Chausson – Quartett op. 30

Ernest Chausson
* Paris, 21. Jänner 1855
† Limay (Yvelines), 10. Juni 1899

Quatuor en La Majeur pour Piano, Violon, Alto et Violoncelle, op. 30

komponiert: Paris, Februar bis April 1897 / Veyrier-du-Lac (Haute-Savoie), Juli bis Oktober 1897

Widmung: Auguste Pierret (1874-1914)

Uraufführungen (gleichzeitig, 2. April 1898):
Paris, Salle Pleyel (Société Nationale de Musique)
Auguste Pierret, Klavier
Armand Parent (1863-1934), Violine
Frédéric Denayer (1878- ?), Viola
Charles Baretty (1859- ?), Violoncello

Liège (Lüttich), (Saal nicht eruiert)
Juliette Folleville (1870-1946), Klavier
Léopold Charlier (1867-1936), Violine
Joseph Croufer (Lebensdaten unbekannt), Viola
Albert Dechesne (Lebensdaten unbekannt), Violoncello

Erstausgabe: Émile Baudoux & C.ie, Paris, 1898

Am 22. Oktober 1896 schreibt der 41jährige Ernest Chausson sein nur drei knappe Zeilen umfassendes Testament nieder. Unmittelbar danach bricht er mit seiner Frau Jeanne zu einer Reise nach Barcelona auf, wo sein junger belgischer Freund Mathieu Crickboom (1871-1947) seit kurzem als Musikdirektor wirkt und ein kleines Chausson-Festival organisiert hat. Die Festtage gipfeln in einem denkwürdigen Ausflug, der die ganze Gesellschaft in das (vor allem zu dieser Jahreszeit) verschlafene Küstenstädtchen Sitges führt, wo der katalanische Maler Santiago Rusiñol (1861-1931) nach seiner Heimkehr aus Paris eine Küstlerkolonie gegründet hat. In seinem Atelier versammelt sich die illustre Runde – mit Ysaÿe, Granados, Morera und einer Reihe anderer Zelebritäten – zu fröhlichem Tafeln, Schauen, Scherzen und Musizieren. Jeanne Chausson und Enrique Granados wechseln einander am Flügel ab, Eugène Ysaÿe liest das (wenige Monate zuvor beendete) Poème Chaussons vom Blatt (noch vor Jahresende wird er es in Nancy uraufführen), und schließlich beginnt der belgische Oboist Guillaume Guidé (1859-1917), von der Poesie der inzwischen angebrochenen Abendstunde beflügelt, über katalanische Volksweisen zu improvisieren. Die anderen Musiker stimmen mit ein, und die vertrauten Melodien locken die Fischer aus den umliegenden Häusern herbei – am Ende der durchspielten und durchsungenen Nacht tragen die Dorfbewohner Ysaÿe im Triumph durch die Straßen.

Vielleicht bezeichnet diese romantisch-romanhafte Szene, die sich auch in einer Eichendorff-Novelle nicht übel ausnehmen würde, sinnbildhaft die Stellung Chaussons zwischen seiner Prägung durch die franko-belgische Schule und ihren Schutzheiligen César Franck, der die Paradigmata einer als germanisch empfundenen Musikästhetik in Frankreich hoffähig gemacht hatte, und Chaussons instinktiver Sehnsucht nach dem Süden. Und wahrscheinlich verkörpert das nur wenige Monate nach diesem katalanischen Intermezzo begonnene Klavierquartett besser als jedes andere Werk das Ringen des Meisters um jene einfache, luzide „Mediterraneität“, die für immer einer der Pole europäischen Kunstwollens bleiben wird.

Daß dieses Ideal nicht auf dem Weg des geringsten Widerstandes zu erreichen war, wußte Chausson nur zu gut; denn nichts ist schwerer, als „leicht“ zu erscheinen. Mathieu Crickboom, dem Initiator und Zeugen jener katalanischen Verzauberung, schreibt Chausson während der Arbeit am Quartett über das entstehende Werk:

„Très pas comme j´ai l´habitude de faire. Très simple, pas noir, plutôt léger. Un quatuor pour digestion.“

„Sehr anders als man es von mir gewöhnt ist: Sehr einfach, nicht schwarz, eher leicht. Ein Quartett für die Verdauung.“

(Paris, 25. April 1897)

Und wenige Monate später – Chausson hat sich inzwischen zur Sommerfrische in Veyrier am Lac d´Annecy niedergelassen und die Arbeit an den „problematischen“ Ecksätzen noch nicht wirklich begonnen – etwas ausführlicher:

„Je suis en train d´écrire un Quatuor avec piano. Deux morceaux parfaits, dont je ne suis pas mécontent. Il manque encore le premier mouvement et le finale! Drôle de manière de travailler n´est-ce pas? Mais j´ai déjà les éléments. Ne t´attends pas à une œuvre noir. Pas du tout. C´est presque folâtre. Et très facile. Après je me mettrai à un morceau d´orchestre que Colonne (!!) m´a demandé pour l´hiver prochain.“

„Ich bin dabei, ein Klavierquartett zu schreiben. Zwei Sätze, mit denen ich nicht unzufrieden bin, sind fertig. Es fehlt noch der erste Satz und das Finale! Eigenartige Arbeitsweise, nicht wahr? Aber ich habe schon die Motive. Erwarte kein schwarzes Werk. Ganz und gar nicht. Es ist fast übermütig. Und sehr leicht. Danach gehe ich ein Orchesterwerk an, das Colonne (!!) bei mir für den kommenden Winter bestellt hat.“

(an Mathieu Crickboom, Veyrier, 24. Juli 1897)

Einige Tage später finden wir Chausson dann über dem Kopfsatz – und die Arbeit geht noch immer nicht leichter von der Hand:

„Je travaille à mon quatuor. Deux morceaux sont déjà faits. Je croyais un autre avancé, et puis, avant dîner, je viens de m´apercevoir qu´il fallait presque tout effacer et le refaire autrement. C´est une belle chose que la facilité. Mais quand on n´en a pas, il faut bien en prendre son parti. C´est ce que je fais maintenant. Les cheveux, en tombant, ont emporté beaucoup de mes colères.“

„Ich arbeite an meinem Quartett. Zwei Sätze sind schon fertig. Ich glaubte, ein anderer sei schon weit gediehen, und dann, vor dem Abendessen, stelle ich gerade fest, daß man fast alles streichen und ändern muß. Es ist doch ein schönes Ding um die Mühelosigkeit. Aber wenn man sie nicht hat, muß man sich wohl damit abfinden. Das ist, was ich jetzt mache. Mit meinen ausfallenden Haaren ist auch mein Zorn geschwunden.“

(an Henry Lerolle, 30. Juli 1897)

Eines der verzögernden Momente bei der Entstehung des Klavierquartetts war freilich des Meisters Fürsorge für sein Schmerzenskind, seine Oper Le Roi Arthus (op. 23), die ihn seit 1888 beschäftigt hatte, und für die er nun – unter anderem auf einer von Veyrier aus unternommenen Kontaktreise, die ihn über Aachen, Kassel, Leipzig und Dresden bis nach Prag führte – beharrlich und unermüdlich eine Uraufführung zustandezubringen suchte. Nach einem ergebnislosen Gespräch mit Hans Richter und einem wirkungslosen Empfehlungsschreiben von Arthur Nikisch ist es, zu Chaussons Verblüffung, schließlich die Intervention von Isaac Albéniz, die ihm in Prag die unerwartete Annahme des Werkes einbringt. In Prag! Zuhause ist man entsetzt: Chaussons Verleger weigert sich kategorisch, die Oper zu drucken, wenn sie wirklich in so großer Entfernung von Paris – und ins Deutsche übersetzt! – uraufgeführt werden sollte; und obwohl sich Max Kalbeck schon an die Übersetzung des (nach Wagners Vorbild von Chausson selbst stammenden) Librettos gemacht hat, wird der Komponist von Zweifeln geplagt und wartet eine definitive Entscheidung ab:

„Épargnez-moi les futurs compliments de condoléances et les conseils rétrospectifs des indifférents. En attendant, je travaille à un quatuor avec un piano et un morceau d´orchestre. Quand ça marche bien, je suis très content et quand ça ne vas pas, je grinche, pour ne pas en perdre l´habitude.“

„Ersparen Sie mir die künftigen Beileidsbezeugungen und die rückblickenden Ratschläge der Gleichgültigen. In der Zwischenzeit arbeite ich an einem Klavierquartett und einem Orchesterstück. Wenn es gut geht, bin ich sehr zufrieden, und wenn es nicht geht, klaue ich, um nicht aus der Übung zu kommen.“

(an Paul Poujaud, Veyrier, um den 8. August 1897)

Das „Klauen“ (– der Vollständigkeit halber sei gesagt, daß man „grincher“ auch mit „murren“ oder „brummen“ übersetzen könnte –) beschränkt sich bei Chausson freilich fast ausschließlich auf Eigenzitate – und tatsächlich finden sich im ersten Satz des Quartetts, der Chausson bei der Niederschrift dieses Briefes gerade beschäftigte, Reminiszenzen an seine eigene Symphonie B-Dur op. 20 (1889/90) und das Poème op. 25 aus dem Vorjahr; und schon in der Gestalt seines höchst einprägsamen Incipits knüpft dieser erste Satz (Animé, A-Dur, 2/2) an das Concert en ré op. 21 (für Geige, Klavier und Streichquartett) von 1890 an, das nach wie vor wohl das meistgespielte Kammermusikwerk Chaussons bleibt. Dem Geiger Léopold Charlier, auf dessen Initiative die Lütticher Uraufführung des Quartetts (die mit einer Wiederaufführung des Concert verbunden war) zurückzuführen ist, hat der Komponist mit seinem Dankesschreiben auch eine Portraitphotographie zukommen lassen, auf die er über seine Unterschrift jenes emblematische Hauptmotiv von op. 21 gesetzt hat, mit dem das Hauptthema des Kopfsatzes unseres Quartetts die charakteristischen Quart- und Quintintervalle gemeinsam hat. (Die diastematische Übereinstimmung der ersten vier Noten mit jenem Motiv, das Alpha und Omega von Mahlers in zeitlicher Nachbarschaft entstandener erster Symphonie ist, wird ohnehin kaum einem aufmerksamen Hörer verborgen bleiben.) Was aber im Concert, in getreuer Nachfolge César Francks, noch schwerblütige Bekenntnismusik war, wird hier in ein helles, freundliches und heiteres Klima verpflanzt. Nachdem alle vier Instrumente diesen glücklichen Einfall begrüßt und gefeiert haben, schenkt Chausson ihnen noch einen kurzatmigen, aber sehr prägnanten Überleitungsgedanken, bevor er das Seitenthema vorstellt, dessen entfernte gestische und harmonische Verwandtschaft mit den Eröffnungstakten von Debussys Streichquartett von vielen Kommentatoren (und nicht immer in wohlwollendem Ton) konstatiert wurde; daß Chausson mit gutem Recht glaubte, an dieser Wendung nicht weniger Eigentumsrecht zu haben als der von ihm selbstlos geförderte jüngere Freund (der sich freilich nach Chaussons Unfalltod beharrlich weigern wird, der Familie zu kondolieren), erhellt schon daraus, daß er das bedeutendste unrealisiert gebliebene Projekt seiner letzten Lebensjahre, nämlich ein zweites Concert (WoO 27), das er noch während der Arbeit am Klavierquartett im September 1897 in Angriff nahm – es war für Klavier, Oboe, Bratsche und Streichquartett gedacht –, aus genau diesem selben fruchtbaren Grundgedanken keimen lassen wollte, wie die erhaltenen Skizzen beweisen. Die auf diese ideenreiche Exposition folgende Durchführung ist naturgemäß besonders bunt und blühend; sie übertrifft die Exposition auch an Länge deutlich, wird aber ihrerseits von der den Satz krönenden Reprise, in der alle Elemente in ganz neuer Textur und Beleuchtung wiederkehren, nochmals übetroffen, so daß der Satz den Eindruck vegetativ wachsenden Reichtums und Überflusses vermittelt.

Die beiden Mittelsätze, von denen wir wissen, daß sie schon lange vor den Ecksätzen Gestalt angenommen haben, unterscheiden sich von diesen durch ihre einfachere und kleinere Form, stehen ihnen aber an Adel und Originalität der Erfindung durchaus nicht nach. Auffällig ist, daß Chausson (ganz ähnlich wie sein von ihm gründlich verkannter Kollege Brahms) um die Entschärfung des traditionellen Antagonismus zwischen „langsamem Satz“ und „Scherzo“ bemüht ist. Bezeichnend dafür ist schon der Umstand, daß er die für diese Archetypen üblicherweise verwendeten Bezeichnungen durch „neutralere“ ersetzt: So wird der in den Briefen zunächst abwechselnd Andante oder Adagio genannte zweite Satz schließlich einfach zu Très calme (Des-Dur/cis-moll, 3/4). Während des Ringens um diesen Satz schreibt Chausson seinem jungen Freund Gustave Samazeuilh (1877-1967), der ihn um die Zusendung ihm noch fehlender Teile des Roi Arthus gebeten hatte, nach Bordeaux:

„Laissez-moi encore quelques jours. Pour le moment, je réserve tout mon temps á l´andante du quatuor que je désirerais essayer avec Ysaÿe quand il reviendra, et il revient vendredi soir. […] Mais je ne sais pas si je pourrai le finir, cet andante, car je viens de changer complètement  le milieu. Ah! Les secondes phrases! C´est toujours celles-là qui me causent le plus de mal. Naturellement. La première phrase, quand on ne l´a pas, on ne commence pas le morceau.“

„Geben Sie mir noch ein paar Tage. Im Augenblick widme ich alle meine Zeit dem Andante des Quartetts, das ich gerne mit Ysaÿe ausprobieren möchte, wenn er wiederkommt, und er kommt Freitag abends. […] Aber ich weiß nicht, ob ich es beenden kann, dieses Andante, denn ich habe den Mittelteil gerade völlig verändert. Ach! Die zweiten Themen! Es sind immer sie, die mir die meisten Schmerzen bereiten. Natürlich. Wenn man das erste Thema nicht hat, fängt man das Stück erst gar nicht an.“

(Paris, Poststempel 3. April 1897)

Offenbar hat Chausson diesen Brief am Dienstag (30. März) geschrieben, aber eben wegen des zeitlichen Druckes erst nach Ysaÿes Ankunft zur Post gebracht – genau an Brahms´ Todestag. So rasch, wie er gehofft hatte, konnte er mit dem Satz aber nicht ins Reine kommen: Erst Anfang August wird er in Veyrier den Schlußpunkt darunter setzen. Das zweite Thema (Un peu moins lent), das er schließlich gefunden hat, scheint ein Nachkomme des Überleitungsthemas aus dem ersten Satz zu sein: Es wendet den andächtig-innigen Gesang des Des-Dur-Hauptthemas nach F-Dur und stellt dessen breitem Ausschwingen bewegtere und kürzere Gesten gegenüber. Die Steigerung, die daraus resultiert, führt in der Satzmitte zu einem Ausbruch von rezitativischem Pathos, in dem ein leidenschaftlich insistierendes F-moll schließlich ermattend dem resignativen Cis-moll Platz machen muß, das – trotz einer letzten Des-Dur-Auferstehung des hymnischen Hauptthemas – die Heimattonart der zweiten Satzhälfte bleibt.

Hatte Chausson für diesen Satz die (für die Zeitgenossen, „die an steigendes Glück denken“, irritierende) Dramaturgie des in Moll mündenden Dursatzes gewählt, so bietet er uns mit dem folgenden, parallel konzipierten, aber schon früher (am 20. Juli in Veyrier) abgeschlossenen Schwestersatz eine spiegelbildliche Alternative. Dieser kürzeste Satz des Werkes, ist auch sein intimes Herzstück. Simple et sans hâte – schlicht und nicht eilig – legt Chausson (anstelle des ursprünglich vorgesehenen „Allegretto“) seinen Interpreten für diese exquisite Miniatur (d-moll/D-Dur, 3/4) ans Herz, und mehr Worte darf man über dieses Wunder an Élégance, Charme und Noblesse auch nicht verlieren. Nicht unbemerkt soll aber bleiben, daß Chausson durch die ungewöhnliche Wahl chromatisch benachbarter Tonarten (Des/cis – d/D) für dieses Satzpaar zusätzlich zu dem Chiasmus der Tongeschlechter bei gleichbleibenem Metrum (3/4) und analoger agogischer Dramaturgie (beide Sätze haben einen geringfügig bewegteren Mittelteil) dieses Satzdiptychon zu einem „Werk im Werk“ verschmolz.

Verbunden sind die beiden Mittelsätze auch durch ihre Rezeption – was durch eine anekdotisch interessante Einzelheit belegt ist: Der Verleger des Quartetts, Émile Baudoux, verkaufte seine 1894 gegründete Firma schon 1902; 1906 ging sie dann in den Besitz von Alexis Rouart über, dem sich 1908 Jacques Lerolle, der Sohn von Chaussons Lieblingsschwager und wichtigstem Korrespondenzpartner Henry Lerolle, als Compagnon beigesellte. Ein Blick in den Verlagskatalog dieses sehr erfolgreichen (und seit 1953 von Salabert weitergeführten) Unternehmens Rouart-Lerolle belegt nun, daß sich gerade die Binnensätze unseres Quartetts noch in der Zwischenkriegszeit einer gewissen Popularität erfreut haben müssen: Man findet sie nämlich dort mit dem Erscheinungsjahr 1923 unter den apokryphen Titeln Incantation und Légende in Arrangements für Salonorchester – untrügliches Zeichen für den Anklang, den diese beiden kürzeren Sätze bei einem immer noch kultivierten, aber zunehmend ungeduldigen Publikum fanden. (An den Verfasser dieser heute vergessenen Bearbeitungen, Stéphane Chapelier [1884-1966], Geiger, Komponist, Dirigent, Präsident der Autorenrechtsvereinigung, Philanthrop und Kunstsammler, erinnert man sich mitunter noch in Zusammenhang mit einem von ihm gestifteten Preis, den u. a. auch der in unserem Jännerkonzert vorgestellte Komponist Nicolas Bacri erhielt.)

Daß auf das Doppeljuwel dieser knapp gefaßten Mittelsätze ein dramaturgisch (und motivisch) an den Kopfsatz anknüpfendes leidenschaftliches und robustes Finale folgt, enstpricht ganz der (übrigens auch gerne von Brahms verwendeten) Großdramaturgie. Das Aufeinandertreffen dieses konkreten dritten und vierten Satzes weckt aber zusätzlich auch die Erinnerung an ein anderes wenig gespieltes Meisterwerk Chaussons: In den – vielleicht wegen ihres unscheinbar-bescheidenen Titel – kaum beachteten Quelques Danses op. 26 (1896) folgt auf die ebenfalls sans hâte zu spielende Pavane als vierter und letzter Tanz eine Forlane, die mit unserem freilich weit ausgedehnteren Finalsatz (Animé, a-moll/A-Dur, 6/8) etliche charakteristische Détails gemeinsam hat, vor allem den erregten Ton und die kleingliedrig jambische Artikulation im Sechsertakt (in der Forlane 6/4) des ritornellartig wiederkehrenden Anfangsmotivs. Dieses die Physiognomie des Finales prägende „Leitmotiv“, ein in engen Intervallen um die tiefalterierte zweite Stufe kreisendes Perpetuum mobile, nimmt die zarte modale (phrygische) Färbung des vorangegangenen Satzes beim Wort und holt sie aus dem Reich des Traumes in das der vita activa.

Formal ist dieser Satz bei weitem der komplexeste – nicht zuletzt, weil Chausson trotz des dezidiert „romanischen“ Grundtons des ganzen Werkes der (gerne als „germanisch“ apostrophierten“) zyklischen Konzeption der Liszt-Franck-Tradition, der er schon in seinem jugendlichen Klaviertrio op. 3 (1881) gefolgt ist, treu bleibt, weswegen der narrative Ablauf (der sich mit einiger Anstrengung auf ein klassisches Sonatensatzmodell zurückführen ließe) mit zahlreichen Rückverweisen und Zitaten angereichert ist. So drängt sich schon in das Seitenthema, das eine Metamorphose seiner Schwester aus dem ersten Satz zu sein scheint, das emblematisch Quartsignal des Werkbeginns, das im folgenden immer stolzer sein Haupt erhebt, bis es schließlich in aller Pracht das letzte Wort behält: die letzten vier Takte des Werkes sind dann in der Tat eine programmatisch affirmative Vergrößerung der beiden Takte, mit denen das Quartett so schwungvoll sorglos begonnen hat. Unmittelbar davor hat uns der Beginn der Coda eine Wiederbegegnung mit dem zweiten Satz beschert, und ein akribisch analytischer Blick könnte wohl alle bunten Gestalten, die diesen aufregenden Satz bevölkern, als legitime Nachkommen der Protagonisten der vorangegangenen Sätze identifizieren.

Daß es auch für den Komponisten selbst kein Leichtes war, diesen Reichtum zu bändigen, wissen wir aus der Entstehungsgeschichte des Werkes: In den ersten Oktobertagen 1897 war Chausson aus seinem Feriendomizil Veyrier-du-Lac nach Brüssel aufgebrochen, um seinem Freund Ysaÿe und dessen Quartett das noch unvollendete Werk zur „Lecture“ vorzulegen, vor allem eben wegen der Zweifel, die ihn hinsichtlich des Finales plagten. Seinem Schwager Henry Lerolle berichtet er darüber:

„Hier soir, lecture du Quatuor. J´ai été très content. Ça sonne bien. Le final m´a causé une surprise agréable. Je pense qu´en peu de jours, il sera définitivement terminé. Ouf! Et tout de suite, recommencer autre chose qui me fera geindre encore. Bizarre. Mais je ne pourrai plus me passer de ces alternatives de rage et de joie.“

„Gestern Abend Lekture des Quartetts. Ich war sehr zufrieden. Es klingt gut. Das Finale hat mir eine angenehme Überraschung bereitet. Ich denke, in ein paar Tagen wird es endgültig fertig sein. Uff! Und gleich danach muß ich eine andere Sache beginnen, die mich wieder stöhnen wird lassen. Bizarr. Aber ich werde auf dieses Wechselbad von Wut und Freude nicht mehr verzichten können.“

(Brüssel, 7. Oktober 1897)

Diese Wechselbäder von Wut und Freude haben Chausson und der Nachwelt eine durchaus überschaubare, aber exquisite Reihe wunderbarer und bewundernswerter Werke beschert, bis hin zu jenem unvollendeten Streichquartett, während dessen Komposition Chausson 44jährig ein Opfer seiner Leidenschaft für das damals eben in Mode kommende Radfahren werden sollte.

Am Finale unseres Quartetts feilt er nach seiner Rückkehr aus Brüssel in Veyrier noch bis zum 23. Oktober 1897, an welchem Tag er die Partitur endlich abschließen kann. Kurz darauf übersiedelt mit seiner Familie in den Süden – nach San Domenico bei Fiesole, wo er in der Villa Papiniano bis Ende Jänner an dem mehrfach erwähnten Orchesterwerk für Édouard Colonne (Soir de fête, op. 32) arbeiten wird.

Daß Chaussons Schaffen sich nicht auf das unverwüstliche Poème reduzieren läßt und auch nicht mit dem schönen Concert erschöpft ist, wird von Publikum und Veranstaltern beharrlich ignoriert. Es ist wohl kein Zufall, daß das Klavierquartett (das freilich, der ironischen [?] Bemerkung des Autors zum Trotz, alles andere als „très facile“ ist) in Wien allem Anschein nach überhaupt erst einmal (nämlich am 8. Jänner 1914 im Mozart-Saal des Konzerthauses) konzertant aufgeführt worden ist; ebensowenig, daß Wilhelm Altmann es in seinem informativen „Handbuch für Klavierquartettspieler“ (1937), das die Werke von Chaussons Jahrgangskollegen Ferdinand Hummel und Heinrich XXIV. Prinz Reuß wortreich rühmt, kurzerhand „vergessen“ hat. Wird das XXI. Jahrhundert diesem kostbaren Vermächtnis gegenüber hellhöriger sein?

© Claus-Christian Schuster