Haydn – Trio Hob.XV:32

Joseph Haydn
*  31. März (1. April) 1732 Rohrau (Niederösterreich)
+ 31. Mai 1809 Wien

Trio G-Dur Hob.XV:32
komponiert: London, 1791/92 (?)
Widmung: (Marianne von Genzinger / Maria Anna Tost, geb. Jerlischek (?))
Uraufführung: nicht dokumentiert
Erstausgabe: Preston, London, 1794

Lange Zeit hindurch war dieses Werk nur in seiner (ursprünglichen?) Fassung als Sonate für Violine und Klavier bekannt. Manches spricht dafür, daß es sich wirklich um Haydns einziges Originalwerk dieses Genres handeln könnte – die auffällige Übereinstimmung des Beginns mit dem Thema des zweites Satzes aus W. A. Mozarts G-Dur-Sonate KV 301, die ja ebenfalls eine zweisätzige Violinsonate ist, könnte so besehen auch bewußtes Zitat sein. Mit ziemlicher Sicherheit kann man annehmen, daß diese „Sonate“ Haydns einzige Klavierkomposition aus der Zeit seines ersten Londoner Aufenthaltes (Jänner 1791 – Juni 1792) ist. Für ein „unkommerzielles“ Vergnügen, wie es das Schreiben eines so unspektakulären Stückes Kammermusik war, hatte der Meister damals allerdings wirklich wenig Zeit:

„…wenn Euer gnaden seheten, wie ich hier in London Seccirt werde in allen denen privat Musicken beyzuwohnen, wobey ich sehr viel zeit verliehre, und die menge deren arbeithen so man mir aufbürdet, würden Sie gnädige Frau mit mir und über mich das gröste Mitleyd haben, ich schriebe zeit lebens nie in Einen Jahr so viel als im gegenwärtig verflossenen, bin aber auch fast ganz Erschöpft, und mir wird es wohl thun nach meiner nach haußkunft ein wenig ausrasten zu können…“

(an Marianne von Genzinger, 17. Jänner 1792)

Daß Haydn schließlich doch noch Zeit fand, zwischen seine offiziellen Verpflichtungen die Komposition dieser Sonate einzuschieben, hat wahrscheinlich mit einem Vorfall zu tun, dessen Hintergründe nicht restlos geklärt sind: Anscheinend hatte Haydns Wiener Adlatus und Kopist Johann Elßler die Abwesenheit des Meisters dazu mißbraucht, eine Klaviersonate (wahrscheinlich Hob.XVI:49), die Haydn Frau von Genzinger und/oder deren Freundin Maria Anna („Nanette“) Jerlischek zugedacht hatte, zu eigenem Gewinn an den Wiener Verleger Artaria zu verkaufen, der das Werk natürlich ohne die vom Komponisten intendierte Widmung druckte. Haydn  ist empört:

„…ich Erschracke nicht wenig, als ich die unangenehme nachricht von der Sonate lesen muste, bey gott! Ich wolte lieber 25 Ducaten verlohren haben, als diesen diebstahl zu erfahren, und diss kann niemand anderer gethan haben, als mein eigener Copist. Allein, ich hofe zu Gott diesen verlust zu ersetzen…“

(an Marianne von Genzinger, falsch (?) datiert 2. März 1792)

Da unser Trio das einzige Klavierwerk dieser Zeit ist, liegt die Vermutung nahe, daß es sich hier um dieses versprochene „Ersatzstück“ handelt. Gedruckt wurde das Werk, und zwar wieder ohne Widmung, erst zwei Jahre später, während Haydns zweitem Londoner Aufenthalt. Die beiden Fassungen erschienen nahezu gleichzeitig, die Trioversion bei Haydns Londoner Verlag Preston und die Violinsonate in Wien bei Artaria. Es besteht zunächst kein triftiger Grund, an der Authentizität der Triofassung, d. h. konkret: der Cellostimme, zu zweifeln. Allerdings hat sich in einem in der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrten Manuskriptband eine offenbar nur wenige Jahre später entstandene Alternativfassung des Werkes erhalten, deren Cellostimme recht einschneidende Änderungen gegenüber der gedruckten Version aufweist. Das mag zunächst von rein philologischem Interesse sein – schließlich haben die Cellostimmen der Haydnschen Klaviertrios den Ruf, nichts weiter als willenlose Sklaven des Klavierbasses zu sein. Der Vergleich dieser beiden Fassungen zeigt uns aber, daß die zeitgenössische Aufführungspraxis auch in von den meisten heutigen Hörern und Interpreten als untergeordnet und nebensächlich empfundene Details eine ganze Menge Phantasie investieren konnte. Wo wir oft Gefahr laufen, uns vom Buchstaben des Textes beengt zu fühlen, bevor wir noch seinen Sinn erfaßt haben, verstand man damals offenbar, die vom Komponisten gewährten Freiräume spielerisch zu erfüllen. Freilich weisen beide Fassungen – die gedruckte Londoner und die handschriftliche aus Berlin – in einigen charakteristischen Details (Stimmführung und -lage, Tonlängen etc.) Abweichungen von den Cellostimmen der anderen Klaviertrios auf. Ob man daraus nun schließen mag, daß keine der beiden Stimmen authentisch sei (wie das die Herausgeber der Haydn-Gesamtausgabe tun), oder ob man darin einfach ein Indiz für die Priorität der Duofassung sehen will – in jedem Fall ist es anregend, sich durch solche Fragen zu genauerem Hören verleiten zu lassen: im Detail steckt nicht nur der Teufel, sondern auch das Genie…

Unter den fünfzehn zwischen 1792 und 1796 entstandenen Haydnschen Klaviertrios gibt es nur zwei zweisätzige Werke. Das zweite Werk, das 1794/95 komponierte Trio in es-moll (Hob.XV:31) ist eine Pasticcio-Komposition, bei der Haydn den in anderem Zusammenhang niedergeschriebenen Es-Dur-Satz einer Violinsonate („Jakobs Traum“) als Finale verwendete. Festzuhalten ist also, daß in beiden Fällen durch die Entstehungsgeschichte ein enger Konnex zum Genre der Violinsonate gegeben ist. Unser G-Dur-Trio repräsentiert mit seinen beiden in der gleichen Tonart stehenden Sätzen einen Sonatentyp, den etwa auch Mozart seinen Kurfürstin-Sonaten („op.II“, KV 301-306) zugrundegelegt hat.

Ganz nahe an die Welt dieser Sonaten führt uns der erste Satz unseres Trios. Der Anfang dieses Andantes scheint, wie schon oben erwähnt, mit dem Beginn des zweiten Satzes, Allegro, aus der ersten dieser Violinsonaten (e-moll, KV 301, Mannheim 1778) identisch zu sein. Doch gerade an einer solchen Konstellation läßt sich sehr gut studieren, wie sehr die Physiognomie eines Kunstwerkes eben nicht durch das Was, sondern durch das Wie bestimmt wird. Haydn und Mozart gehen von der selben thematischen Keimzelle aus: Themenkopf (die ersten acht Noten), Metrum (bei Mozart Dreiachtel-, bei Haydn Sechsachteltakt) und rhythmische Struktur (in beiden Fällen durchgehende Achtelbewegung) entsprechen einander aufs Haar. Mehr noch: beide Meister machen diese Keimzelle zum Ausgangspunkt einer bis in Einzelheiten übereinstimmenden formalen Großanlage – sogar das harmonische Grundgerüst der beiden Sätze ist nahezu ident. So weitgehend ist die äußere Verwandtschaft, daß man gar nicht mehr erstaunt ist, bei näherer Untersuchung herauszufinden, daß auch die Dimensionen völlig übereinstimmen: den 158 Sechsachteltakten Haydns entsprechen bei Mozart (unter Berücksichtigung der obligaten Wiederholungen) 325 Dreiachteltakte. (Daß diese Fülle von Analogien auch das Resultat bewußter Paraphrasierung sein könnte, wurde ja schon eingangs in Erwägung gezogen.) Aber wer nach all dem Gesagten meint, Aussage und Charakter der zwei Stücke müßten bei so vielen materiellen Ähnlichkeiten nahe verwandt sein, irrt. Was bei Mozart ein französisch angehauchter, schwerelos-tändelnder Tanz mit flüchtigen melancholischen Schatten ist, wird bei Haydn zu einem eigenwillig-bedächtigen Stück Musik mit dramatischen Akzenten. Wenn man aus jeder Verästelung des weitverzweigten Themas nach und nach frische Variationen hervorsprießen sieht, fühlt man sich mitten in den erdigen Duft des ersten Frühlingsmorgens versetzt. Diese beseelte Erdenschwere gewinnt Haydn aus den mit unzähligen Sforzati belasteten „leichten“ Taktteilen, ein Kunstgriff, den er wenige Jahre später in der „Schöpfung“ bei der  Schilderung des dritten Schöpfungstages („Nun beut die Flur das frische Grün dem Auge zur Ergötzung dar…“, Hob.XXI:2, Nr.9) in ganz analoger Weise (wenn auch viel sparsamer) einsetzen wird.

Das abschließende Allegro ist auf vielfältige und subtile Weise mit dem vorangehenden Satz verbunden und stellt so etwas wie die Ernte der im Andante gelegten Saat dar. Es ist ein breit ausgeführter Sonatensatz mit einer Fülle von thematischen Einfällen. Das Hauptthema ist dialogisierend angelegt; die „Satzzeichen“ (=Pausen) zwischen den einzelnen Repliken vermitteln den Eindruck eines allmählich in Gang kommenden Gesprächs. Und ganz so, als würde man einer geistreichen Konversation folgen, die nach und nach auf immer ungezwungenere und freiere Bahnen gerät, können wir im Folgenden miterleben, wie ein Gedanke nach dem anderen aufblitzt, zunächst nur als spielerische Möglichkeit, bis er schließlich seine endgültige, ausformulierte Gestalt annimmt. Eingebettet in den Seitensatz liegt ein kontrastierender, humoristisch kurzatmiger Einfall, dessen Italianità unüberhörbar ist – er würde sich in jeder Rossinischen Buffo-Arie hervorragend ausnehmen. (Man sollte nicht vergessen, daß Haydn – vor allem im schriftlichen Ausdruck – im Italienischen gewandter war als im Deutschen; die teilweise erhaltene Korrespondenz mit seiner langjährigen Geliebten, der Sängerin Luigia Polzelli (1760-1832), belegt das eindrucksvoll.) Gerade dieses „italienische“ Motiv wird dann zum eigentlichen Motor der Durchführung, die mit Ausnahme einer unscheinbaren Überleitungswendung aus dem Hauptthema und einer simplen Schlußfloskel sonst nichts von all dem thematischen Überfluß der Exposition  wissen will. Diese eigenwillige Art der Entwicklung, bei der die Durchführung weder die „eigentlichen“ Themen verwertet noch auch eigenständiges neues Material bringt, stellt an die Gestaltungskraft des Komponisten sehr hohe Anforderungen; niemand ist diesen schwierigen Weg so oft gegangen wie Haydn. Es bereitet ein besonderes Vergnügen, zu sehen, wie diese Durchführung sich aus den kümmerlichen Brosamen der Exposition eine Kraftnahrung zusammenbraut, die ihr schließlich ganz unerwartete dramatische Energie verleiht. Vielleicht ist es diese Unabhängigkeit der Durchführung, die Haydn dazu bewog, diesmal auf eine kunstreiche Rückführung zur Reprise zu verzichten und die Nahtstelle zwischen den beiden Formteilen unbekümmert offenzulegen. Strenge Kommentatoren, die hier einen Stilbruch wittern, neigen freilich eher dazu, diese auffällige „Rücksichtslosigkeit“ mit dem Zeitdruck zu entschuldigen, unter dem wohl auch dieser Satz entstanden sein muß. Wenn Haydn aber am Ende der Reprise die artistische Glanzleistung der Durchführung in einer sie en miniature paraphrasierenden Coda noch einmal nachspielt, meint man doch, ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen, und ist nur zu geneigt, die Zufriedenheit des Meisters dankbar zu teilen.

© Claus-Christian Schuster