei Jugendwerken ganz allgemein von einer „historistischen“ Komponente sprechen.

Bei Mendelssohn scheint dieser Aspekt jedoch eine viel weiterreichende, grundlegendere Bedeutung zu haben. Denn ganz abgesehen davon, daß die scheinbar mühelose Virtuosität, mit der sich das Kind Mendelssohn – sicherlich auch dank einer einzigartigen individuellen und kulturhistorischen Konstellation – barocke und klassische Vorbilder anverwandelt, schon als isoliertes Phänomen verblüfft, stehen wir hier allem Anschein nach vor dem ersten (und wohl brillantesten) Beispiel einer konsequent und klug betriebenen Fruchtbarmachung aller dem jungen Komponisten zugänglichen Stilschichten im Dienste der Ausprägung eines eigenen, unverwechselbaren und selbst wieder stilbildenden Individualidioms. Auf diesem Weg, dessen Verfolgung den Dirigenten Mendelssohn im Lauf seines kurzen Lebens nebenbei zu einem kompetenten Interpreten der Musik von Orlando di Lasso bis zu Richard Wagner machen wird, markiert das so selten gehörte Sextett einen überaus interessanten Punkt – und verdient schon allein deshalb mehr Aufmerksamkeit, als ihm gemeinhin geschenkt wird.

Berlin 1824: Neue Promenade 7

Am 3. Februar 1824, seinem 15. Geburtstag, wird Felix von seinem Kompositionslehrer Carl Friedrich Zelter anläßlich der ersten Probe zu Mendelssohns schon im vorangegangenen Herbst beendetem viertem Singspiel „Die beiden Neffen oder Der Onkel aus Boston“ (MWV L 4) nach altem Handwerksbrauch – vergessen wir nicht, daß Zelter gelernter Maurermeister war! – als Geselle der Tonkunst losgesprochen, und zwar „im Namen Mozart´s, im Namen Haydn´s und im Namen des alten Bach“ (womit der eben berührte „historistische“ Aspekt, unter dem eher für Zelter als für Mendelssohn bezeichnenden Ausschluß Beethovens, auch aktenkundig wäre).

Vier Tage später wird das Singspiel in der Stadtresidenz von Felix´ verwitweter Großmutter Bella Salomon (Neue Promenade 7), wo die Mendelssohns seit 1820 Quartier genommen haben, uraufgeführt. Genau eine Woche danach, am 14. Februar, beendet Felix eine Sonate für Bratsche und Klavier (c-moll, MWV Q 14), ein überaus ambitioniertes und originelles Werk, das er schon am 23. November 1823 in Angriff genommen hat – das aber erst 1966 gedruckt werden wird. Kurz darauf beginnt er die Arbeit an einer neuen Symphonie in der selben Tonart, bei der er den dem zweiten Satz der Bratschensonate zugrundeliegenden Einfall zum Ausgangspunkt für ein ganz neues Stück macht – beide Sätze überschreibt er traditionsbewußt mit „Menuetto“. Die Symphonie wird schon im darauffolgenden Jahr als „Première Symphonie op. 11“ (MWV N 13) gedruckt werden; die schon in den Vorjahren entstandenen zwölf Streichersymphonien (MWV N 1-12) zählt Mendelssohn also erst gar nicht mit. Ein inniges und schlichtes Salve regina für Mezzosopran und Streicher (MWV C 2, Es-Dur) ist mit dem 9. April 1824 datiert, genau einen Monat nach dem Tod der Großmutter, die – als Schülerin Kirnbergers und somit Enkelschülerin Bachs – auf Mendelssohns musikalisches Weltbild einen nicht unbedeutenden Einfluß gehabt hat. Die nächste Komposition, von deren Abschluß wir hören, ist eine dreisätzige Sonate für Klarinette und Klavier (MWV Q 15, Es-Dur), deren Autograph am Ende das Datum 17. April trägt; dieses Werk war dem als Musiker dilettierenden Dresdener Bankier Carl Kaskel (1797-1874), einem Freund der Familie, zugedacht – gedruckt wurde es 1941 in verstümmelter Form und erst 1987 vollständig. Wie man sieht, hat Mendelssohn sich in diesem Frühling ganz systematisch mit dem kammermusikalischen Zusammenklang zwischen Klavier und Altregister beschäftigt; seine Entscheidung für die beiden Bratschen in unserem Sextett kommt also sicher nicht von ungefähr. Um sich ein rechtes Bild vom Arbeitspensum des Jungen zu machen, lese man etwa den parallel zur Niederschrift all dieser Werke geführten umfangreichen Briefwechsel mit Friedrich Voigts, dem Librettisten von Mendelssohns Oper Die Hochzeit des Camacho (op. 10), an der offenbar zur selben Zeit auch schon intensiv gearbeitet wurde.

Unmittelbar nach Vollendung der Klarinettensonate muß Mendelssohn aber mit der Niederschrift seines Klaviersextetts begonnen haben, denn der ausgedehnte erste Satz unseres Werkes ist schon am 28. April fertig; zwei Tage später ist auch das Adagio abgeschlossen, und am 10. Mai 1824 kann Mendelssohn den Schlußstrich unter das viersätzige Opus – und drei außergewöhnlich ertragreiche Schaffensmonate seines jungen Lebens ziehen.

Paris: Das Sextett macht seine erste Reise – lautlos?

Zwar liegen uns keine Berichte über eine häusliche Aufführung des unkonventionell besetzten Werkes vor, aber man darf mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß eine solche wohl noch im großelterlichen Haus an der Neuen Promenade stattgefunden hat. Jedenfalls nahm Felix, als er im März 1825 mit seinem Vater zu einer Paris-Reise aufbrach, das Sextett mit, was wohl darauf hindeutet, daß er dessen Wirkung – und vielleicht nicht erst einmal – schon erprobt hatte. Schwester Fanny, seine engste Vertraute, fragt denn auch in einem ihrer launigen Briefe nach Paris am 30. April:

Ehe ich es wieder vergesse, will ich Dir nur gleich eine Frage thun, die mir schon lange auf dem Herzen lag, die ich aber immer vergaß, wenn ich die Feder in die Hand nahm, nämlich warum Du auf all den matinées, dîners, soupers, u. was sonst noch für ers sind, noch gar nicht Dein Sextett gespielt hast? Giebt es in Paris in jener Gesellschaft nur Einen, der Bratschenschlüssel liest?

(Der spöttische Schlußsatz bezieht sich darauf, daß Felix sich in seinen Pariser Briefen immer wieder herb enttäuscht von den Fähigkeiten und Kenntnissen der dortigen Musiker gezeigt hatte.) Leider bleibt Felix seiner Schwester die Antwort auf diese Frage schuldig, und auch sonst finden sich in der bekannten Mendelssohn-Korrespondenz keine weiteren relevanten Hinweise auf das Schicksal des Werkes. Auffällig ist nur, daß, soweit ich feststellen konnte, niemand vor Mendelssohn für diese spezifische Besetzung komponiert hat, die beiden anderen auffindbaren Kompositionen für exakt dieses Ensemble aber gerade während Mendelssohns Lebenszeit und ausgerechnet in Paris entstanden: Beide Sextette (e-moll, op. 114, erschienen 1839 / Es-Dur, op. 124, erschienen 1841) stammen aus der höchst produktiven Feder des heute fast nur noch als Verfasser klavierpädagogischen Repertoires bekannten Henri Bertini (1798-1876), der außer diesen beiden Werken zwischen 1821 und 1848 noch vier weitere Klaviersextette (jeweils mit zwei Geigen, Bratsche und Kontrabaß) geschrieben hat und daher durchaus den Titel eines „Klaviersextett-Champions“ beanspruchen dürfte. Könnte es wohl sein, daß er 1825 in Paris doch noch Gelegenheit hatte, das Werk seines jungen Konkurrenten zu hören, und er an der extravaganten Instrumentation so großen Gefallen gefunden hätte, daß er sie ebenfalls zu erproben beschloß?

Die strenge Musikwissenschaft – und kritische Kindereien

Jenseits dieser – ja nur rein hypothetischen – Nachwirkung war unserem Sextett aber nur ein sehr dürftiger Widerhall beschieden. Über das recht geteilte kritische Echo der späten Uraufführung und Drucklegung des Werkes wird gleich noch zu berichten sein; doch auch die „professionelle“ Mendelssohn-Literatur wußte dem Sextett kaum etwas abzugewinnen. So beklagte zum Beispiel der etwas eigenmächtige (und mitunter auch zu tendenziösen Textverfälschungen neigende) Wiener Mendelssohn-Forscher Eric(h) Werner (1901-1988), dessen lange als Standardwerk geltende Mendelssohn-Biographie erst 1980 auf deutsch erscheinen konnte, 1955 im Nebensatz einer Kritik (Music & Letters, S. 126), daß bedeutende Jugendwerke Mendelssohns ungedruckt blieben, „whereas feeble experiments like the boyish Sextet, Op. 116, were printed“.

Nicht nur wegen der falschen Opuszahl liegt der Verdacht nahe, daß diesem vernichtenden Urteil keine tiefergehende Beschäftigung mit dem Werk zugrunde liegt; Werner schließt sich hier vielmehr ganz widerspruchslos dem Verdikt der meisten Kritiker des XIX. Jahrhunderts an. Denn als das Werk knapp 44 Jahre nach seiner Vollendung endlich seine Uraufführung und kurz danach auch seine Drucklegung erleben durfte, mochte es den Hörern bloß als Nachzügler einer längst überwundenen Stilepoche und bestenfalls als ein mit Pietät zu behandelndes Lebenszeugnis des Komponisten erscheinen. Als Rechtfertigung für das allgemeine Desinteresse, dem Mendelssohns zu seinen Lebzeiten ungedruckt gebliebene Werke oft begegnen, wird gerne ins Treffen geführt, der Komponist habe durch seine Entscheidung, die Stücke nicht zu veröffentlichen, schon selbst ein abwertendes Urteil gesprochen. Das ist gewiß ein vereinfachender Trugschluß und gilt jedenfalls ganz sicher nicht für die Werke aus Mendelssohns erster Schaffensperiode.

London 1868: Das Sextett bricht sein Schweigen

1868 war dann also endlich die Stunde des Sextetts gekommen: Das für einen schöngeistigen Berliner Salon der Restaurationszeit geschriebene Werk sollte sich, fast ein halbes Jahrhundert nach seiner Entstehung, am internationalen Konzertmarkt der Gründerzeit in ihrer turbulentesten Phase bewähren. Inszenierung und Ausgang dieses Experiments demonstrieren überdeutlich die charakteristischen Unterschiede zwischen dem britischen und dem kontinentaleuropäischen Konzertleben jener Zeit, und es sei daher gestattet, etwas näher auf die Londoner Uraufführung und die deutsche Erstaufführung in Frankfurt am Main einzugehen.

St James´s Hall, Piccadilly Entrance, am Tag der Eröffnung (25. März 1858)

St James´s Hall, Piccadilly Entrance, am Tag der Eröffnung (25. März 1858)

In London wollten die in Konkurrenz zu John Ellas Musical Union (1845-1881) von einem umtriebigen Verlagsconsortium gegründeten Monday Popular Concerts (1859-1898), die schon auf dem besten Wege waren, dem älteren und „nobleren“ Verein den Rang abzulaufen, die Novität unbedingt noch vor dem Erscheinen des Drucks herausbringen – und sie boten dafür, wie es der Verdrängungswettbewerb verlangte, eine internationale Starbesetzung auf: Neben Arabella Goddard, die fast genau zehn Jahre davor schon an der feierlichen Eröffnung der luxuriösen St James´s Hall mitgewirkt hatte, saßen im 292. Konzert der Serie am 16. März 1868 Joseph Joachim und Alfredo Piatti auf dem Podium, und mit Henry Blagrove, einem Urgestein der Londoner Kammermusikszene, sowie Zerbini und Reynolds assistierten ihnen bewährte lokale Musiker. Die Zugkraft der populären Pianistin – die nebenbei mit einem der einflußreichsten Musikkritiker des Landes (und John Ellas erbittertstem Kontrahenten), James William Davison, verheiratet war – nützte man doppelt, indem man ihr in diesem Konzert (das zu ihren Gunsten gegeben wurde) auch gleich die Erstaufführung von Mendelssohns gerade erst im Druck erschienener Klaviersonate in B-Dur (MWV U 64, 1827) anvertraute, der die geschickten Nachlaßverwalter gewiß nicht zufällig die ominöse posthume Opusnummer 106 verpaßt hatten.

Arabella Goddard (1836-1922), in Frankreich geborene und gestorbene Lieblingspianistin des Londoner Publikums, verheiratet mit dem einflußreichen Kritiker J. W. Davison (1813-1885). Sie hob 1868 Mendelssohns Sextett aus der Taufe. 1880 zog sie sich ins Privatleben zurück. Stich von Daniel J. Pound (fl. 1842-1877) nach einer Daguerrotypie des Starphotographen J. J. E. Mayall (i. e. Jabez Meal, 1813-1901), 1859.

Arabella Goddard (1836-1922), in Frankreich geborene und gestorbene Lieblingspianistin des Londoner Publikums, verheiratet mit dem einflußreichen Kritiker J. W. Davison (1813-1885). Sie hob 1868 Mendelssohns Sextett aus der Taufe. 1880 zog sie sich ins Privatleben zurück.
Stich von Daniel J. Pound (fl. 1842-1877) nach einer Daguerrotypie des Starphotographen J. J. E. Mayall (i. e. Jabez Meal, 1813-1901), 1859.

Kein Wunder, daß die vertrauten Meisterwerke, mit denen die beiden verspäteten Mendelssohnschen Novitäten umrahmt wurden – Beethovens Streichquintett op. 29 und Mozarts A-Dur-Sonate KV 526 – in den Kritiken (die Davisons Handschrift nicht verleugnen) nur ganz am Rande figurierten. Über unser Sextett konnte man etwa in den Musical Times vom 1. April 1868 lesen:

The whole of this Sestet is distributed for the instruments most effectively. The first movement contains some excellent pianoforte passages, which were rendered by Madame Goddard with the utmost ease; and the adagio is a well sustained, but not largely developed movement, forming a good contrast with the brilliant opening of the work. After a minuet and trio, the allegro vivace, which completes the Sestet, bursts forth with that energy and power for which Mendelssohn´s last movements are so remarkable: as if the composer could no longer endure the restraint to which his impetuous nature had been so long subjected.

Im Morning Standard and Herald (23. März) wird sogar eine dramaturgische Finesse des Werkes erwähnt – bemerkenswertes Zeugnis einer inzwischen (leider auch bei „professionellen“ Kritikern) sehr selten gewordenen Kultur des Zuhörens:

The sextet […] has a scherzo, which makes its reappearance unexpectedly and with singular effect near the end of the finale, a movement of unflagging power and brilliancy.

Ähnlich positiv war das Echo in den anderen acht nachgewiesenen Besprechungen des Konzertes, das auch finanziell ein voller Erfolg war: die rund 2000 Zuhörer fassende St James´s Hall war restlos ausverkauft. Beide Novitäten wurden fast einhellig als Meisterwerke eingestuft, und man erwartete, sie sehr bald wieder zu hören.

Kein Fest am Main…

Grundlegend anders wurde das Werk im Heimatland des Komponisten aufgenommen, wo es noch im Herbst des selben Jahres in Frankfurt am Main – einer ausgesprochenen Mendelssohn-Stadt – endlich seine deutsche Erstaufführung erleben durfte. (Jedenfalls konnten frühere öffentliche Aufführungen im deutschen Sprachraum bisher nicht nachgewiesen werden.) Vielleicht noch mehr als der banale Umstand, daß die Goethestadt damals nicht mehr als 80.000 Einwohner zählte, während sich an der Themse (je nach Definition des Stadtgebietes) schon zwischen 3 und 4 Millionen Menschen zusammendrängten, wirkte sich die vollkommene Abwesenheit alles dessen, was man heute „professionelle Infrastruktur“ nennnen würde, auf das Echo der Premiere aus: Die vier Musiker des damals noch ganz jungen Frankfurter Streichquartetts („Heermann-Quartett“ oder „Museumsquartett“) hatten das

Hugo Heermann (1844-1935), der Initiator der deutschen Erstaufführung des Sextetts. Undatierte Portraitphotographie aus dem Studio von Arthur Marx, mit Notenzitat (Incipit der Solostimme von Beethovens Violinkonzert) und verblaßter Widmung an den amerikanischen Geiger Henry C. Heyman (1855-1924).

Hugo Heermann (1844-1935), der Initiator der deutschen Erstaufführung des Sextetts. Undatierte Portraitphotographie aus dem Studio von Arthur Marx, mit Notenzitat (Incipit der Solostimme von Beethovens Violinkonzert) und verblaßter Widmung an den amerikanischen Geiger Henry C. Heyman (1855-1924).

Werk aus purer Neugierde als Mittelstück auf das Programm ihrer ersten Quartett-Soirée der Saison 1868/69 gesetzt und die nötigen Mitstreiter auf dem lokalen Musikmarkt rekrutiert. Es gab vor Ort weder einen tatkräftigen Impresario noch auch ein Netzwerk von Kulturjournalisten, die dem Ereignis Aufmerksamkeit verschaffen hätten können – alles lag in den Händen der Ausführenden, die von der lokalen Presse nur halbherzig unterstützt wurden. Schon gar nicht zu denken war an analytische Programmhefte, wie sie John Ella in London eingeführt hatte, und wie sie natürlich auch in den Popular Concerts gebräuchlich waren. Während also in London alle interessierten Zuhörer und selbstverständlich alle Journalisten wußten, daß es sich bei unserem Sextett um das Werk eines Fünfzehnjährigen handelt, kann der Referent der Neuen Berliner Musikzeitung (4.11.1868, S. 361, also ausgerechnet an Mendelssohns 21. Todestag) nur vage vermuten, „das Werk scheint trotz der hohen Opuszahl eine Jugendarbeit des Meisters zu sein“. Das überregionale Echo des Konzertes hing allein von jenen zwei, drei nebenberuflichen Korrespondenten ab, die den etablierten Musikzeitschriften in Leipzig und Berlin allmonatlich ihre summarischen Berichte einschickten. Waren die Londoner Elogen deutlich von kommerziellen Interessen mitbestimmt, so konnte man hier die kritischen Resultate von Ignoranz und Oberflächlichkeit studieren.

Den Lorbeer in diesem billigen Wettbewerb des raschen und uninformierten Urteils errang ohne Zweifel der Rezensent der „schöngeistigen“ Beilage des altehrwürdigen „Frankfurter Journals“ mit dem vielversprechenden Titel „Didaskalia. Blätter für Geist, Gemüth und Publizität“ (Jahrgang 46, No. 287, 15.10.1868, S. 3-4). Nach einer reichlich barocken Einleitung, die mit kosmischen und planetarischen Parallelen nicht geizt, und in der unser Criticus zu der verblüffenden und unerhörten Einsicht gelangt, daß Haydn, Mozart und Beethoven die wahren Heroen der Quartett-Literatur seien, zieht er das Flammenschwert der Verdammnis und schwingt es furchterregend über dem „Schulhefte“ unseres fünfzehnjährigen Komponisten, als dessen wahrer Freund und Beschützer sich der empörte Schreiber gleichzeitig geriert:

 […] Dieser Ansicht entsprechend hätten wir, und mit uns gewiß viele andere Kunstkenner und Verehrer, es der Aufgabe eines ersten Abends zusagender gefunden, wenn zwischen dem Haydn´schen und dem am Schlusse vorgeführten Beethoven´schen (Op. 59, Nr. 3 in C-dur) ein Quartett von Mozart gewählt und somit nicht die Reinheit und folgerichtige Steigerung des Genusses in eben so unliebsamer Weise gestört worden wäre, wie dieß durch die Wahl des Sextettes für Pianoforte, Violine, zwei Bratschen, Violoncell und Contrabaß aus dem Nachlasse Mendelssohn´s geschehen ist.

Was in aller Welt mag denn zu solcher Wahl bestimmt haben? Doch nicht etwa der Werth des Werkes, dessen es beinahe vollständig entbehrt? Vielleicht der Wunsch, gleich am ersten Abende Neues zu bringen? Oder gar nur der Name des Componisten? Da hat man demselben einen schlechten Dienst erwiesen und sich gewissermaßen zu Mitschuldigen an der schnöden Speculation eines Verlegers oder dem blinden Verehrungsfanatismus überlegungsloser Freunde eines edlen Verstorbenen gemacht, die es nicht verschmähen, selbst dessen Schulhefte dem Drucke zu übergeben. Mendelssohn, der so freisinnig und wählerisch in der Veröffentlichung seiner geistigen Erzeugnisse war, würde tief erröthet, ja er, der sonst so Maßvolle, in heftigen Zorn gerathen sein, wenn ein solches Ansinnen während seines Lebens an ihn gestellt worden wäre. Ihm, den wir persönlich gekannt haben und ihn noch heute in der Mehrzahl seiner vortrefflichen, vor und kurz nach dem Tode erschienenen Werke hochschätzen, zur Ehre und Sühne glaubten wir unsere Mißbilligung über derartiges Verfahren Ausdruck geben zu müssen. Eine ähnliche Regung mag wohl auch nach und nach in den Zuhörern entstanden sein: denn nachdem sie den ersten Satz mit seinem reichen, aber altmodischen Passagenwerke in der Clavierpartie sehr beifällig aufgenommen hatten, erkaltete die Theilnahme von Satz zu Satz und am Ende dürfte wohl nur die Achtung vor dem Namen des Componisten die schweigende Mehrzahl abgehalten haben, einige wenige Klatschlustige vernehmlich zur Ruhe zu verweisen.

Offenbar mißbilligt der gestrenge Rezensent die Toleranz der „schweigenden Mehrheit“ gegenüber den „wenigen Klatschlustigen“, und es schwebt ihm das Idelabild einer Diktatur der in ihrem Urteil unfehlbaren Mehrheit vor.

Weniger totalitär, aber kaum verständnisvoller, meldet sich der Berichterstatter der ehrwürdigen, einst von Schumann gegründeten Neuen Zeitschrift für Musik (6.11.1868, S. 396) zu Wort:

„Wir finden in diesem Sextette viele Gemeinplätze; besonders viel Triviales in den Passagen, während die Mendelssohn eigenthümliche Weise dagegen fast gar nicht zum Durchbruch kommt. Trotzdem ist das Werk ein dankbares Clavierstück und vom negativen Standpuncte beurtheilt, interessant genug, um es wenigstens kennen zu lernen.“

Der Rezensent von Bartholf Senffs Signalen für die musikalische Welt (22.10.1868, S. 922) hatte zwar die Novität schon zwei Wochen zuvor mit kargem Wohlwollen kommentiert, kam aber verblüffender Weise zu dem wörtlich selben Resumée:

„… ist das Werk auch gerade nicht bedeutend zu nennen, so enthält es doch viel des Schönen und ist jedenfalls ein sehr dankbares Clavierstück…“

Die Schriftgelehrten lauschen dem fünfzehnjährigen Knaben im Konzertsaal

Es soll nun durchaus nicht bestritten werden, daß der Klavierpart des Sextetts dominant und konzertant ist – aber das Werk deshalb einfach ein „Clavierstück“ zu nennen, zeugt doch von recht oberflächlichem Hinhören. Freilich darf man bei der Betrachtung von Kompositionen dieses Genres seine historische Entwicklung und den Zeitpunkt der Entstehung nicht außer Acht lassen, was bei einem so großen zeitlichen Abstand zwischen Niederschrift und Veröffentlichung immer einige Schwierigkeiten bereitet. Um einigermaßen gerecht zu urteilen, müßte man also ein unmittelbar vergleichbares Werk heranziehen – und dazu böte sich in unserem Falle etwa ein Jugendwerk Schuberts an: Drei Jahre, bevor Mendelssohns Sextett der Öffentlichkeit vorgelegt wurde, hatte der Wiener Verleger Adolph Othmar Witzendorf dessen Adagio et Rondo concertant (F-Dur, D 487) herausgegeben, das der 19jährige Komponist 1816 dem klavierspielenden Bruder seiner angebeteten Sängerin Therese Grob gewidmet hatte. In diesem überaus sympathischen Werk, in dem es jede Menge hübscher Einfälle gibt, ist das begleitende Streichtrio – ähnlich wie das Orchester bei den damals beliebten „brillanten“ Klavierkonzerten – wirklich über weite Strecken nur Zuhörer und devoter Kommentator, eine Konstellation, die uns bei dem um vier Jahre jüngeren Mendelssohn nur in einigen wenigen Passagen des Finales begegnet. Global kann man Mendelssohns Sextett also den Vorwurf, nichts als ein „Clavierstück“ zu sein, jedenfalls durchaus nicht machen: Schon vom ersten Takt des eröffnenden Allegro vivace (D-Dur, C) an stellt der junge Komponist das bewußt dunkel gefärbte Streichquintett autonom dem (auf den damaligen Instrumenten noch weit helleren und transparenteren) Klavierklang gegenüber und läßt es am thematischen Prozeß teilhaben. Daß das Hauptthema dieses Sonatensatzes ausgerechnet mit dem – einen Halbton unter dem Tonumfang der Geige liegenden – fis beginnt, und die Geige daher der Bratsche das erste Wort überlassen muß, stimmt den Hörer von allem Anfang an auf einen kammermusikalischen Diskurs ein. Obwohl im ganzen ausgedehnten Satz idiomatische Bezugspunkte – Mozarts Klavierkonzerte, Hummels Kammermusik etc. – leicht auszumachen sind, durchzieht ihn doch ein sehr eigener, jugendlich-gesangsseliger Ton, und an mehreren Stellen kann man schon ganz deutlich die „Vorausschatten“ künftiger Werke des heranreifenden Meisters erahnen. Ein sehr bezeichnendes Détail ist die glückliche Einfügung prägnanter und cantabler Überleitungsthemen an den strukturellen Nahtstellen des Satzes (vor dem Seitenthema und am Ende der Schlußgruppe der Exposition), und natürlich verzichtet Mendelssohn auch in der Reprise, die den Verlauf der Exposition mit nur minimalen Verkürzungen nachzeichnet, auf diese thematischen Glanzlichter nicht, so daß der Zuhörer – anders als bei vielen „brillanten“ Konzertstücken der Zeit – nicht Gefahr läuft, in inhaltsleerem Passagenwerk zu ertrinken, sondern alle vier thematischen Einfälle (Haupt-, Seiten- und die beiden Überleitungsthemen) jeweils dreimal zu hören bekommt (vorausgesetzt freilich, die Interpreten halten das Werk nicht für so feeble und boyish, daß sie uns die Wiederholung der Exposition unterschlagen). Warum Mendelssohn am Ende eines so regelkonformen Sonatensatzes eine überraschend ausgedehnte Coda (33 Takte) anfügt, bleibt uns zunächst vielleicht unverständlich, sollte aber unbedingt im Gedächtnis behalten werden. Überflüssig zu sagen, aber mit Blick auf das Alter des Komponisten doch staunend und bewundernd zu vermerken, bliebe noch, daß die Partitur dieses Satzes fast überall sehr deutliche Spuren bewußter und konsequenter motivischer Arbeit zeigt.

Auch die Eröffnung des langsamen Satzes (Adagio, Fis-Dur, 3/4), einer ebenso innigen wie schlichten Meditation in zweiteiliger Liedform, liegt in den Händen des Streichquintetts. Daß Mendelssohn für den zweiten Satz ausgerechnet die Durmediante der Grundtonart wählt, wurde schon von einigen aufmerksamen Kritikern der öffentlichen Uraufführung erstaunt vermerkt – und tatsächlich ist diese Wahl durchaus nicht alltäglich: das wohl mit Abstand berühmteste Beispiel für eine solche Entscheidung wird Schubert in seinem viereinhalb Jahre nach unserem Sextett entstandenen C-Dur-Streichquintett (D 956) liefern.

(Nur ganz am Rande sei zusätzlich vermerkt, daß auch der 15jährige Beethoven in einem D-Dur-Werk an zweiter Stelle einen Satz auf der Tonika fis folgen läßt: in seinem Klavierquartett WoO 36 Nr. 2 von 1785 handelt es sich dabei aber um die weit weniger „extravagante“ Mollmediante fis-moll.)

Mendelssohn-Kennern wird es nicht entgehen, daß das Kopfthema eine weitere Metamorphose jenes Grundthemas ist, das der Komponist in den Wochen vor der Entstehung unseres Sextetts schon zweimal an analoger Stelle eingesetzt hat: nämlich im Es-Dur-Andante der Symphonie op. 11 (c-moll, Februar-April 1824) und im Salve regina (Es-Dur, MWV C 2, April 1824). Die Ähnlichkeiten zwischen diesen drei Formulierungen sind so frappant, daß sie auch im größten Schaffensrausch dem jugendlichen Genie wohl schwerlich nur einfach „unterlaufen“ sein können. Wenn man sich auf die Suche nach einem möglichen „Urbild“ dieser thematischen Gestalt macht, wird einem sehr bald das Kirchenlied „Fest soll mein Taufbund immer stehn“ begegnen. Der (heute meist von seinen dogmatischen Härten befreite) Text dieses Liedes begegnet uns zuerst in den „Gesängen beym Römischkatholischen Gottesdienste“, die Christoph Bernhard Verspoell (1743-1818) 1810 in Münster (Westfalen) drucken ließ. Es ist durchaus denkbar, daß Felix, dessen Familie ja gleich nach der Flucht aus Hamburg vom Sommer 1811 bis 1820 Zuflucht im Haus des evangelischen Pastors Johann Jakob Stegemann (Markgrafenstraße 48) gefunden hatte, dort der auch heute noch über Konfessionsgrenzen hinweg bekannten Melodie dieses Taufliedes begegnet sein mag – immerhin war es ja auch Pastor Stegemann, der Felix und seine Geschwister am 21. März 1816 taufte. Jedenfalls dürfen wir an dieser Stelle noch einmal daran erinnern, daß Mendelssohn ab 1822 an den Beginn fast aller seiner Erstschriften das Kürzel „L.e.g.G.“ (Laß es gelingen, Gott!), später auch, noch knapper, „H.D.m.“ (Hilf Du mir!) setzt; und mit diesem (uns in rührender Weise an Haydn erinnernden) Stoßgebet „L.e.g.G.“ beginnt auch das rätselhaft fehlerlose Autograph unseres Sextetts: die nachträglichen Verbesserungen sind an einer Hand abzuzählen, und gestrichene Takte gibt es überhaupt keine – eine wahre Rarität bei dem schon in jüngsten Jahren überaus selbstkritischen und perfektionistischen Komponisten.

Auch jenen Hörern, die an den eben erwähnten Besonderheiten des zweiten Satzes achtlos vorübergegangen sein mögen, wird auffallen, daß dieses Adagio im Vergleich zum Eröffnungssatz erstaunlich knapp, ja geradezu aphoristisch wirkt. Noch einen Schritt weiter geht Mendelssohn aber mit dem folgenden Menuetto (Agitato, d-moll/F-Dur, 6/8): Mit seinen 78 Takten unterschreitet dieser Satz sogar schon an äußerlicher Ausdehnung das Adagio, und der lakonische Eindruck wird noch dadurch unterstrichen, daß Mendelssohn – entgegen dem lang erprobten und gut bewährten Herkommen – auf die (traditioneller Weise durch Wiederholungszeichen markierte) Zweiteilung der beiden obligaten Satzteile, Menuett und Trio, verzichtet. Der skizzenhafte Charakter des Stückes wird durch den (für ein Menuett äußerst atypischen) Sechsachteltakt sowie im Hauptteil noch zusätzlich durch die synkopisch jeweils auf das zweite und fünfte Achtel atemlos nachschlagenden Baßnoten bekräftigt. Diese „stiefmütterliche“ Behandlung eines Sazttyps, in dem Mendelssohn sonst mit besonderer Vorliebe den ganzen feenhaften Charme seines Genies beweist, mag zunächst erstaunen, ja sogar befremden – doch die Lösung des Rätsels steht unmittelbar bevor.

Mendelssohn hat sie für das ausgedehnte Finale (Allegro vivace – Agitato – Allegro con fuoco, D-Dur/d-moll, C – 6/8 – C) aufgespart, es aber so eingerichtet, daß man diesem Satz seine Schlüsselrolle zunächst gar nicht ansieht. Ganz im Gegenteil könnte man über weite Strecken den Eindruck haben, es handle sich hier einfach um den vertraut-versöhnlichen Kehraus, mit dem alle früher etwa aufgeworfenen Fragen nonchalant beiseite gekehrt werden sollen. Diesem Eindruck entspricht auch die hier weit stärker als in den vorangegangenen Sätzen hervortretende Dominanz des Klaviers. So ruht schon das übermütig und spöttelnd dahinplappernde Hauptthema ganz in den Händen des Pianisten. Freilich aber darf sich das Streichquintett dann im Seitenthema, das mit einigen ganz unerwarteten kontrapunktischen Gelehrsamkeiten aufwartet, kurz zu Wort melden, bevor das Klavier die Exposition mit brillant-leichtsinnigem Passagenwerk weiterführt.

Doch warum zügelt Mendelssohn knapp vor deren Ende den affirmativen Fortissimo-Jubel in ein geheimnisvolles Pianissimo, in das Geige und Violoncello bedeutungsvoll die Vergrößerung jener unscheinbaren chromatischen Kadenzgeste werfen, mit der das Trio des Menuetts geendet hat? Nun, die nachdenkliche Trübung dauert nur wenige Takte, und schon finden wir uns in der Wiederholung der wortreichen und lebenslustigen Exposition wieder – bereit, den flüchtigen Moment des Zweifels für eine Fata morgana zu halten. (Der Satz bietet, nebenbei gesagt, ein unscheinbares Musterbeispiel dafür, wie gefährlich es sein kann, vom Komponisten vorgesehen Wiederholungen zu mißachten: Die Wirkung jenes dramaturgischen Kniffs, von dem gleich die Rede sein wird, setzt Texttreue der Interpreten und Langmut der Hörer voraus!)

Daß dann in der sehr knappen Durchführung gerade jene Kadenzgeste, nun schon eindringlicher, im Mittelpunkt steht, wird aber bei aufmerksameren Hörern vielleicht die Spannung steigen lassen: Worauf will der erstaunliche Knabe hinaus?

Wir müssen uns noch die ganz regelkonforme Reprise hindurch gedulden, bevor wir eine Antwort bekommen: Erst ganz an ihrem Ende, genau wenn jene, uns nun vielleicht schon als hintergründige idée fixe erscheinenden Wendung wiederkehrt, die diesmal (in ihrer Wirkung durch ein subito piano und durch immer beharrlichere Molltrübung verstärkt) von der Geige allein ins Spiel gebracht wird, verbeißt sich die Diskussion mit stetig wachsender dramatischer Insistenz bis ins Tripelforte – und plötzlich finden wir uns als verblüffte Zeitreisende wieder in das D-moll-Menuett (Agitato) zurückgeworfen, das hier in seiner vollen Länge, dynamisch ins Fortissimo gesteigert und in leidenschaftlich erregter Tutti-Textur, wiederkehrt, ja schließlich noch durch eine weiterspinnende Fortführung auf nahezu das Doppelte der ursprünglichen Ausdehnung erweitert wird, bevor Mendelssohn Satz und Werk mit einigen wenigen Takten (Allegro con fuoco) im ursprünglichen Metrum beschließt. Was ihn dazu bestimmt haben mag, in den letzten drei Takten – nach fast hundert D-moll-Takten! – doch noch nach D-Dur zurückzukehren, läßt sich schwer sagen: Charakterlich schließt das Werk ganz ohne Zweifel in Moll.

Rückblickend erschließt sich nun die Notwendigkeit der den Kopfsatz beschließenden Coda: Sie weist vorausdeutend schon auf die formale Erweiterung des analog gebauten Finales hin. Und auch die Lakonik des Menuetts erscheint jetzt nachträglich gerechtfertigt: Nur ein so knapp formuliertes Stück konnte in extenso in den Schlußsatz verpflanzt werden. Gerade das Zusammentreffen all dieser dramaturgischen Aspekte macht klar, daß Mendelssohns Vorbild für diesen eigenwilligen Rückgriff keineswegs Beethovens C-moll-Symphonie gewesen sein kann, wie etliche Male gemutmaßt wurde: Denn dort haben wir es im Finale nur mit einem kurzen und folgenlosen Einschub eines Zitates aus dem dritten Satz (der ja übrigens nahtlos in den Schlußsatz übergeht und schon deshalb von vornherein organisch mit ihm verbunden ist) unmittelbar vor dem Eintritt der Reprise zu tun, während hier die Wiederkehr des ganzen Menuett-Hauptteils ganz am Ende des formalen Ablaufs den ganzen Finalsatz gewissermaßen umdeutet und „entgleisen“ läßt. (Das heißt freilich nicht, daß Beethovens „Kniff“ nicht doch eine Anregung für Mendelssohn gewesen sein könnte.) Hier bereichert dieser Kunstgriff den Schlußsatz, der ansonsten leicht konfliktlos und konventionell wirken könnte, um eine ebenso wesentliche wie unerwartete Facette – und legt beredtes Zeugnis für den schlafwandlerisch sicheren Instinkt des jugendlichen Komponisten ab.

Zuhören nach zweihundert Jahren?

Die hochgespannten Erwartungen einiger Londoner Rezensenten, Mendelssohns jugendliche Opera 106 und 110 würden als erstaunlich frühreife Meisterwerke bald einen fixen Platz im Standardrepertoire einnehmen, haben sich nicht erfüllt. Die österreichische Erstaufführung des Sextetts scheint erst am 19. November 1876 in Linz stattgefunden zu haben, und auch danach war das Werk hierzulande nicht oft zu hören.

Generell war die Rezeption musikalischer Novitäten im letzten Drittel des XIX. Jahrhunderts ganz vom Streit zwischen „Brahminen“ und „neudeutschen Wagnerianern“ bestimmt, und zwischen diesen beiden ästhetischen Mühlsteinen wurde ein fragiles Jugendwerk, noch dazu ein erst nach Jahrzehnten „ausgegrabenes“, achtlos zermalmt. (Man sollte, was ganz allgemein die Haltung gegenüber Frühwerken betrifft, auch nicht vergessen, daß etwa Brahms selbst Schuberts frühe Symphonien für nicht publikationswürdig hielt.) In den dunklen Jahren, die folgen sollten, wurde der Name des Komponisten zur Last. Und als Mendelssohn dann endlich auch den Menschen in seiner Heimat wiedergeschenkt wurde, flüchtete das Publikum gerade vor den immer totalitärer werdenden Zumutungen der Darmstädter Dogmata am liebsten zu den großen Meisterwerken – da konnte sich ein, wenn auch beachtliches, Jugendwerk neben dem Mendelssohnschen Violinkonzert kaum Gehör verschaffen.

Doch seit die nach Musik darbenden Menschen mit den penetranten Primitivismen einer industriell konfektionierten Popularmusik und dem intellektuell verbrämten Infantilismus der „Minimal music“ konfrontiert sind, scheinen Interesse und Aufnahmebereitschaft für wahrhaft sprechende Zeugnisse des Wachsens und Werdens unserer großen Meister deutlich zuzunehmen: Während für die Zeit vor 1980 in Wien (in Musikverein und Konzerthaus) nur drei Aufführungen des Mendelssohnschen Sextetts belegt sind, war es zwischen 1981 und 2015 immerhin schon sechsmal in Wien zu hören.

© Claus-Christian Schuster