Mozart – KV 442

Wolfgang Amadeus Mozart
* Salzburg, 27. Jänner 1756
† Wien, 5. Dezember 1791

Fragment eines Triosatzes in d-moll, KV 442/1 (Anhang I, a.)

Fragment eines Tempo di Menuetto G-Dur, KV 442/2 (Anhang I, b.)
komponiert: Wien, um 1785/86 (?)

Fragment eines Allegro in D-Dur, KV 442/3 (Anhang I, c.)
komponiert: Wien um 1788/89 (?)

Uraufführung: nicht dokumentiert

Erstausgabe: Johann André, Offenbach, 1797 (mit den Ergänzungen von Maximilian Stadler [1748-1833])

Die drei Triofragmente, die sich in Mozarts Nachlaß fanden und von Abbé Maximilian Stadler, handwerklich durchaus solide, aber auf vielleicht doch allzu biedere Weise, ergänzt und willkürlich zu einem „dreisätzigen Trio“ zusammengestellt wurden, haben nur aus diesem Grund eine gemeinsame Nummer im Köchelverzeichnis erhalten. Sie geben der Mozartforschung bis heute kaum lösbare Rätsel auf. Um mit den wenigen Gewißheiten zu beginnen: Ganz sicher sind diese drei Fragmente nicht Teile eines Werkes. Zweifellos entstammen sie alle drei der Wiener Zeit des Komponisten, wobei die – der Zuteilung der KV-Nummer 442 zugrundeliegende – Hypothese, sie seien alle etwa gleichzeitig um 1783 entstanden, heute kaum mehr ernsthaft vertreten wird. Aber auch die ausgereiften „kriminalistischen“ Methoden der modernen Musikologie konnten bezüglich der Datierung der drei bemerkenswerten Torsi keine Klarheit bringen. Und damit sind wir auch schon mitten im Feld der sich um diese Bruchstücke rankenden Mutmaßungen und Konflikte, die Interpreten und Publikum offenbar von einer Annäherung an diese mit allzu vielen Fragezeichen versehene Musik abhalten.

Die Komposition des Divertimentos KV 254 lag jedenfalls schon etliche Jahre zurück, als Mozart begann, sich für das von ihm bis dahin kaum beachtete Genre des Klaviertrios zu interessieren. Den beiden mit einiger Sicherheit auf Juli und November 1786 zu datierenden, überaus kurzen Fragmenten KV Anh. 52 (495a, G-Dur) und KV Anh. 51 (501a, B-Dur), die als verworfene bzw. liegengelassene Ansätze zu den vollendeten Trios KV 496 (G-Dur) und KV 502 (B-Dur) gedeutet werden können, waren wohl schon andere Versuche vorausgegangen. Wenn wir uns in Erinnerung rufen, wie eng die Beziehungen zwischen Mozart und Haydn gerade in dieser Zeit waren – „Amico carissimo“, ja sogar „Padre, Guida ed Amico“ nennt Mozart seinen Quartettkollegen in der Widmung (1. September 1785) der sechs zwischen 1783 und 1785 entstandenen Streichquartette „Opera X“ –, wird man gerne glauben, daß Mozart über die Entstehung und die hürdenreiche Drucklegung jener Haydnschen Klaviertrios (Hob. XV:6-8), die Artaria Ende April 1786 endlich herausbrachte, bestens unterrichtet war; und so unzweifelhaft diese (allzu selten zu hörenden) Trios einen Meilenstein in der Geschichte des Klaviertrios darstellen, so wenig werden diese Werke ihren Eindruck auf Mozart verfehlt haben. Man kann also, ohne sich allzu gewagter Spekulation schuldig zu machen, annehmen, Haydns Fortschritte auf diesem Feld haben Mozarts Interesse auf die Gattung Klaviertrio gelenkt. Sollte diese Mutmaßung richtig sein, so könnten die Fragmente in d-moll und G-Dur sehr wohl, wie schon von verschiedener Seite vorgeschlagen, recht bald nach den Haydnschen Schwesterwerken und somit in großer zeitlicher Nähe zu jenen beiden Mozartschen Klavierkonzerten entstanden sein, die in ihnen an einigen Stellen anzuklingen scheinen: nämlich jenem in d-moll (KV 466, Februar 1785), das dem Fragment in der selben Tonart nahesteht, und jenem in c-moll (KV 491, März 1786), dem das G-Dur-Fragment verwandt ist.

Anders liegen die Dinge im Falle des D-Dur-Allegros. Dieses von Stadler als „Schlußsatz“ eingerichtete Fragment ist fast mit Sicherheit als Kopfsatz eines Trios gedacht und gilt der Mozartforschung heute als das allerletzte von Mozart in Angriff genommene Klaviertrio. Aufgrund stilistischer und idiomatischer Merkmale hat man für dieses Allegro eine Entstehungszeit nicht vor der Jahreswende 1788/89 angenommen, ja einige Indizien – so etwa die Parallelen zum Kopfsatz des Streichquintetts in Es-Dur KV 614 (April 1791) – scheinen sogar einen noch späteren Termin zu suggerieren. In jedem Fall dokumentiert dieser Torso die Fortsetzung des schöpferischen Diskurses zwischen Mozart und Haydn, dessen 1788/89 entstandenen Klaviertrios op. 57 (Hob. XV:11-13) eine neue Entwicklungsstufe in der Gattungsgeschichte repräsentieren.

Der Entschluß, weder die Ergänzungen des braven Abbé Stadler noch auch einen der anderen Vervollständigungsversuche vorzulegen und uns schlicht auf den fragmentarischen Originaltext Mozarts zu beschränken, hat vor allem mit dem alles anderen als schulmäßigen Verlauf der drei Fragmente zu tun. Obwohl man nicht leugnen kann, daß die Haydnschen Trios in ihrem Ablauf noch um eine deutliche Spur unvorhersehbarer sind als die Werke Mozarts, so wird doch allen drei Fragmenten jede auch noch so gut gemeinte und solide fundierte „Fortsetzungsprognose“ wohl schwerlich gerecht werden können. Deshalb möge dieser Entschluß auch durchaus nicht als Kritik an Maximilian Stadler, dem profunden Mozartkenner und hochverdienten Ehrenmitglied der Gesellschaft der Musikfreunde, mißverstanden, sondern einfach als Geste der Ehrfurcht vor dem Genie Mozarts begriffen werden.

Das kürzeste der drei Fragmente ist jenes in d-moll. Die 55 niedergeschriebenen Takte führen uns nicht einmal an das Ende der Exposition eines Sonatensatzes – aber welcher Reichtum ist auf diesem engen Raum ausgebreitet! Das Hauptthema, dessen tragisch getöntes Piano-Parlando von resoluten Forteakkorden unterbrochen und gegliedert wird, ist durch die rhetorisch kunstvolle Erweiterung des Nachsatzes von eigenartiger Asymmetrie, die auf das sich zunächst viel „regelmäßiger“ und „gesanglicher“ gebende Seitenthema durchschlägt: Hier verirren wir uns in harmonisch so entfernte Regionen, daß die erste Schlußgruppe eine ganze Menge geschwätziger Geschäftigkeit aufwenden muß, uns in der Dur-Parallele heimisch werden zu lassen. Das Fragment bricht mitten in der ersten Kadenz dieses Passus ab – und man wird den Verdacht nicht ganz los, daß auch diese Kadenz auf trügschlüssige Abwege führen hätte können (ein Gedanke, den Abbé Stadler allerdings geflissentlich zu unterdrücken wußte).

Während dieses D-moll-Fragment gewiß als Beginn eines ersten Satzes anzusehen ist, wirft das Tempo di Menuetto – mit 151 Takten das textlich längste der drei Bruchstücke – schon hinsichtlich seiner Stellung im geplanten Werkganzen schwer zu beantwortende Fragen auf. Wir kennen aus der für die Entstehung des Entwurfs in Frage kommenden Zeit kein einziges Werk Mozarts, das ein so ausgedehntes Menuett beinhalten würde: An der Stelle, an der das Fragment abbricht, ist Mozart eben dabei, uns – nach einem für ein Menuett eher ungewöhnlichen „Durchführungs“-Abschnitt – ein viertes (!) Thema zu präsentieren. Die ganze Anlage des Bruchstücks läßt keinen Zweifel daran, daß der Satz außergewöhnlich weiträumig konzipiert gewesen sein muß. Die für das Menuett als Mittelsatz bei Mozart verbindliche Form mit einem deutlich abgesetzten Trio sollte hier offenbar durch eine völlig anders geartete Architektur ersetzt werden, für die es aber auch in den Mozartschen Finalsätzen – zumindest mit der Bezeichnung „Menuett“ – nicht einmal annäherungsweise eine Parallele gibt. Ob als Mittel- oder (wahrscheinlicher) als Finalsatz: ungewöhnlich bleibt der Torso in jedem Fall, und auch hier trägt die Stadlersche Fortführung in ihrer routinierten Artigkeit ganz sicher nicht dazu bei, uns den Plan des Komponisten zu vergegenwärtigen.

Mit dem Allegro in D-Dur, von dem Mozart 133 Takte fast vollständig notierte, befinden wir uns allem Anschein nach in der Zeit nach den drei zwischen Juni und Oktober 1788 entstandenen Klaviertrios. Da alle fünf in Wien vollendeten Klaviertrios jeweils relativ bald nach ihrer Beendigung in Einzelausgaben erschienen, kann der Kompositionsanlaß für dieses jüngste Trio nicht die Vervollständigung einer Werkserie für die gemeinsame Herausgabe (etwa in der damals handelsüblichen Sechszahl) gewesen sein, sondern bezeugt eher das unverminderte Interesse Mozarts an der Erforschung der sich im Klaviertrio eröffnenden Möglichkeiten – jener Möglichkeiten, die in den vier Jahren nach Mozarts Tod auf völlig unterschiedliche Weise, aber mit der gleichen Beharrlichkeit und Konsequenz von Haydn und Beethoven erkundet werden sollten. Es handelt sich bei diesem D-Dur-Fragment wohl kaum um einen Finalsatz, zu dem es die Dramaturgie der Stadlerschen Triokonstruktion notgedrungen macht, sondern aller Wahrscheinlichkeit um einen Kopfsatz, der den im XVIII. Jahrhundert so beliebten Topos der Jagdmusik auf ebenso originelle wie brillante Art abwandelt. Offenbar ist die Niederschrift bis zur Reprise gediehen, so daß in diesem Fall die Stadlersche Vervollständigung auf gesicherterem Grund zu stehen scheint als bei den beiden anderen Fragmenten. Wer aber die Kammermusik Mozarts gerade der letzten Schaffensjahre auf „Reprisen-Surprisen“ hin untersucht hat, wird zugeben müssen, daß auch hier der Versuch, das Werk Mozarts fortzuschreiben, bestenfalls naiv ist. Vielleicht bietet aber gerade unsere Zeit, die doch eine besondere Vorliebe für das vielzitierte work in progress entwickelt hat, und deren Interesse am Fragmentarischen und Unvollendeten manchmal sogar fetischistische Züge annimmt, ganz gute Voraussetzungen, um die bisher kaum je in ihrer Originalgestalt zu hörenden Blätter einfach als das zu nehmen, was sie sind: als geniale Torsi, die das Rätsel Mozart noch weiter vertiefen.

© Claus-Christian Schuster