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Zur Erstfassung von Mendelssohns D-moll-Trio

Musikfreunde : Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien / Jänner 2009  

Vom Werden der Perfektion

Eine Mendelssohn-Uraufführung im Jahr 2009

Felix Mendelssohns d-Moll-Klaviertrio op. 49 gilt als eines der herrlichsten Werke der Kammermusik überhaupt. Wenn das stets neugierige Altenberg Trio nun erstmals in moderner Zeit dessen Urfassung erarbeitet, tut es damit einen Blick in die faszinierende Werkstatt des Komponisten.

Es sei „das Meistertrio der Gegenwart“ und „eine gar schöne Komposition, die nach Jahren noch Enkel und Urenkel erfreuen wird“, sein Autor „der Mozart des neunzehnten Jahrhunderts, der hellste Musiker, der die Widersprüche der Zeit am klarsten durchschaut und zuerst versöhnt“: So schwärmte einst Schumann über Felix Mendelssohns prächtiges Klaviertrio d-Moll op. 49. Dass dessen nahezu sprichwörtliche Perfektion jedoch keineswegs vom Himmel gefallen ist, sondern das Produkt eines langen, vielgestaltigen Arbeitsprozesses darstellt, wird gerne vergessen.

Das Klischee von „begnadeten angelischen Gestalten wie Mozart und Mendelssohn, denen alles zufliegt“ – Claus Christian Schuster kennt es zur Genüge. Den klugen Pianisten und Spiritus rector des Altenberg Trios treibt jedoch gemeinsam mit seinen Kollegen Amiram Ganz (Violine) und Alexander Gebert (Violoncello) auch das Verlangen, „dem Publikum sinnfällig vor Ohren zu führen, dass auch bei diesen Komponisten unglaublich viel Arbeit nötig ist, ein konsequentes Meißeln an einer gedachten Idealgestalt, die man ohnedies nie erreicht“.

Mendelssohn – Uraufführung!

Da trifft es sich hervorragend, dass die Leipziger Mendelssohn-Gesamtausgabe aktuell den Band mit Klaviertrios vorbereitet: eine für das Altenberg Trio perfekt passende Aufgabe, die einst in privatem Rahmen präsentierte Frühversion von op. 49 erstmals wieder zu spielen. „Es ist also eigentlich eine Welturaufführung“, betont Claus Christian Schuster, als er im Oktober 2008 zum Zeitpunkt unseres Gesprächs gerade mit Neugier und Akribie die Druckfahnen der Ausgabe studiert. Wobei von „der“ Urfassung streng genommen gar nicht die Rede sein kann: Im August 1838 berichtet Mendelssohn seinem Komponistenfreund Ferdinand Hiller von seiner Absicht, „nächstens ein paar Trios zu schreiben“. Im September 1839 ist das d-Moll-Opus dann in erster Reinschrift fertig.

„Nach der Aufführung in einem Hauskonzert 1839 machte Mendelssohn kleine Umarbeitungen, da er offenbar nicht ganz zufrieden war“, berichtet Schuster und gerät ins Schwärmen: „Wenn man bedenkt, was er alles geleistet hat: Komponieren, Dirigieren, Korrespondenz … Er hat sich um die sozialen Sorgen seiner Orchestermitglieder genauso gekümmert wie darum, dass sie in den gedruckten Stimmen gut umblättern konnten. Unfassbar: ein Mensch mit so vielfacher Arbeitsbelastung und dennoch solcher Offenheit – ein Wunder!“

„Etwas altmodisch“?

Die verbesserte Version nun hat Hiller bei einem Besuch im Dezember 1839 gesehen. „Gewaltig impressionirte mich das Feuer und Leben, der Fluß, die Meisterschaft in einem Wort, die sich in jedem Tact geltend macht“, bekannte er fast vierzig Jahre später, meinte aber auch, er habe den Klavierpart nicht brillant genug, sondern „etwas altmodisch“ gefunden. Ein Grund für Mendelssohn, weitere Änderungen anzubringen. „Aber“, wendet Schuster ein, „die Erstfassung steht der späteren gedruckten in dieser Hinsicht nicht wesentlich nach. Gut, einiges ist mehr auf den Punkt gebracht, aber Hillers Einfluss kann nicht so überragend gewesen sein.“ Immerhin führten die Schärfungen und Präzisierungen zu einer Verknappung des Stirnsatzes um fast 90 Takte auf 616 in der endgültigen Fassung. – Die nominelle Uraufführung des Werks fand dann am 1. Februar 1840 im Leipziger Gewandhaus statt. „Möglicherweise gab es sogar noch eine Zwischenversion, bevor das Trio dann im April 1840 im Druck erschienen ist“, vermutet Schuster – und das, obwohl man sich doch gerade bei diesem schlechthin vollendet scheinenden Werk schwerlich eine andere als die bekannte Gestalt vorstellen kann.

Tücke im Detail

„Man denkt zum Beispiel, das Thema des zweiten Satzes, dieses ‚Liedes ohne Worte‘, müsse Mendelssohn wohl einfach so eingefallen sein – weit gefehlt! Es gibt da zwar keine gravierenden Unterschiede, aber doch andere harmonische Wendungen und melodische Modifikationen, die man auf den ersten Blick für unwahrscheinlich hält. Der Mittelteil ist sogar völlig neu komponiert, umfasst aber dort wie da exakt 29½ Takte.“ – Der wahrscheinlich auffälligste Unterschied, während die vielen, aber kleinen Änderungen im Scherzo den meisten Hörerinnen und Hörern verborgen bleiben dürften. Doch keine Sorge: Ein Einführungsvortrag Schusters und der Herausgeberin Salome Reiser im Steinernen Saal wird vor dem Konzert die spannendsten Unterschiede ans Licht holen.

Auch wenn das genaue vergleichende Studium des Finales ihm noch bevorsteht, ist dem Pianisten bereits eines klar: Sich als Interpret mit all diesen geringen Abweichungen vertraut zu machen ist schwerer, als ein ganz neues Stück zu lernen. Womit erwiesen wäre, dass es ein Problem werden kann, wenn man ein Stück im sprichwörtlichen kleinen Finger hat. Ist dergleichen nur mit Wiederholung zu bewältigen?

„Repetitio est mater studiorum“, bejaht Schuster, fügt aber hinzu: „In erster Linie ist es: Wissen! Je mehr man von diesen Unterschieden bewusst weiß und für je mehr von diesen Unterschieden man – zumindest für sich selbst – eine Begründung findet, desto leichter wird es. Aber je mehr man sich ins rationale Bewusstsein holt, desto mehr setzt man seine Intuition, seinen motorischen Automatismus einem Druck aus.“ Eine Zwickmühle, der gerade das Altenberg Trio freilich immer wieder vorbildlich zu entkommen weiß.

Entdeckungssucht, Eroberungslust

Eine besonders geliebte Stelle im leidenschaftlichen ersten Satz freilich wird Claus Christian Schuster in der Urfassung vermissen müssen: Die Reprise tritt da ganz traditionell mit dem Hauptthema im Fortissimo ein, während in der späteren Version nach einem Verebben der Durchführung das Geschehen mit dem zunächst liegenden, dann absteigenden a der Violine in die Reprise förmlich hineinsinkt und in der Folge Mendelssohn uns mit einer überraschend aufleuchtenden Wendung beschenkt, die F-Dur statt des d-Moll-Sextakkordes einsetzt: „Die Gnade der Mediante – eine der glücklichsten Stellen der Kammermusik. Zumindest in der Klaviertrio-Literatur kenne ich kaum etwas, das damit konkurrieren könnte!“ – Ein Urteil aus wahrlich berufenem Munde, kann es doch an Repertoire kein vergleichbares Ensemble auch nur annähernd mit dem Altenberg Trio aufnehmen.

Schuster spricht da mittlerweile mit leiser Selbstironie von „Entdeckungssucht“ und „donjuanesker Eroberungslust“ und äußert den gemeinsamen Wunsch des Altenberg Trios, sich fürderhin noch mehr Zeit zu geben, um in die Tiefe zu gehen und die Interpretationen reifen zu lassen. „Wir können unsere Ansprüche ohnehin nie so hoch schrauben, dass sie den Ansprüchen des Komponisten und des Werkes gerecht würden. Artur Schnabels berühmter Satz ‚Ich spiele prinzipiell nur Musik, die besser ist, als man sie spielen kann‘ hat den einen Fehler, dass dadurch das Publikum der Vergleichsskala beraubt wird. Deshalb werde ich nicht müde, Grillparzer zu zitieren: ‚Man kann die Großen nicht verstehen, wenn man die Obskuren nicht durchgeführt hat.‘ Man muss doch manchmal Sachen aufführen, die möglicherweise nicht um so viel besser sind, als man sie spielen kann. Und vielleicht“, fügt Claus Christian Schuster verschmitzt hinzu, „kann man sich dabei manchmal sogar das Vergnügen verschaffen, etwas so gut zu spielen, wie es ist.“

Walter Weidringer

Walter Weidringer ist Musikkritiker der „Presse“ und Verlagsmitarbeiter bei Doblinger, unterrichtete am Institut für Musikwissenschaft der Universität und lebt als freier Musikpublizist in Wien.