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An die nahe Ungeliebte

Lichtwark_Alfred

Aus der Fülle der Ungerechtigkeit, mit der die europäische Menschheit des neunzehnten Jahrhunderts ihre führenden Geister überschüttet hat, wird sich wie an einem Experiment nachweisen lassen, daß die Fähigkeit des originellen Urteils ebenso selten vorhanden ist wie die Gabe der originellen Produktion, und daß in der Regel nicht einmal Klarheit herrscht über das Wesen des Urteils in künstlerischen Dingen (…) Wer die bekannten und oft gehörten Wendungen in den Mund nimmt: Vom Künstler verlange ich, der Künstler soll, der Künstler muß, – der beweist damit nur, daß er keine Ahnung hat, wie das Kunstwerk entsteht. Mit solchen Forderungen mag er dem Handwerk gegenübertreten, das ihm dient, er mag sie vor der breiten Masse der künstlerischen Produktion erheben, der Marktware, die einem vorhandenen Bedürfnis entgegenkommt. Nach der Kunst des Genies hat kein Mensch auf der Welt Bedürfnis, ehe sie da ist, außer dem einen, der sie erzeugt.

Alfred Lichtwark, Die Seele und das Kunstwerk (1902)

Diese zu Beginn unseres Jahrhunderts gemachten Bemerkungen, dürfen mutatis mutandis – also etwa: indem man „neunzehntes“ durch „zwanzigstes“ ersetzt – auch an seinem Ende wiederholt werden. Vielleicht sind sich heute, nachdem uns das zur Neige gehende Jahrhundert eine nie zuvor gekannte Überfülle an Ismen und damit an sich immer ändernden Wertmaßstäben und Beurteilungskriterien beschert hat, mehr Menschen der mit jedem künstlerischen Urteil verbundenen Risiken und Unsicherheiten bewußt, und die Ungerechtigkeiten, die wir in dieser Hinsicht heute zu begehen bereit sind, haben daher etwas von ihrer Heftigkeit eingebüßt – zumindest zwischen zivilisierten Menschen, die nicht gerade an der Eroberung politischer Mandate mithilfe von Bierzeltparolen arbeiten.

In unseren Konzertsälen ist bei der Aufführung zeitgenössischer Musik die Leidenschaft von Ablehnung und Zustimmung, wenn es sich nicht um Fälle kommerziell verordneter Ekstase handelt, einer wohltemperierten Allerweltsartigkeit gewichen, die den Komponisten recht oft im Unklaren darüber läßt, ob sein Werk nun auf teilnehmende oder taube Ohren gestoßen ist. Wenige Tage vor der Uraufführung seiner Rythmes für Orchester schreibt Frank Martin einem Freund:

„Dabei muß ich noch froh sein, wenn man mich auspfeift, das wäre ein Erfolg; hingegen der trübe Schleier der Gleichgültigkeit, der sich langsam auf ein unbekanntes Werk niedersenkt!“

(an André Berge, 7. Dezember 1929)

So besehen sollten auch wir vielleicht stellvertretend für die Komponisten über jene langjährigen Abonnenten froh sein, die uns angesichts des diesjährigen Programms den Rücken gekehrt haben – das ist zwar etwas weniger leidenschaftlich als das Auspfeifen, aber doch immer noch einen deutlichen Schritt von der Gleichgültigkeit entfernt.

Der Gleichgültigkeit folgt die Verachtung. Das apodiktische Urteil „Des is ka Kunst!“ hat die Kunst unseres Jahrhunderts in allen Schattierungen, vom leidenschaftlich empörten Schlachtruf bis zum verächtlichen Stammtischrülpser, getreulich begleitet.

Obwohl uns allen die unmittelbare Vergleichsmöglichkeit fehlt, haben wir wohl nicht ganz ohne Grund das Gefühl, es sei noch keine der uns rekonstruierbaren Epochen der Menschheitsgeschichte mit ihrer eigenen Kunst so zerfallen gewesen wie die unsere. Die Ratlosigkeit, mit der manchmal auch willige und aufgeschlossene Besucher ganze Saalfluchten unserer Museen schlechten Gewissens durcheilen, ist ein bedenkliches Symptom. Gewiß, das Neue, Ungewohnte und Unerhörte hat immer eine Weile gebraucht, bevor es zum vertrauten und sanktionierten Kulturgut werden konnte. Wenn aber Schönbergs „Erwartung“ noch drei Generationen nach der Uraufführung einen Exodus des Publikums provoziert, so ist diese Weile auf dem besten Wege, sich zur Ewigkeit auszuwachsen.

Über die Gründe und Hintergründe dieses Phänomens haben einige der brillantesten Köpfe unseres Jahrhunderts schreibend nachgedacht, und es wäre verwegen, diesen Gedanken hier noch etwas hinzufügen zu wollen. Klar ist wohl, daß die immer unerträglicher werdende Zeitspanne, die uns auf diese Weise von unserer eigenen Gegenwart zu trennen droht, nur durch eine bewußte Willensanstrengung überbrückt werden kann. Daß das geistige Vakuum, das sich zwischen dem vereinsamten Genie und seiner erholungs- und unterhaltungsbedürftigen Mitwelt auftut, vor allem dann ein Tummelplatz für die frechste Scharlatanerie zu werden droht, wenn auch das Genie in seiner Flucht vor den Zumutungen der Masse zur Provokation zu greifen gezwungen ist, sollte uns bei dieser Willensanstrengung zur Vorsicht mahnen, aber nicht lähmen. Der Kulturmarkt kann uns bei der Suche nach der Kunst unserer Zeit sicher keine Orientierung bieten; denn hier wird unterschiedslos alles, Aufschrei und Täuschung, Geschaffenes und Geraubtes, zu Schmieröl in der verläßlichen Maschinerie von Angebot und Nachfrage weiterverarbeitet. Der schöpferische Mensch unseres Jahrhunderts, der wie der aller vorangehenden ein Einsamer im Herbst ist, spricht zu uns durch die tosende Brandung einer immer lauter werdenden Zeit. Von seiner Rede hören wir nur einzelne zusammenhanglose Silben. Wir sollten versuchen, von seinen Lippen zu lesen.

Die Zumutungen, die das Publikum für den Künstler bereit hält – der Künstler soll, der Künstler muß –, sind rührende und harmlose Dummheiten im Vergleich zu jenen brutalen Zwängen, denen der Markt ihn unterwirft. Schon Brahms muß einen beträchtlichen Teil seiner Zeit der „Propagandaarbeit“ opfern: auf ausgedehnten und kräfteraubenden Tourneen widmet er sich der Vermarktung seiner künstlerischen Produktion. Es ist wichtig zu sehen (und würde viel zu weit führen, hier nachzuweisen), daß diese Konzertreisen sich nicht nur quantitativ, sondern auch ihrem Wesen und ihrer Funktion nach von denjenigen Mozarts grundlegend unterscheiden. Die künstlerische Produktion ist ein Wirtschaftszweig geworden, der keinen Anspruch auf Sonderbehandlung stellen darf. Die vielzitierte, aber wenig verstandene Argumentation von Adolf Loos in seinem Aufsatz ornament und verbrechen (1908) bringt diese Sachlage in enthusiastischer Offenheit zur Sprache:

„Evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornaments aus dem gebrauchsgegenstande. […] Das fehlen des ornaments hat eine verkürzung der arbeitszeit und eine erhöhung des lohnes zur folge. Ornament ist vergeudete arbeitskraft und dadurch vergeudete gesundheit. So war es immer. Heute bedeutet es aber auch vergeudetes material, und beides bedeutet vergeudetes kapital.“

Die praktische Funktionslosigkeit des Ornaments erscheint hier als eine läßliche Sünde, verglichen mit der Todsünde der Kapitalverschwendung: Erst in dieser Ideologie findet das Wort „Kapitalverbrechen“ seine innigste Bedeutung. Wenn aber der ästhetische Lustgewinn, den das funktionslose Ornament „primitiveren“ Kulturen und Menschen gewährte ( – Loos spricht mit der Nonchalance des europäischen Herrenmenschen von Kaffern, Papuas, Persern und, natürlich, von den Frauen – ), den Erfordernissen der Wirtschaftlichkeit geopfert werden muß, ist flugs Ersatz geschaffen:

„Wir haben die kunst, die das ornament abgelöst hat. wir gehen nach des tages last und mühen zu Beethoven oder in den Tristan.“

Loos würde sich wohl gehütet haben, nach des tages last und mühen zu Mahler, Schönberg, Ravel oder Skrjabin zu gehen, obwohl doch das seine engeren Zeitgenossen waren. Die Kunst darf – als legitimer Ersatz für das geächtete Ornament – der praktischen Funktionalität entraten, aber sie muß trotzdem eine klar umrissene Aufgabe im Räderwerk der Wirtschaft erfüllen: sie hat den im Dienste des Kapitals tätigen Menschen nach des tages last und mühen zu erbauen und zu unterhalten. Was der Lehrer des Nietzsche-Jüngers Loos zu diesem Konzept zu bemerken hatte, ist am Beginn der Ersten Unzeitgemäßen Betrachtung (1873) nachzulesen, wo Nietzsche über die „Kulturschaffenden“ schreibt:

„…denn dies ist doch ersichtlich eine zusammengehörige Gesellschaft, die sich verschworen zu haben scheint, sich der Muße- und Verdauungsstunden des modernen Menschen, das heißt seiner „Kulturmomente“ zu bemächtigen und ihn in diesen durch bedrucktes Papier zu betäuben.“

Wer es aber versteht, die Kunst als Betäubungsmittel einzusetzen, der darf getrost auf das sprichwörtliche Opiumsurrogat Religion verzichten. Die so dienstbar gemachte und gezähmte Kunst ist völlig gefahrlos und muß nicht einmal für Kinder unerreichbar aufbewahrt werden.

Die Kunst, die sich diesem Joch entziehen möchte, muß zwangsläufig immer tollere Capriolen schlagen, um der Versklavung zu entgehen. Der Dadaismus und alle seine Nachkommen sind die logische Antwort auf den totalitären Kapitalismus. Der zum Konsumenten mutierte Mensch, der über eine solche, ihn in seinen „Kulturmomenten“ irritierende Provokation stolpert, wird in reflexhafter Notwehr zur Wortkeule „Des is ka Kunst!“ greifen. Ist man erst einmal mit der ungebärdigen Kunst handgemein geworden, fällt es ganz leicht, sie mit der gehörigen Inbrunst zu hassen. Die aufdringliche und zählebige Ungeliebte, die uns mit ihren frechen Annäherungsversuchen verfolgt, hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn wir uns angeekelt abwenden.

Daß in dieser Konstellation überhaupt noch Kunst entstehen kann, die mehr und anderes ist als Betäubungsmittel oder Provokation, ist schlicht ein Wunder, aber dennoch eine Tatsache, von der wir uns selbst und Sie an den nächsten fünf Abenden überzeugen wollen. Dieser Rückblick auf ein verkanntes Jahrhundert soll auch Abschied von einem ungeliebten Jahrhundert sein. Die Auswahl der hier aufgeführten Werke ist, wie jede denkbare, willkürlich und subjektiv. Doch alle sind sie legitime Kinder dieses unseres Jahrhunderts, und wie alle Kinder bedürfen sie unserer Liebe noch mehr als unseres Geldes. Vielleicht wird ein ferner Betrachter einmal auch unserem Bemühen um diese ungeliebten Problemkinder den rührend naiven Trost spenden dürfen, den Jeitteles und Beethoven für ihre Ferne Geliebte fanden:

Dann vor diesen Liedern weichet,
Was geschieden uns so weit,
Und ein liebend Herz erreichet,
Was ein liebend Herz geweiht.