Martinů – Trio H. 193

Bohuslav Martinů
* Polička, 8. Dezember 1890
Liestal bei Basel, 28. August 1959

Cinq pièces brèves pour violon, violoncelle et piano (H. 193)

komponiert: Paris, 20.-30. Mai 1930
Uraufführung: Paris, 14. November 1930, Trio Filomusi
Erstausgabe: Schott, Mainz, 1931

Das Paris der Zwischenkriegszeit nimmt in der musikgeschichtlichen Kartographie einen ganz unbestrittenen Ehrenplatz ein. Die Fülle und Dichte der hier entstandenen und uraufgeführten Kompositionen, die stilistische Weite und Originalität der hier gefundenen Lösungen verblüffen im Rückblick auch heute noch. Eine Besonderheit des Pariser Musiklebens jener fieberhaft produktiven Jahre war dabei das einzigartig dichte Beziehungsgeflecht, das Komponisten, Dichter, Maler, Bildhauer, Tänzer, Schauspieler und Musiker in unablässig wechselnde, bald innige, bald losere Gruppen einband. Die Chronik dieser schöpferischen Begegnungen und Auseinandersetzungen, die sie begleitenden und dokumentierenden Briefe, Tagebücher und Zeitungsartikel sind längst zentraler Bestandteil der europäischen Geistesgeschichte geworden, und keine ernsthafte Beschäftigung mit den Ideen des XX. Jahrhunderts kann an diesen Zeugnissen vorübergehen. Trotz der Kurzlebigkeit der Zusammenarbeit hat wohl keine andere Komponistengruppe des Jahrhunderts die Phantasie des Publikums ähnlich nachhaltig angeregt wie „Les Six“, deren Wirken im Bewußtsein des heutigen Hörers stellvertretend für diesen konkreten Zeitort steht. Mit ihrem von Jean Cocteau literarisch begleiteten Schaffen haben Louis Durey, Germaine Tailleferre, Darius Milhaud, Arthur Honegger, Francis Poulenc und Georges Auric ein Gesamtkunstwerk hinterlassen, dessen Bedeutung sich in den aktuellen Aufführungszahlen ihrer einzelnen Werke nur ungenügend widerspiegelt. Erik Satie, um eine ganze Generation älter als diese „Nouveaux Jeunes“ und ihr unberechenbarer, dilettantischer und leidenschaftlicher Mentor, versammelte zusätzlich ab 1922 eine weithin unbekannt gebliebene Gruppe junger Komponisten um sich, die sich nach Saties Wohnort „École d´Arcueil“ nannte, und der neben Henri Cliquet-Pleyel und Roger Desormière zwei Musiker aus Bordeaux angehörten: Henri Sauguet und Maxime Jacob. (Sauguet hatte schon zwei Jahre zuvor in seiner Heimatstadt mit Jean Marcel Lizotte und Louis Émié den Pariser „Six“ in gebührendem provinziellem Respektabstand mit „Les Trois“ nachgeeifert.)

Neben diesen „nonkonformistischen“ Gruppierungen hatten natürlich die traditionsreichen Ausbildungsstätten wie Conservatoire und Schola Cantorum ihre Netzwerke, denen eine ganze Reihe origineller und einflußreicher Komponistenpersönlichkeiten angehörten. Obwohl die weltpolitische Zäsur des Jahres 1914 viele der den Reichtum der Pariser Musikszene mitbestimmenden Ausländer wie Casella und De Falla vertrieben hatte, sorgte die dominante Präsenz Stravinskijs und etwa ein Künstler von der Eigenart Georges Enescus für die Bewahrung des kosmopolitischen Flairs der Stadt. Und abseits von all dem ging der alternde ehemalige Konservatoriumsdirektor Gabriel Fauré ebenso unbeirrbar seinen eigenwilligen und erstaunlichen Weg wie sein genialer Schüler Maurice Ravel. In der Tat würde die bloße Aufzählung der markanten und erinnernswerten Komponisten, die in den ersten Nachkriegsjahren in Paris wirkten, mehrere Seiten füllen.

Das ist das Umfeld, in das im Oktober 1923 ein nicht mehr ganz junger tschechischer Tonsetzer namens Bohuslav Martinů kam. Der Dreiunddreißigjährige hatte sich Albert Roussel zum Lehrer erkoren – eine sicher nicht zufällige Wahl: Roussel selbst hatte sein Kompositionsstudium als Spätberufener bei Vincent d´Indy an der Schola Cantorum begonnen und hier danach bis 1914 unterrichtet; dabei war ab 1905 auch der um drei Jahre ältere Satie sein Schüler gewesen. Auch Martinůs musikalischer Werdegang entsprach, wenn auch in andere Weise als derjenige Roussels oder Saties, durchaus nicht der Norm: Der in der Türmerstube eines Glöckners und Schusters aufgewachsene Knabe hatte zwar, in leidlicher Übereinstimmung mit der traditionellen Wunderkindmythologie, im Alter von etwas mehr als zwölf Jahren sein erstes Streichquartett beendet und war dann noch vor seinem sechzehnten Geburtstag als Stipendiat seiner ostböhmischen Heimatstadt Polička Geigenschüler am Prager Konservatorium geworden; im März 1908 war er aber wegen eines vom Konservatorium nicht genehmigten Konzertauftritts von der Anstalt relegiert und erst nach mühsamen Interventionen gegen Ende des Schuljahres erneut zum Studium zugelassen worden. Zwischen Oktober 1909 und Mai 1910 hatte er als Schüler der Orgelklasse auch ersten Tonsatzunterricht genossen, war aber am 4. Juni 1910 wegen „unverbesserlicher Nachlässigkeit“ endgültig des Konservatoriums verwiesen worden. In den Jahren danach hatte er als Privatschüler in unregelmäßigen Abständen Kompositionsstunden mit Dvořáks Schwiegersohn Josef Suk gehabt, im Dezember 1914 im zweiten Anlauf das Staatsexamen geschafft und zwischen 1916 und 1920 als Geigenlehrer der städtischen Musikschule in Polička sein Auslangen gefunden. Im Herbst 1920 hatte er in der Tschechischen Philharmonie am dritten Pult der zweiten Geigen Platz genommen und in der Folge auch seine Konsultationen mit Josef Suk wieder aufgenommen. Und hier in Prag hatte er 1922 in einem Konzert der English Singers auch eine ihn nachhaltig prägende erste Begegnung mit der Musik der Renaissance gehabt.

Ohne Zweifel hatte Martinů noch viel zu lernen – aber man kann durchaus nicht behaupten, er habe das Unterrichtszimmer Roussels mit leeren Händen betreten. Der minutiöse Werkkatalog, den Harry Halbreich mühevoll erstellt und 1968 veröffentlicht hat, verzeichnet für den Zeitraum bis zu Martinůs Ankunft in Paris im Oktober 1923 nicht weniger als 131 Kompositionen. Trotzdem sollte die zwei Jahre lang dauernde Lehrzeit bei Albert Roussel der entscheidende Wendepunkt in Martinůs Schaffen werden. Etwa in der Mitte dieser Lehrzeit entsteht 1924 das erste der von Martinů so genannten „Semaphore“ – jener Schlüsselwerke, die sein Œuvre in größere Sinnzusammenhänge gliedern: Das während eines Sommeraufenthaltes im heimatlichen Polička niedergeschriebene Rondo für großes Orchester bekam denn auch den (sich allerdings auf ein Fußballmatch beziehenden) Titel „Half-time“ (im Halbreich-Katalog die Nummer 142) und wurde noch im Dezember 1924 von Martinůs ehemaligen Orchesterkollegen der Tschechischen Philharmonie unter der Leitung von Václav Talich aufgeführt, dem das Werk auch gewidmet ist. Nach Martinůs eigener Einschätzung ließ er mit diesem Werk das XIX. Jahrhundert und die Sphäre impressionistischer Echos endgültig hinter sich; und schon im Mai 1925 war Half-time auf dem Musikfest der damals gerade drei Jahre alten Internationalen Gesellschaft für Neue Musik in Venedig zu hören – der erste große internationale Erfolg Martinůs. Beflügelt von diesem Erlebnis schrieb der Komponist bei seinem nächsten sommerlichen Heimaturlaub 1925 das zweite der „Semaphore“, nämlich sein Zweites Streichquartett (H. 150), das, untrügliches Indiz für den stetig wachsenden Ruf des Komponisten, im November des selben Jahres in Berlin uraufgeführt wurde und bald darauf in das Repertoire gleich mehrerer Ensembles der Quartettavantgarde (Quartett Amar-Hindemith, Pro Arte Quartett etc.) gelangte.

Obwohl Martinů unermüdlich und diszipliniert arbeitete, entsprach sein Pariser Lebenswandel – wie man ja aufgrund seiner Herkunft billig erwarten durfte – in diesen ersten Jahren durchaus dem oftstrapazierten (und in seinem Fall einen konkonkreteren Unterton gewinnenden) Topos vom „Bohèmien“. Eine Änderung und Wendung zu „geordneteren“ Verhältnissen zeichnete sich ab, als er im November 1926 bei einer Vorstellung des Zirkus Medrano die Näherin Charlotte Quennehen kennenlernte. Die beiden Landkinder – Charlotte stammte aus der Picardie – waren in der Metropole bald unzertrennlich, und das feinfühlige und fleißige Mädchen gab Martinůs Leben festen Halt. Mit ihr gewann sogar die ärmliche Junggesellenbude auf dem Montparnasse (Rue Delambre 11-bis), wo Martinů als Untermieter seines Freundes Dr. Nebesky wohnte, und deren einzige Zierde, der ganze Stolz des Komponisten, das unentbehrliche Klavier war, wohnlichere Züge; und im Frühling 1929 fand Charlotte schließlich in der Rue Mandar, einer kurzen Seitenstraße der Rue Montmartre, auf Nummer 12 ein einigermaßen annehmbares und erschwingliches „eigenes“ Domizil. In der Rue Delambre hatte Martinů in unmittelbarer Nachbarschaft der Gräber von César Franck und Camille Saint-Saëns gewohnt, hier befand sich das junge Paar jetzt nur einige Schritte nördlich von Saint-Eustache, wo Mozart am 4. Juli 1778 seine Mutter begraben hatte müssen, und der von Zola verewigten (aber in der Zwischenzeit von den Stadtplanern in Zusammenarbeit mit Renzo Piano und Richard Rogers ausgelöschten) Markthallen, einem Zentrum Pariser Volkslebens. Hier war man auch „im Auge des Orkans“, als der Börsenkrach vom 25. Oktober 1929 das Weltwirtschaftsgefüge seiner bis dahin schwersten Belastung aussetzte – die Rue Mandar befindet sich genau zwischen den beiden Pariser Börsen (Bourse des Valeurs und Bourse de Commerce).

Charlotte erinnert sich:

„[Die Wohnung] war nicht besonders, eher häßlich, und befand sich in einem scheußlichen Haus voller Katzen. Das Treppenhaus zierte eine Kreideinschrift: „Von den Katzen wird erwartet, daß sie die Treppen nicht naß machen.“ […] Schmutzige Kinder machten vor dem Haus zwischen Kisten und weggeworfenem Papier einen höllischen Lärm. Ein tschechisches Sprichwort sagt „Für wenig Geld gibt es wenig Musik“, doch bei uns gab es viel Musik und wenig Geld. Aber endlich hatte Martinů ein geräumiges Zimmer für das Klavier, dazu besaßen wir ein kleines Schlafzimmer und die Küche. Zu der Zeit komponierte mein Mann ununterbrochen, hauptsächlich Kammermusik.“

„Bohuš“, der am 21. März 1931 auch vor dem französischen Gesetz Charlottes Mann werden sollte, schrieb in den knapp vier Jahren, die er mit seiner jungen Frau in der Rue Mandar verbrachte, wirklich eine Unmenge an kammermusikalischen Werken; und wenn sich in diesen Kompositionen immer stärker Martinůs sehr persönliche Reaktionen auf die Phänomene des damals Paris erobernden Jazz und der amerikanisch geprägten Tanzmusik bemerkbar machen, so wird man darin auch ein zärtliches Eingehen auf die naiven Vorlieben Charlottes sehen dürfen – wohl nicht zufällig läßt Martinů die seiner Braut gewidmeten Huit Préludes für Klavier (H. 181, 1929) mit einem Blues beginnen und mit einem Fox-Trot enden. Jedenfalls hat man die ersten Jahre der Beziehung zu Charlotte als Martinůs „Jazz-Periode“ bezeichnet, und Werke wie die unverwüstlich dadaistische Revue de Cuisine (H. 161, 1927, für Klaviertrio und drei Bläser), das programmatische Orchesterstück Le Jazz (H. 168, 1928) und die erst posthum veröffentlichte anspruchslosere Jazz Suite für Kammerensemble (H. 172, 1928), vor allem aber die erste Violinsonate (H. 182, 1929) mit ihren brillanten Kadenzen sowie die vom Komponisten selbst als Schlüsselwerk eingestuften und seinem zukünftigen Biographen, dem Kulturattaché der tschechischen Botschaft in Paris, Miloš Šafránek, gewidmeten Cinq pièces brèves (H. 184, 1930) für Violine und Klavier scheinen diese Bezeichnung vollauf zu rechtfertigen. Es wäre allerdings verfehlt, in den „jazzigen“ Elementen dieser Kompositionen ihren eigentlichen Wesenskern sehen zu wollen. Martinů bedient sich einer klar umrissenen Auswahl von Prozeduren und Strategien, die für den Jazz in seiner damaligen Entwicklungsphase stilprägend waren, um ganz bewußt an der Schärfung und Konturierung seines eigenen Personalstils zu feilen. Die Zielstrebigkeit dieses Prozesses kann man beispielhaft an den beiden den selben Titel tragenden und kurz hintereinander entstandenen Werken Cinq pièces brèves studieren. In dem kurz vor unseren Triostücken entstandenen Miniaturen für Violine und Klavier hatte Martinů die „plakative“, auf den unmittelbar assoziativen Effekt abzielende Verwendung der Jazzelemente zugunsten einer strafferen, die kristalline Kontur der knappen rhythmischen Motive betonenden Textur aufgegeben und damit einen wichtigen – eben „semaphorhaften“ – Schritt zur Verinnerlichung der dem Jazz abgelauschten Gestaltungsmöglichkeiten getan. Das Schwesterwerk, eben unsere im Mai 1930 niedergeschriebenen Cinq pièces brèves für Klaviertrio (übrigens Martinůs erste Komposition für diese Instrumentenkombination, der in den nachfolgenden Schaffensjahren noch drei weitere folgen werden), schreiten auf diesem Weg noch wesentlich weiter voran – so weit, daß der Komponist selbst verwundert scheint, wohin ihn seine Expedition geführt hat: „Ich weiß nicht, wie ich das Trio zustande gebracht habe; unversehens, als ob es das Werk einer fremden Hand wäre, schrieb ich etwas völlig Neues.“

Als ein befreundeter Bildhauer eines von Martinůs Werken als „wie aus Marmor gemeißelt“ empfand, freute sich der Komponist über diesen Vergleich: er widerspiegelt nämlich durchaus die handwerkliche Absicht des Schöpfers. Die Vorherrschaft prägnanter, gleichsam skulpierter musikalischer „Zellen“, deren Kollisionen die Dynamik des musikalischen Ablaufs bestimmen, hat – trotz der ohrenfälligen Anspielungen auf die modischen Piquanterien des Jazz – wohl mehr mit jenen Lektionen zu tun, die Martinů bei den von ihm bewunderten Meistern der Renaissance und des Barock gelernt hat.

Die Uraufführung des Werkes wurde dank der Inkompetenz, Sorglosigkeit und Überforderung des jungen belgischen Ensembles, dem man diese Aufgabe anvertraut hatte, zu einem veritablen Fiasko; der Eindruck, den die Stücke bei dieser Gelegenheit hinterließen, war armselig – und der bescheidene, oft von Selbstzweifeln geplagte Komponist suchte die Schuld bei sich. Zum Glück erweckte die Partitur trotz ihrer verunglückten Präsentation die Aufmerksamkeit des hellhörigen und in der Pariser Musikszene heimischen Willy Strecker, der zusammen mit seinem älteren Bruder Ludwig Emanuel den seinem Vater gehörenden Verlag Schott in Mainz leitete. Mit der wenige Monate nach seiner blamablen Premiere erfolgten Veröffentlichung des Werkes begann die fruchtbare und langjährige Zusammenarbeit zwischen Martinů und dem Mainzer Verlagshaus. War damit die Ehre der Komposition wenigstens in den Augen des Musik lesenden Publikums gerettet, so ließ auch seine Rehabilitation in den Ohren der Hörer nicht allzu lange auf sich warten: Pierre-Octave Ferroud, der hochbegabte und phantasievolle Initiator der Kammermusikgesellschaft Le Triton (1932-1939), ließ die Cinq pièces brèves  in einem der ersten Vereinskonzerte (am 18. Jänner 1933) durch das Trio Hongrois aufführen – und diese zweite Premiere wurde zu einem Triumph. Nicht zuletzt aus Dankbarkeit gegenüber seinen Interpreten schrieb Martinů für sie in den darauffolgenden Monaten seine beiden Tripelkonzerte (Concert H. 231 und Concertino H. 232). Daß es ausgerechnet das „Trio Hongrois“ war, das Martinů zu seinem Recht verhalf, kommt dabei nicht von ungefähr: Die glückliche Zweisamkeit von „Bohuš“ und Charlotte hatte den Komponisten durchaus nicht isoliert – im Gegenteil: Seit 1927/28 stand er als „Doyen“ im Mittelpunkt eines sehr bunten und unorthodoxen Freundeskreises, der in sicher nicht ganz zufälliger Analogie zur Sechszahl des legendären Vorgängerbundes (den es damals schon nicht mehr gab) sechs Ausländer unter dem etwas ironischen Namen „École de Paris“ vereinte: neben Martinů gehörten dieser Gruppe der Schweizer Conrad Beck, der Russe Aleksandr Čerepnin (Alexandre Tcherepnine), der Rumäne Marcel Mihalovici, der Pole Alexander Tansman und der Ungar Tibor Harsányi an, ein hervorragender Pianist, der 1929 das Trio Hongrois gründete. Die Geschichte dieser erst durch die deutsche Okkupation endgültig zersprengten „École de Paris“, die eine Ideenbörse von wahrhaft europäschem Format war und deren Anregungen im Werk Martinůs omnipräsent sind, muß erst noch geschrieben werden – zu sehr steht sie im Schatten ihres bekannteren Vorbildes, und zu sehr verdecken reflexartige Assoziationen (wie eben diejenige zum Jazz) Eigenart und Selbstwert dieser ungewöhnlichen „Schule“, zu deren erstaunlichsten Lektionen unsere Cinq pièces brèves zählen.

© Claus-Christian Schuster

von Hohenzollern – Trio op. 10

Louis Ferdinand (eigentlich: Friedrich Ludwig Christian) von Hohenzollern, Prinz von Preußen
* Berlin, Schloß Friedrichsfelde, 18. November 1772
† Saalfeld (Thüringen), 10. Oktober 1806

aus dem Grand Trio (Nr. 3), Es-Dur, op. 10:
1. Satz: Introduzione. Adagio cantabile – Molto allegro e con brio

komponiert: wahrscheinlich Frühling/Sommer 1806, Magdeburg und Schricke (Zielitz, Sachsen-Anhalt)
Widmung: Luise Radziwiłłówna, geb. Hohenzollern, Prinzessin von Preußen (1770-1836)
Uraufführung: nicht dokumentiert
Erstausgabe: Werkmeister, Berlin, August 1806

Beethovens illustrer Nachbar auf der Mölkerbastei, Prinz Charles Joseph de Ligne (1735-1814), stellte nach dem mythenumwobenen Schlachtentod des noch nicht vierunddreißigjährigen Louis Ferdinand fest: „Der Prinz Louis Ferdinand ist ein Held für einen Roman, die Weltgeschichte oder eine Sage. Man sah in ihm einen Halbgott. Durch seine Liebenswürdigkeit, seine Anmut und seinen Leichtsinn ist er Mars, Adonis und Alkibiades in einer Person.“ Beethoven selbst, der Prinz Louis Ferdinand im Juni 1796 in Berlin kennengelernt und bei dessen Wienbesuch im September 1804 wiedergetroffen hatte, beurteilte seinen legendären Zeitgenossen nüchterner, aber durchaus wohlwollend: Er spiele „gar nicht königlich oder prinzlich, sondern wie ein tüchtiger Clavierspieler“, und sogar in seinen Kompositionen seien „hie und da hübsche Brocken drin“.

So wahrscheinlich es auch sein mag, daß die musikalischen Werke des preußischen Prinzen ihr Überleben ausschließlich jenem Nimbus verdanken, der ihren Schöpfer in Leben und Tod umgab, so unbestreitbar ist auch, daß ihnen Qualitäten innewohnen, welche die Beschäftigung mit ihnen auch mehr als zweihundert Jahre nach ihrem Entstehen durchaus rechtfertigen.

Als Sohn des jüngsten und mittelmäßigsten der Brüder Friedrichs des Großen, des geizigen und kleinlichen Prinzen Ferdinand (1730-1813), und der kunstbeflissenen Prinzessin Anna Elisabeth Luise von Brandenburg-Schwedt (1750-1811), die mit Angelika Kauffmann befreundet war, genoß Friedrich Ludwig Christian zusammen mit seinen älteren Geschwistern Luise (der Widmungsträgerin unseres Trios) und Heinrich (1771-1790) eine etwas unsystematische, aber vielseitige Erziehung, in der die Beschäftigung mit Musik einen recht prominenten Platz einnahm. Ob seine genialische, aber schrullige Tante Anna Amalia von Preußen (1723-1787), die als einzige der Geschwister Friedrichs des Großen unverheiratet geblieben war und selbst als hervorragende Musikerin und hochtalentierte Komponistin galt, in die musikalische Ausbildung ihres Neffen, dem sie jedenfalls mit großer Sympathie begegnete, eingegriffen hat, ist nicht dokumentiert, aber doch einigermaßen wahrscheinlich. Seine wirklichen Taufnamen hatte der kleine Prinz schon bald nach seiner Geburt – zur Vermeidung innerfamiliärer Verwechslungen – mit den Namen Louis Ferdinand (eine mnemotechnische Chiffre, mit der man den kleinen „Louis“ seinem Vater Ferdinand zuordnete) vertauschen müssen; und diese erste Enterbung sollte symptomatisch für das kurze und konfliktreiche Leben des Prinzen werden. Von der Mutter spätestens seit der Geburt des Nachzüglers August (1779-1843), dem von nun an alle Liebe und eine das Pathologische streifende Aufmerksamkeit galt, kaum wahrgenommen, vom Vater, dem er in kaum einem Charakterzug ähnlich war, nur als leichtsinnig und verschwenderisch kritisiert, ging Louis Ferdinand zusammen mit seinem kränklichen und geistig nicht sehr wendigen Bruder Heinrich durch die Hände einer ganzen Reihe ernsthaft bemühter, aber meist heillos überforderter Hauslehrer. Seine angeborene Schlagfertigkeit und geistige Wendigkeit hatten ihn aber schon sehr früh zum erklärten Liebling seines königlichen Onkels gemacht, dessen Geschwister Heinrich (1726-1802) und Anna Amalia aus ihrer Sympathie für den brillanten Neffen ebenfalls kein Hehl machten. Über die musikalische Ausbildung des Prinzen wissen wir recht wenig Konkretes: Johann Niklaus Forkel (1749-1818), der Nestor der historischen Musikwissenschaft in Deutschland, nennt den Berliner Komponisten, Flötisten und Pianisten Carl Wilhelm Glösch (1732-1809) als ersten Musiklehrer – eine recht naheliegende Vermutung, wenn man bedenkt, daß Glösch von 1765 bis zu seinem Tode als maître de musique bei Louis Ferdinands Mutter angestellt gewesen sein soll. Jedenfalls hatte Louis Ferdinand, als er im März 1789, am Vorabend der Zeitenwende, die einem preußischen Prinzen unausweichlich vorgezeichnete Militärlaufbahn einschlug, schon den Ruf eines bemerkenswerten Klavierspielers und Improvisators. In dem der französischen Revolution folgenden Krieg gegen Frankreich (1792/94) hatte der junge Heißsporn nicht nur Gelegenheit, sich durch Mut und strategischen Instinkt auszuzeichnen und so schon früh zu einer weit über die Grenzen seiner Heimat bekannten und verehrten Figur des öffentlichen Lebens zu werden, er nützte auch alle sich (in den Kriegen des XVIII. Jahrhunderts noch vergleichsweise häufig) bietenden Freiräume zur musikalischen Betätigung und Vervollkommnung. Als man ihm dann nach Kriegsende 1795 ein Infanterieregiment in Magdeburg überantwortet – wohl weniger in Anerkennung seiner Verdienste, sondern in erster Linie, um seinen unberechenbar scheinenden Tatendrang zu dämpfen –, bekämpft er die nicht unbegründete Furcht, „daß unsere trostlose und langweilige Garnison mein ganzes musikalisches Genie weggeschwemmt hat“, mit vermehrtem und vertieftem Studium der Kompositionslehre. Einiges deutet darauf hin, daß Louis Ferdinand etwa um diese Zeit in dem eben nach längeren Aufenthalten in Paris und London nach Deutschland zurückgekehrten Komponisten und Pianisten Heinrich Gerhard von Lenz (1764-1839), der viel später in Chopins Biographie eine ephemere Rolle spielen sollte, einen handwerklich soliden Mentor gefunden hat. Zwar scheint dieser Kontakt nur von kurzer Dauer gewesen zu sein, er könnte aber mit dazu beigetragen haben, daß das kompositorische Schaffen Louis Ferdinands seinen Schwerpunkt in der Klavierkammermusik finden sollte – jenem Genre, in dem Lenz (wie seine Pariser und Londoner Veröffentlichungen belegen) besonders erfolgreich war. Am 17. März 1796 heiratete Schwester Luise den polnischen Magnaten Antoni Henryk Radziwiłł (1775-1833), der als erster (und von Goethe selbst geförderter) Komponist einer „Faust-Musik“ (1808-1833) sowie als Widmungsträger von Werken Beethovens (Ouverture zur Namensfeier op. 115), Mendelssohns (Klavierquartett op. 1) und Chopins (Klaviertrio op. 8) in die Musikgeschichte eingehen sollte und sehr rasch die Sympathie und Freundschaft seines Schwagers gewann. In den Juni des Jahres 1796 fällt dann auch die flüchtige, aber für Louis Ferdinand wahrscheinlich prägende Begegnung mit Beethoven in Berlin. Die Fadesse des Garnisonslebens, zu der man ihn auch über die folgenden Jahre verurteilte, kompensierte der mittlerweile völlig überschuldete Prinzen nur durch seine musikalische Leidenschaft und eine bunte Folge amouröser Abenteuer. Während einer längeren Stationierung in Westfalen unternahm er eine Reise nach Hamburg, wo er Kontakt zu den intellektuellen Kreisen der fanzösischen Revolutionsflüchtlinge, aber auch zu damals kurzzeitig in Hamburg wirkenden Musikern pflegte: darunter scheint der noch heute jedem Geigenschüler vertraute Violinvirtuose Pierre Rode (1774-1830) gewesen zu sein, dem Louis Ferdinand später das vom jungen Schumann so bewunderte Klavierquartett op. 6 widmen sollte. Auch ein erstes Zusammentreffen mit seinem späteren ständigen musikalischen Begleiter Jan Ladislav Dusík (Johann Ladislaus Dussek, 1760-1812) scheint in den Februar 1800 zu fallen. Hingegen kann Louis Ferdinand bei seinem Hamburgaufenthalt, der etwa von Oktober 1799 bis Februar 1800 dauerte, den für seine fernere musikalische Entwicklung nicht unbedeutenden, eigenwilligen Beethoven-Zeitgenossen Antonín Reicha (1770-1836) schwerlich getroffen haben, da dieser Hamburg schon am 25. September 1799 verlassen hatte.

Louis Ferdinands von Umgang und Lebensweise seines Sohnes alarmierter Vater Ferdinand sorgte schließlich dafür, daß man den Prinzen am frühen Morgen des 18. Februars 1800 in Hamburg festnahm und ihn nach Magdeburg zurückbrachte, wo er von nun an bei seinem Regiment in einer Art Stadtarrest verweilen mußte. Bei seiner Musik und bei der bezaubernd naiven Henriette Fromme (1783-1828) fand er reichlich Trost: Henriette gebar ihm 1803 seinen einzigen Sohn, Anton Albert Heinrich Ludwig, genannt Louis, und ein Jahr später die Tochter Emilie Henriette Luise Blanca, genannt Blanche. (Beide wurden später unter dem Namen „von Wildenbruch“ geadelt – und Louis Ferdinands Sohn wurde schließlich der Vater des Dichters Ernst von Wildenbruch (1845-1909).) Nach dem Tode von Onkel Heinrich (3. August 1802) verfügte Louis Ferdinand, trotz der hartnäckigen Intrigen seiner Mutter, die nur das Interesse ihres Letztgeborenen im Sinne hatte, über ausreichende Geldmittel, um für seine kleine illegitime Familie das Gut Schricke zu erwerben und einzurichten, das – etwa 20km von Magdeburg entfernt – für die wenigen ihm noch verbleibenden Lebensjahre zu seinem bevorzugten Zufluchtsort werden sollte. Doch auch die Großstadt zog ihn nach wie vor an: Auf den ihm sparsam zugestandenen Berlinbesuchen trat er in den legendären Kreis des Salons der Rahel Levin (1771-1833) ein, die er in seinen sehr offenen Briefen immer nur als „liebe Kleine“ titulierte – und er lernte schließlich das „herrliche Mädchen – denn Mädchen for ever!“ (Friedrich von Gentz an Carl Gustav von Brinckmann, Wien, 28.12.1803) kennen, das sein Denken und Sehnen bis zu seinem Tode beherrschen sollte: Pauline Wiesel, geb. César (1778-1848). In der hochkomplizierten ménage à trois, die der Prinz bis kurz vor seinem Tod, mit und zwischen „Jettchen“ und „Pelle“ zu führen versuchte, stand ihm die „liebe, kleine“ Rahel Levin als feinfühlende Seelenfreundin und kluge Ratgeberin zur Seite. Bei der Lektüre des diese verworrene Situation begleitenden und immer weiter ausufernden Briefwechsels fragt man sich unwillkürlich, woher Louis Ferdinand – neben der peinlichen Wahrnehmung, ja Übererfüllung seiner dienstlichen Pflichten, inklusive militärischer und diplomatischer Erkundungsreisen, die ihn nach Italien und im September 1804 auch nach Wien führten – wohl Zeit und Energie genommen haben mag, um seiner musikalischen Berufung treu zu bleiben: Mit der möglichen Ausnahme der Opera 7, 9 und 13 (die vielleicht schon in Hamburg 1799/1800 entstanden sein könnten) stammen sämtliche erhaltenen Kompositionen des Prinzen aus diesen letzten Lebensjahren. Seit 1804 stand der trinkfeste und ewig hungrige, vor allem aber phantasievolle und einfallsreiche Jan Ladislav Dusík fest im Dienste des Prinzen, dessen musikalischen Appetit er unermüdlich anzuregen und zu befriedigen verstand. Die Enttäuschung über das zögerliche und widersprüchliche Agieren Preußens im Kampf gegen Napoleon trug ohne Zweifel dazu bei, daß sich Louis Ferdinand in seinen letzten Lebensjahren viel eher als Komponist denn als preußischer Offizier verstand.

Sein drittes und letztes Klaviertrio widmete Louis Ferdinand seiner geliebten Schwester Luise. Im Wortlaut der Widmung hielt er sich allerdings an die von der Geltungssucht seiner Mutter diktierte Sprachregelung, die den Wünschen der Widmungsträgerin selbst (die lieber als „Prinzessin Radziwiłł“ angesprochen werden wollte) zuwiderlief: „Ihrer Königlichen Hoheit, der Frau Prinzessin Louise von Preußen, Gemahlin des Fürsten Radziwiłł gewidmet.“ Das Werk erschien in Stimmen (ohne Partitur) und ohne Opusnummer im August 1806, fast zeitgleich mit der Mobilmachung, im Berliner Verlag Werkmeister. Warum von den sieben im August/September 1806, fast wie ein „Nachlaß zu Lebzeiten“, gleichzeitig veröffentlichten Kammermusikwerken des Prinzen gerade dieses Trio (ebenso wie die Klavierquintett-Variationen op. 11) diesem unbedeutenden Kleinverlag und nicht etwa (wie die Opera 2 bis 6) dem traditionsreichen Haus Breitkopf & Härtel anvertraut wurde, ist unbekannt. Schwerlich kann es sich dabei um ein Werturteil des Autors handeln: Denn, anders als die Trios op. 2 (ohne Widmung) und op. 3 (Herzogin Dorothea von Kurland gewidmet), trägt dieses Trio im Titel das Epitheton „Grand“, und schon die Widmung an die Schwester läßt eine Differenzierung dieser Art als ganz unglaubwürdig erscheinen. Auch in der Wirkungsgeschichte läuft dieses „letzte“ Trio den beiden Schwesterwerken den Rang ab: Als während des ersten Weltkrieges, wohl aus patriotischen Motiven, alle Trios neu verlegt wurden, fand das Opus 10 vor den beiden anderen den Weg in den Konzertsaal und wurde dann während der Weimarer Republik wiederholt sogar im jungen Medium Rundfunk präsentiert.

Auf dieses Werk trifft in besonderem Maße zu, was Hermann Kretzschmar, der Herausgeber des musikalischen Gesamtwerks von Louis Ferdinand, im Vorwort zu seiner – zum hundertsten Todestag des Komponisten erschienenen – Ausgabe festhielt: „Dem starken inneren Grunde entspricht in der Musik des Prinzen auch die Fülle und Mannigfaltigkeit der musikalischen Mittel. Zum Teil sind sie seine eigenste Erfindung. Dahin gehört die Modulation seiner Harmonien, die mit ihrer Beweglichkeit und Kühnheit in der Zeit des Prinzen beispiellos war. Sie gipfelt in häufigen enharmonischen Rückungen.“ Solchen Rückungen begegnen wir im Kopfsatz unseres Trios in fast schon obsessiv erscheinender Eindringlichkeit. In der wie improvisiert wirkenden Adagio-Introduktion finden sich ansatzweise schon alle motivischen Grundgestalten des ganzen Werkes. Und auch im weiteren Verlauf des mit seinen nicht weniger als 404 Takten unübersehbar jenen Beethovenschen Dimensionen, die Louis Ferdinand an den Sonaten op. 5 tief beeindruckt haben müssen, nachstrebenden Satzes bleibt das Bemühen um Einheitlichkeit immer spürbar. Wo Nebenthemen in Erscheinung treten wollen, geben sie sich immer flugs als spielerische Modifikationen der Grundidee zu erkennen; die dominantische Wiederaufnahme des Hauptthemas im zweiten Teil der Exposition gibt dem Satz vollends ein monothematisches Gepräge – ein Umstand, den Louis Ferdinand in der Reprise für Fragmentation und Umreihung des Expositionsverlaufes zu nützen weiß. Trotz all dieser handwerklichen Künste bleibt aber die Freude an den eigenen pianistischen Fähigkeiten und an dem teuren englischen Instrument, das sich der Prinz vom Mund abgespart hatte, unüberhörbar das eigentliche Movens des ganzen Satzes.

Das Echo auf die Publikation der eindrucksvollen Werkreihe, die ihn in die Avantgarde seiner komponierenden Zeitgenossen stellte, konnte Louis Ferdinand nicht mehr abwarten. Wenige Tage nach dem Erscheinen des letzten der sechs Werke brach er in einen verspäteten und aussichtlosen Feldzug auf. Er wußte besser als irgend jemand, daß der rechte Zeitpunkt und seine historische Stunde schon versäumt war. Und der Soldat Jean-Baptiste Guindey (1785-1813), fast noch ein Kind, war nicht mehr als ein willfähriges Werkzeug, als er Louis Ferdinand am frühen Nachmittag jenes unseligen 10. Oktobers 1806 niederstreckte – daran vermögen auch die ihm von Napoléon-Fetischisten errichteten Denkmäler nichts zu ändern.

Für das Nachleben des nun unter die Gestirne versetzten Helden war jedenfalls gesorgt: Dusík und Liszt wimeten ihm Klavierelegien, Fanny Lewald und Theodor Fontane machten ihn zur Romanfigur, und in Gedichten besang ihn gleich ein ganzer Chor deutscher Dichter: Arnim, Brentano, Fontane, Freiligrath, Liliencron – und sein eigener Enkel Ernst von Wildenbruch. Schumann, in dessen Frühwerk sich manches Echo aus den Kompositionen des Prinzen nachweisen läßt, nannte ihn den „romantischsten aller Fürstensöhne“ und prophezeite ihm „in der Geschichte der Musik ein unvergängliches Andenken“ – eine Voraussage, zu deren wenigstens teilweiser Erfüllung wir beitragen wollen, indem wir Louis Ferdinand nach weit über einem halben Jahrhundert im Wienr Musikverein wieder einmal zu Wort kommen lassen.

© Claus-Christian Schuster

Haydn – Trio Hob. XV:6

Joseph Haydn
* Rohrau (Niederösterreich), 31. März 1732
† Wien, 31. Mai 1809

Sonate (Trio) F-Dur op. 45 Nr. 1 (Hob. XV:6)

komponiert: 1784 (wohl November/Dezember, Eszterháza und Wien)
Widmung: Mária Anna Viczay de Hédérvar et Loos (Nagylózs), geborene Grassalkovics de Gyarak (1760-1815)
Erstdruck: Artaria, Wien, April 1786

Als die Wiener Zeitung am 26. April 1786 endlich das Erscheinen von drei neuen Haydnschen Klaviertrios anzeigen konnte, hatte dieses Opus, das die endgültige Rückkehr Haydns auf dieses von ihm so lange vernachlässigte Gebiet besiegelt, schon einiges über sich ergehen lassen müssen. Der Komposition der drei Werke waren über mehrere Jahre hinweg immer erneuerte Anfragen und Ersuchen vorausgegangen, die den Meister auf das in seinen Jugendjahren so liebevoll und originell bedachte Terrain zurücklocken sollten. Ein wenig unwillig hatte Haydn im Herbst 1784 dann endlich eine Dreiergruppe von Trios für den besonders beharrlichen Londoner Verleger William Forster sen.  (1739-1808) „fertig gemacht“, genauer gesagt: er hatte sein zu diesem Zweck komponiertes G-Dur-Trio (Hob. XV:5) zusammen mit zwei Werken seines begabten Schülers Ignaz Pleyel (1757-1831) am 25. Oktober 1784 aus Eszterháza an Forster nach London geschickt. Die Weiterungen, die dieser (in jener Zeit allerdings fast alltägliche) „Etiquettenschwindel“ nach sich zog, einschließlich des sich daran anschließenden Gerichtsprozesses, der Haydn noch bei seinem zweiten Londoner Aufenthalt 1794 beschäftigen sollte, sind in der Haydn-Literatur besonders breit und akribisch beschrieben worden, und wir können uns daher weitere Erörterungen dieser ein wenig peinlichen Angelegenheit ersparen.

Man könnte freilich den Eindruck gewinnen, die Verwendung fremden Eigentums zur Befriedigung der immer dringender werdenden Nachfrage nach den modischen Klaviertrios drücke vor allem Haydns Desinteresse an der Sache aus. Wenn es wahrscheinlich auch einen Zeitpunkt gegeben hat, für den das wirklich zutrifft, so folgt doch aus Haydns Verhalten in den folgenden Monaten, daß die eher unfreiwillige Widerbegegnung mit seiner kammermusikalischen „Jugendliebe“ in ihm – vielleicht sogar  für ihn selbst recht überraschend – ein neues Feuer entfacht hatte. Denn im Zuge der Vorarbeiten zu seiner großangelegten (und bei seinem Tod unvollendet gebliebenen) Haydn-Biographie konnte Carl Ferdinand Pohl am 16. April 1868 im Esterházyschen Archiv ein mit 1784 datiertes fragmentarisches Autograph eines zusätzlichen, nicht an Forster gesandten (und wahrscheinlich nach dem 25. Oktober 1784 komponierten) Klaviertrios, eben unseres F-Dur-Trios Hob. XV:6 einsehen – diese auf acht Partiturseiteneiten die ersten 100 Takte des Kopfsatzes unseres Werkes umfassende kostbare Quelle ist seither spurlos verschwunden.

Das Autograph des zweiten für Artaria komponierten Trios der neuen Serie, Hob. XV:7, D-Dur, ist eines der ganz wenigen Klaviertrios, deren Autograph vollständig erhalten ist – es befindet sich in Londoner Privatbesitz und ist (wie das ebenfalls komplett eigenschriftlich überlieferte A-Dur Trio aus der zweiten Forster-Gruppe) mit 1785 datiert. Die beiden anderen Werke, mit denen Haydn unser F-Dur-Werk zu einer Triade für den Wiener Verleger Artaria vervollständigte (dem D-Dur-Trio folgte als Abschluß der Serie ein Trio in B-Dur, Hob. XV:8, von dessen Autograph sich keine Spur erhalten hat), waren also allem Anschein nach noch deutlich vor der nächsten, am 28. Oktober 1785 an William Forster übersandten Werkgruppe fertig. (Diese sollte dann die zwei Originalwerke Hob. XV:9, A-Dur, und Hob. XV:10, Es-Dur, beinhalten, zwischen die Haydn die Bearbeitung eines wesentlich früher entstandenen Werkes für Cembalo, Baryton und zwei Geigen, Hob. XV:2, F-Dur, stellte.)

Haydn muß die Stichvorlagen zu der Werkserie Hob. XV:6-8 spätestens im Frühherbst an Artaria übergeben haben. Im Unterschied zu den beiden für London bestimmten Opera hatte Haydn diesmal – und auch das spricht dafür, daß man hier den Beginn einer neuen Etappe in Haydns Trioschaffen sehen darf – eine Widmungsträgerin bestimmt: Die drei neuen Trios waren der 25jährigen Enkelin von Fürst Nikolaus Esterházy, Mária Anna Grassalkovics, zugedacht, die schon 1776 am Vorabend ihres 16. Geburtstages in Eisenstadt an Graf Mihály Viczay de Hédervár et Loos verheiratet worden war.

Daß Haydn dieser Widmung besondere Bedeutung beimaß, läßt sich zwischen den Zeilen des folgenden Briefes an seinen Wiener Verleger Francesco Artaria (1744-1808) lesen, mit dem er am 26. November 1785 aus Eszterháza die Fertigstellung des Stiches urgiert:

Liebster Freund!

Bitte sehr höfflich, mich mit Montagigen fürstlichen Husaren zu berichten, ob meine Sonaten schon gestochen, und wan Sie dieselbe der gräfin Witzey übergeben werden; die ursach, warum ich es gerne wissen möcht, ist, weil ich noch vor unserer abreiß, welche längstens in 14 tagen geschehen wird, der gräfin auf Ihr. Gut eine Visit machen möchte; ich wartete immer auf den Ersten abdruck deren Sonaten um sie zu Cor[ri]giren, weil ein fehler ist, der verbessert werden mus.

Haydns Formulierung „ich wartete immer“ läßt darauf schließen, daß die „Sonaten“, eben unsere drei neuen Klaviertrios, sich schon geraume Zeit im Besitz Artarias befunden haben müssen. Was der „fürstliche Husar“ zwei Tage später zu berichten hatte, wissen wir nicht, aber immerhin hatte Haydns Schreiben zur Folge, daß der Komponist zwei Wochen später, am 8. Dezember 1785, endlich den Korrekturabzug in Empfang nehmen konnte. Das Entsetzen, das ihn beim Anblick dieser Probefahnen erfaßte, verschlug ihm zunächst die Rede, aber am 10. Dezember machte er, nachdem er sich einen ersten Überblick über das Ausmaß der Katastrophe verschafft hatte, seinem Ärger Luft:

Mon tres cher Amj!

Ich erhielte vorgestern die Clavier Sonaten mit gröster Verwunderung des schlechten stiches wegen, und denen so vielen ärgerlichen fehlern, welche in allen stimen besonders in der Clavier stim ansehen muste, ich ware anfangs So toll, daß ich Ihnen das geld zurück senden, und die Partitur deren Sonaten augenblicklich nach berlin den Herrn Hummel zusenden wollte, weil ich mir wegen denen hier, und da, unlesbahren, übel, aus-, und eingetheilten Stellen wenig Ehre, und Sie hiedurch wenig Nutzen verschaffen werden. Jeder, der Sie kaufft, wird bey Abspiellung über den Stecher fluchen, und zu spielen aufhören. […] ich wollte lieber aus mein. eigenen Sack noch 2 blatten gezahlt haben, als solche Verwürrung ansehen. Jeder Meister hat zu studiren, bis er diese Stelle auseinander setzt, was wird erst der Dilettante machen. […]  Versetzte Notten, ausgelassene Notten giebt es gewaltig Viel; […]  ich hab gestern den ganzen und heut den halben tag mit Cor[ri]giren zugebracht, und da hab ich es nur obenhin überschaut.

bester Freund, machen Sie demnach, daß alles verbessert wird, sonst haben wür beede wenig Ehre – übrigens hoffe ich Sie selbst bald zu sehen, und bin mit aller Hochachtung/Dero

ganz gehorsamer diener
Joseph Haydn mppria

Ob Haydn den geplanten Besuch bei der jungen Widmungsträgerin der Trios auf ihrem Gut in Nagylózs – etwa 14 km südwestlich von Eszterháza – trotz der höchst unbefriedigenden äußeren Form seines Geschenks wirklich gemacht hat oder nicht, ist nicht überliefert. Hingegen läßt sich aus den Quellen schließen, daß Francesco Artaria sich schließlich keinen anderen Ausweg aus der verfahrenene Situation wußte, als seinen Mainzer Konkurrenten Bernhard Schott (1748-1809) um Hilfe zu bitten, denn dieser berichtet in einem Schreiben an Johann Georg Batton (1740-1828), den Canonicus und Bibliothekar des Frankfurter Bartholomäusstiftes, vom 3. Jänner 1786 ganz nebenbei:

„Artaria hat mich gebeten die verdorbenen Klaviertrios für die Gräfin Witzay zu reparieren. Ich werde sie also schleunigst stechen.“

Die kollegiale Hilfe wurde freilich nicht an die große Glocke gehängt – denn außer diesem recht versteckten Indiz, das nur dem unbestechlichen Kriminalistenblick des leidenschaftlichen Haydnforschers Anthony van Hoboken nicht entgehen konnte, finden sich keine weiteren Belege dafür, daß (wie anzunehmen ist) das Ende April endlich dem Publikum vorgelegte Druckwerk in Mainz und nicht in Wien gestochen wurde; eine, wie man es auch wendet, blamable Schlappe für das Wiener Verlagshaus, das übrigens selbst von einem in Mainz gegründeten Unternehmen (Giovanni Artaria & Co., 1765) abstammt.

Immerhin scheint das Ergebnis der Rettungsaktion so erfreulich gewesen zu sein, daß Friedrich Rellstab (1759-1813), der Vater des später von Schubert im „Schwanengesang“ verewigten Dichters und Gründer der ersten Berliner Musikalienhandlung, bei der Ankündigung des Erscheinens der neuen Trioreihe in den „Königlich privilegierten Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen“ (vulgo der „Spenerschen Zeitung“) am 3. Juni 1786 unwidersprochen „vom Wiener prächtigen Originalstich“ schreiben konnte – und somit war Wiens Ehre als Musikstadt wieder einmal gerettet.

Die Sonaten selbst haben aber freilich zum Ruhm Wiens noch weit mehr beigetragen als der nicht ganz lupenreine „prächtige Originalstich“; und daß die drei Trios im Konzertleben nicht öfter zu hören sind, mag zwar mit der Fülle der im folgenden Jahrzehnten entstandenen jüngeren Schwesterwerke zu erklären sein, bedauerlich bleibt es allemal.

© Claus-Christian Schuster

Mendelssohn – Trio op. 49

Felix Mendelssohn
* Hamburg, 3. Februar 1809
† Leipzig, 4. November 1847

Trio für Pianoforte, Violine und Violoncell, d-moll, op.49

komponiert: Leipzig und Frankfurt am Main, Februar bis September 1839

Uraufführung: Leipzig, Gewandhaus, 1. Februar 1840 (2. Musikalische Abendunterhaltung)
Felix Mendelssohn, Klavier
Ferdinand David (1810-1873), Violine
Carl Wittmann (1810-1860), Violoncello

Erstausgabe: Breitkopf & Härtel, Leipzig, April 1840

Ganz zu Beginn und ganz am Ende des Planes und der Ausführung von Mendelssohns erstem Klaviertrio (dem schon 1820 ein bis 1970 ungedruckt gebliebenes Trio für Klavier, Violine und Viola vorausgegangen war) finden wir Mendelssohns Freund Ferdinand Hiller (1811-1885). Von Hiller waren schon 1836 drei Klaviertrios (op.6 – 8) erschienen, die Schumann auf sehr launige Weise rezensiert hatte. Im August 1838 schreibt Mendelssohn seinem in Italien weilenden Freund en passant von seiner Absicht, „nächstens ein paar Trios zu schreiben“. Der Plan wurde weder so rasch noch auch in diesem Umfang ausgeführt – aber am 23. September 1839 beendet Mendelssohn in Leipzig die erste Reinschrift des zum Großteil im Sommer in Frankfurt komponierten Werkes. Im Dezember kommt Hiller nach dem Tod seiner Mutter auf Felix´ Einladung nach Leipzig, wo er zunächst zwei Wochen lang Gast im Hause Mendelssohn ist, um dann in der ehemaligen Junggesellenwohnung seines Freundes „in Reichel´s Garten“ Quartier zu beziehen. Über diesen Aufenthalt berichtet Hiller in seinen 1874 erschienenen Mendelssohn-Erinnerungen unter anderem:

Mendelssohn hatte gerade sein großes Trio in D-moll beendigt; er ließ es mich hören. Gewaltig impressionirte mich das Feuer und Leben, der Fluß, die Meisterschaft in einem Wort, die sich in jedem Tact geltend macht. Doch hatte ich ein kleines Bedenken. Gewisse Clavierfiguren, namentlich die auf gebrochenen Accorden beruhenden, erschienen mir – etwas altmodisch, um es gerade heraus zu sagen. Ich hatte mehrere Jahre in Paris mit Liszt, fast täglich mit Chopin verkehrt und der pianistische Erfindungsreichthum der neueren Zeit war mir zur Gewohnheit geworden. Als ich Mendelssohn in diesem Sinne einige Bemerkungen machte, einige Änderungen vorschlug, wollte er anfänglich nichts davon wissen. „Glaubst Du, daß die Sache dadurch irgend besser werde“, sagte er, „das Stück bleibe was es ist und so mag es auch bleiben wie es ist.“ – „Du hast mir ja oft gesagt und durch die That bewiesen,“ erwiederte ich, „daß der kleinste Pinselstrich nicht verschmäht werden dürfe, der zur Vollendung des Ganzen beiträgt. Wenn eine ungewöhnliche Form eines Arpeggio´s die Harmonie nicht verbessert, so verschlechtert sie auch nichts – und für den Pianisten, als solchen, wird´s interessanter.“ Wir beriethen, probirten am Clavier hin und wieder und ich hatte den kleinen Triumph, Mendelssohn für meine Ansicht schließlich zu gewinnen. Ernst und gewissenhaft, wie er Alles nahm, was er einmal erfaßt, unterzog er sich der langwierigen, um nicht zu sagen langweiligen Arbeit, die ganze Clavierstimme noch einmal aufzuschreiben. Als ich ihn eines Tages daran arbeitend fand, spielte er mir eine Stelle vor, die er in der Weise, wie ich sie ihm am Clavier vorgeschlagen, aufgenommen. „Die soll zur Erinnerung an Dich bleiben,“ rief er aus. Und als er später das Werk in einer Kammermusik mit seinem unvergleichlichen Feuer gespielt und das Publicum damit hingerissen hatte, sagte er: „Ich habe meinen Spaß an dem Stück; es ist ordentliche Musik und die Pianisten werden es gern spielen, weil sie doch auch damit zeigen können.“ Und so geschah´s.

Tatsache ist, daß die im September 1839 beendete Reinschrift in Details ganz erheblich von der im April 1840 erschienenen Erstausgabe des Trios abweicht. Das Erscheinen des Werkes begrüßte Schumann mit einer seiner schönsten Rezensionen:

„Es bleibt noch übrig, über Mendelssohns Trio etwas zu sagen – Weniges nur, da es sich gewiß schon in aller Händen befindet. Es ist das Meistertrio der Gegenwart, wie es ihrer Zeit die von Beethoven in B und D, das von Franz Schubert in Es waren; eine gar schöne Komposition, die nach Jahren noch Enkel und Urenkel erfreuen wird. Der Sturm der letzten Jahre fängt allmählich sich zu legen an und, gestehen wir es, hat schon manche Perle ans Ufer geworfen. Mendelssohn, obschon weniger als andere von ihm gepackt, bleibt doch immer auch ein Sohn der Zeit, hat auch ringen müssen, hat es auch oft anhören müssen, das Geschwätz einiger bornierter Schriftsteller: „die eigentliche Blütenzeit der Musik sei hinter uns“, und hat sich emporgerungen, daß wir es wohl sagen dürfen: er ist der Mozart des neunzehnten Jahrhunderts, der hellste Musiker, der die Widersprüche der Zeit am klarsten durchschaut und zuerst versöhnt. Und er wird auch nicht der letzte Künstler sein. Nach Mozart kam ein Beethoven; dem neuen Mozart wird ein neuer Beethoven folgen, ja er ist vielleicht schon geboren. Was soll ich noch über dieses Trio sagen, was sich nicht jeder, der es schon gehört, schon selbst gesagt? Am glücklichsten freilich, die es vom Schöpfer selbst gehört. Denn wenn es auch kühnere Virtuosen geben mag, in so zauberischer Frische weiß kaum ein anderer Mendelssohns Werk wiederzugeben, als er selbst. Es schrecke dies niemanden ab, das Trio auch zu spielen; es hat sogar im Vergleich zu andern, wie z. B. zu den Schuberts, weniger Schwierigkeiten, wie denn diese bei Kunstwerken ersten Ranges mit der Wirkung immer im Verhältnisse stehen, und je größer jene, je gesteigerter diese ist. Daß das Trio übrigens keines für den Klavierspieler allein ist, daß auch die andern lebendig einzugreifen haben und auf Genuß und Dank rechnen können, braucht kaum einer Erwähnung. So wirke denn das neue Werk nach allen Seiten, wie es soll, und sei uns ein neues Zeugnis der Kunstkraft seines Schöpfers, die jetzt beinahe in ihrer höchsten Blüte zu stehen scheint.

 Um dieses Echo richtig würdigen zu können, transponiere man – als Gedankenexperiment – einmal die zeitlichen Abstände zwischen Rezensent, rezensiertem Komponisten und den als Vergleichsgrößen herangezogenen Meistern aus dem Jahre 1840 in das Jahr 2001: Da schriebe also heute ein 1971 geborener Komponist (in einer von ihm selbst geleiteten, florierenden Musikzeitschrift) über das soeben erschienene Werk seines um ein Jahr älteren Kollegen; darf ganz ohne Coquetterie annehmen, daß die meisten seiner Leser das Werk schon kennen; setzt es in Beziehung zu den von allen gekannten und geliebten Werken fraglos anerkannter Meister der jüngsten Vergangenheit (Jahrgänge 1931 und 1958) – Werken, die in den Jahren 1970, 1977 und 1989 das erste Mal gedruckt wurden; und wagt eine (sich später herrlich bewahrheitende) Prophezeiung über einen kommenden Meister, der heute gerade sieben Jahre alt ist… Fällt es da nicht ein wenig schwer, sich aufrichtig darüber zu freuen, wenn heute einem siebzigjährigen Komponisten durch die Gunst eines ambitionierten Starinterpreten endlich der „Durchbruch“ gelingt – ein Durchbruch, der sich meistens nur in einem konjunkturfördernden Kursanstieg auf dem Konzert- und Medienmarkt, kaum je in verbreiteter und vertiefter Kenntnis des entdeckten Werkes niederschlägt?

Ein halbes Jahr nachdem Mendelssohn Hiller von seinen Trioplänen berichtet hatte, konnte er Moscheles den Beginn der Arbeit melden (Brief vom 27. Februar 1839). Etwa gleichzeitig wurde die Komposition der monumentalen Sinfonie-Cantate „Lobgesang“ (2. Symphonie, B-Dur, op.52) in Angriff genommen. So ist es nicht verwunderlich, daß bei Mendelssohns Abreise nach Frankfurt (24. April) das Klaviertrio noch nicht sehr weit gediehen war.

Der Aufenthalt in Frankfurt ist aber in diesem Jahr besonders angenehm und produktiv:

„…mir ist gar zu wohl, hier im schönen Lande. Diese Sommermonate, die ich jetzt in Frankfurt zubrachte, haben mich wahrhaft erquickt; den Morgen gearbeitet, dann gebadet oder gezeichnet, nachmittags Orgel oder Klavier gespielt, dann in den Wald gegangen und in Gesellschaft oder nach Haus, wo die hübscheste Gesellschaft war – daraus bestand mein lustiges Leben, und zu all dem die prächtigen Sommertage, die in einer ununterbrochenen Reihe folgten…“

(an Karl Klingemann, 1. August 1839) 

Bei solchen Bedingungen überrascht es nicht, daß die Arbeit prächtig vorangeht: Der Abschluß des ersten Satzes der Frühfassung ist mit dem 6. Juni 1839 datiert, einen knappen Monat später, am 3. Juli, teilt Mendelssohn seiner Mutter schon mit, das Trio sei beendigt, während das Autograph des Datum 18. Juli 1839 trägt – auch diese kleine Diskrepanz ein mittelbarer Hinweis auf den vielschichtigen und mehrstufigen Schaffensprozeß, auch und gerade bei Komponisten, deren Werke der Nachwelt geradezu als vom Himmel gefallen zu erscheinen pflegen.

Am Abend des 20. August sind die Mendelssohns wieder zurück in Leipzig, und nicht lange danach unterzieht der Komponist sein jüngstes Werk in einer hausmusikalischen Aufführung einer ersten Belastungsprobe. Diese scheint nicht zu seiner restlosen Befriedigung zu verlaufen, denn bald schon macht er sich an eine erste Umarbeitung. Erst in dieser neuen, verbesserten Gestalt, die heute als verschollen gelten muß, lernt Hiller dann im Dezember das Trio kennen. In Hillers rückerinnerndem Bericht mag seine eigene Rolle als Anreger einer zweiten Umarbeitungsphase, die sich dann bis zur Uraufführung im Februar und zur Drucklegung im April 1840 hingezogen haben muß, vielleicht ein wenig überbetont sein – es besteht aber kein Anlaß, an der prinzipiellen Richtigkeit dieses Berichtes zu zweifeln.

Das Werk eroberte sich schon bald nach seiner Leipziger Uraufführung einen Ehrenplatz in der Trioliteratur; Mendelssohn selbst führte es in England ein, von wo es rasch seinen Siegeszug bis nach Amerika antrat. Noch heute zählt es zu den meistgespielten (und meist eingespielten) Kompositionen des gesamten Kammermusikrepertoires.

Der Kopfsatz (Molto Allegro agitato) stellt die vielleicht vollkommenste Synthese von klassischer Formbeherrschung und romantischer Diktion dar, die uns die Musikgeschichte zu bieten hat. Hätte es noch eines Beweises bedurft, daß Glätte der Form und Dichte des Inhalts nicht unvereinbar sind, hier liegt er vor uns. Das kristalline Ebenmaß und die ideale Ausgewogenheit dieses Sonatensatzes par excellence behindern nirgends das freie Ausschwingen der von edler Leidenschaft und tiefer Innigkeit geprägten musikalischen Gedanken. Wenn man gewohnt ist, die Geschichte der musikalischen Stile und Idiome als ein dialektisches Kräftespiel widerstreitender Prinzipien zu begreifen, so könnte einen die restlose Vollkommenheit dieses Satzes für einen Augenblick der Illusion erliegen lassen, er sei in einem diesem Kampf entzogenen Raum, außerhalb des Flusses der Musikgeschichte entstanden. (Ein unscheinbares Detail wie die Feststellung, daß Harmoniefolge und melodischer Ductus des Incipits mit jenem des 1832 veröffentlichten Schubert-Lied „Fahrt zum Hades“ [D 526, übrigens ebenfalls in d-moll] übereinstimmen, fällt daneben gar nicht ins Gewicht.)

Als Mendelssohns englischer Verleger den Komponisten – den Bedürfnissen des dortigen Marktes entsprechend, dessen Vorlieben sich seit Haydns Zeiten offenbar nur unwesentlich geändert hatten – um ein Arrangement des Trios mit Flöte statt Geige ersuchte, schlug dieser ihm vor „in dieser Form vorläufig nur das Andante und Scherzo erscheinen zu lassen […], weil mir das erste und letzte Stück zu schwer und zu dick für solch ein Arrangement scheinen.“ (Brief an Ignaz Moscheles, 21. März 1840). In der Tat sind die beiden Mittelsätze des Werkes aus ganz anderem, viel leichterem Material gewebt als die Ecksätze.

Der zweite Satz (Andante con moto tranquillo, B-Dur), der in Textur und Charakter an die Lieder ohne Worte gemahnt (allen voran wohl an das fünf Jahre später geschriebene und Clara Schumann gewidmete in G-Dur, op. 62 Nr. 1), ist aber deswegen durchaus kein „leichtgewichtiges“ Stück. Auch sprengt die Weite der Anlage mit dem flehentlich inbrünstigen Minore-Mittelteil den in den Liedern ohne Worte gewahrten Rahmen bei weitem. Nur am Rande, und ganz ohne das unter Reminiszenzen-Jägern übliche Halali, sei noch vermerkt, daß der Satz gewissermaßen von hochadliger Abstammung ist: Mendelssohn erinnert sich hier (wahrscheinlich unbewußt) an den langsamen Satz (Adagio cantabile, As-Dur) aus Beethovens C-moll-Violinsonate op. 30 Nr. 2. Ohne je wörtlich zu zitieren, beschwört er Ductus und Gestik dieses großen Vorbildes – und bleibt doch ganz er selbst.

Einem Gebiet, das vor Mendelssohn kaum jemand betreten hatte, und dessen Herrschaft ihm bis heute auch niemand streitig machen kann, entstammt das Scherzo (Leggiero e vivace, D-Dur). Ob das Intermezzo aus Hillers Klavierquartett op.1, in dem der Autor meinte, den Elfenton das erste Mal angeschlagen zu haben, wirklich unabhängig von den sicher davor entstandenen Werken Mendelssohns niedergeschrieben wurde oder nicht, spielt dabei keine Rolle: Seit der Concert-Ouverture zu Shakespeares „Sommernachtstraum“ op. 21, mit der der siebzehnjährige Felix die Welt verzauberte, wird sein Name (allzu ausschließlich) mit der unnachahmlichen Delikatesse seiner Elfen-Scherzi verbunden. Dabei waren dieser Ouverture schon vier großartige Gestaltungen des selben Topos vorausgegangen – das Rondo capriccioso op. 14 und der dritte Satz des Klavierquartetts op. 3 (beides 1824), das Capriccio op. 5 und der dritte Satz des Oktetts op. 20 (beides 1825); unter denen, die ihr folgen sollten, ist das Scherzo unseres Trios aber wohl das vollkommenste.  Mendelssohn verzichtet hier – vielleicht mit Blick auf die Dreiteiligkeit des vorangegangenen Satzes – auf die traditionelle dreiteilige Scherzoform und wählt an ihrer Stelle eine zwar miniaturhafte, aber voll ausgeprägte monothematische Sonatenhauptsatzform.

Worauf die seit vielen Jahrzehnten durch die einschlägige Literatur geisternde Meinung beruht, das Finale (Allegro assai appassionato) sei ein Rondo, läßt sich wohl nicht mehr feststellen. Wenn man aber einmal davon absieht, daß sich fast jeder entwickelte Sonatenhauptsatz mit einiger Anstrengung auch als „eine Art Rondo“ betrachten läßt, so gibt es hier für eine solche Lesart keine triftigen Gründe ( – es sei denn, die gymnastischen Verrenkungen, die zur Aufrechterhaltung dieser Perspektive notwendig sind, verfolgten einen therapeutischen Zweck). Dieser Satz ist nicht nur ebenso „schwer“ und „dick“ wie der erste, er folgt auch dem selben Formprinzip, nur eben in völlig gegensätzlicher Ausprägung. Alles, was im Kopfsatz Ebenmaß und Symmetrie war, wird hier Irritation und Verschiebung. Ein Musterbeispiel dieser Strategie ist schon das Hauptthema: Es beginnt mit dem Vordersatz einer achttaktigen Periode, der die gewisse Erwartung einer regelmäßigen Fortsetzung weckt; aber der Nachsatz wird durch Verzögerung und Dehnung zunächst von vier auf acht, und dann sogar noch einmal zusätzlich auf sechzehn Takte gedehnt, so daß zuletzt anstelle des klassischen Themas aus 4+4 ein romantisches Phantasiegebilde von 4+24 Takten vor uns steht. Und in dieser Weise geht es weiter: Gegen die sofort einsetzenden Durchführungsstürme vermag sich das Seitenthema (in F-Dur) kaum durchzusetzen, und auch zwischen dieses und die Schlußgruppe drängen sich die Wogen, die dem Hauptthema zusetzen. Da auf diese Weise die Arbeit der Durchführung schon verrichtet ist, bevor die ihr zugedachte Stelle überhaupt erst erreicht ist, ersetzt Mendelssohn sie kurzerhand durch einige stellvertretende Takte, auf die dann sofort der Beginn der Reprise folgt. Hier nun wird der tiefere Sinn der eigenartigen Dehnung des Hauptthemas klar: die letzte dieser Verzögerungen bietet jetzt Raum für ein verspätetes Durchführungsthema in B-Dur (aus der Rondoperspektive betrachtet wäre das wohl die „zweite Episode“), das in Gewicht und Ausführung dem nach allen Anstrengungen kurzatmigen Seitenthema mühelos den Rang abläuft. Die Fortsetzung der Reprise nach dieser willkommenen Unterbrechung bietet noch einige zusätzliche Komplikationen; vor allem hat das entmachtete Seitenthema nicht mehr die Kraft, den Bann der Mollumklammerung zu brechen, so daß schließlich das Durchführungsthema als Sieger einzieht und mit unwiderstehlicher Kraft die befreiende (und von einem Meisterregisseur inszenierte) Schlußmodulation (B-Dur – D-Dur) vollzieht, wonach dem Freudentaumel und Jubel der Stretta nichts mehr im Wege steht.

Selten finden wir den selbstkritischen Meister so wohlgefällig auf sein Werk blicken, wie nach der Vollendung dieses Trios. Noch vor der von Hiller angeregten Überarbeitung schreibt er an Ignaz Moscheles:

„Mein Trio zeigte ich Dir gar zu gern, es ist mir sehr ans Herz gewachsen, und ich bilde mir gewiß ein, Du würdest mit Manchem darin zufrieden sein…“

(Leipzig, 30. November 1839)

Zwei Wochen nach der Uraufführung berichtet er dann seinem Freunde Karl Klingemann nach London:

„Gott, wie gern spielte ich Dir das vor; es würde Dir gewiß Vergnügen machen; und nun wird´s bald erscheinen, und wenn Du´s da, wer weiß wie, wer weiß wo, und wer weiß von wem zum ersten Male hörst, so macht Dir´s vielleicht nicht halb das Pläsir, das gewiß wäre, wenn Du neben mir säßest, in die Partitur gucktest, und ich auch nur die anderen Instrumente brummte…“

(Leipzig, 16. Februar 1840)

Und wer gäbe nicht alle acht- und denkbaren Aufführungen des Trios für das schlichte Pläsir, neben Mendelssohn sitzend ihn selbst spielen und brummen zu hören?

© Claus-Christian Schuster

Aaron Copland – Vitebsk. Study on a Jewish theme

Aaron Copland
* 14. November 1900 Brooklyn, New York
† 2. Dezember 1990 Tarrytown, New York

Vitebsk. Study on a Jewish theme

komponiert: Königstein im Taunus, Juli-September 1927 / New York, 1928  – Anfang Februar 1929

Uraufführung: 16. Februar 1929, League of Composers, New York
Walter Gieseking (1895-1956), Klavier
Alphonse Onnou (1893-1940), Violine
Robert Maas (1901-1948), Violoncello

Erstausgabe: Cos Cob Press, New York, 1934

 In der Saison 1926/27 gastierte das Moskauer Künstlertheater mit S. An-Skis (i.e. Salomo S. Rappaport, 1863-1920) Mysterienspiel „Der Dibbuk“ in New York. Unter den Zuschauern war ein junger Komponist, der ein besonderes Interesse für die Beziehungen zwischen Musik und Theater hatte: der 1924 aus Paris nach New York heimgekehrte Aaron Copland. Seine Orchestersuite Music for the Theatre hatte im November 1925 in der Carnegie Hall einen Skandal ausgelöst. In der den New Yorkern präsentierten Moskauer Inszenierung des „Dibbuk“ wurde eine chassidische Volksmelodie aus Vitebsk, der Heimatstadt des Dichters, als musikalisches Leitmotiv verwendet. Die archaische Ausdruckskraft dieser Musik erweckte sofort Coplands Interesse. Während der Sommermonate des Jahres 1927, die Copland in Königstein im Taunus verbrachte, begann er die Arbeit an einem Klaviertrio, in dem er versuchen wollte, die inhärenten Möglichkeiten dieses auf den ersten Blick spröden folkloristischen Materials systematisch zu erforschen. Das Resultat war die Studie Vitebsk, die kurz nach ihrer Vollendung in einem Konzert der „League of Composers“ uraufgeführt wurde. Obwohl das Werk von dem Schauspiel, durch das es angeregt wurde, programmatisch völlig unabhängig ist, könnte man doch in der radikalen Bipolarität seiner Anlage ein fernes Echo der mystischen Bühnenhandlung sehen, die um den Kampf zwischen einer lebendigen und einer toten Seele kreist.

Die Interpreten der Uraufführung waren Walter Gieseking, der seit seinem USA-Debut (New York, 22. Februar 1926) auch in Amerika zu den gesuchtesten Interpreten neuer Musik zählte, sowie Alphonse Onnou, der Primarius, und Robert Maas, der Cellist des 1912 gegründeten Quatuor Pro Arte (Brüssel), das – in Europa von Paul Collaer, in den USA von Elizabeth Sprague Coolidge gefördert – bis zu Onnous frühem Tode 1940  zu den führenden Quartetten der Welt gehörte. (Unter den Komponisten, die dem Quatuor Pro Arte Uraufführungen anvertrauten, waren Bartók, Casella, Honegger, Martinu, Milhaud u.v.a.) Für das vitale Selbstbewußtsein der jungen amerikanischen Musik ist es bezeichnend, daß ein zum Großteil in Deutschland geschriebenes Werk über eine ostjüdische Volksweise durch europäische Musiker uraufgeführt dennoch in keinem Takt Zweifel darüber aufkommen läßt, daß es sich dabei trotzdem um autochthon amerikanische Kunst handelt.

© Claus-Christian Schuster

Chausson – Quartett op. 30

Ernest Chausson
* Paris, 21. Jänner 1855
† Limay (Yvelines), 10. Juni 1899

Quatuor en La Majeur pour Piano, Violon, Alto et Violoncelle, op. 30

komponiert: Paris, Februar bis April 1897 / Veyrier-du-Lac (Haute-Savoie), Juli bis Oktober 1897

Widmung: Auguste Pierret (1874-1914)

Uraufführungen (gleichzeitig, 2. April 1898):
Paris, Salle Pleyel (Société Nationale de Musique)
Auguste Pierret, Klavier
Armand Parent (1863-1934), Violine
Frédéric Denayer (1878- ?), Viola
Charles Baretty (1859- ?), Violoncello

Liège (Lüttich), (Saal nicht eruiert)
Juliette Folleville (1870-1946), Klavier
Léopold Charlier (1867-1936), Violine
Joseph Croufer (Lebensdaten unbekannt), Viola
Albert Dechesne (Lebensdaten unbekannt), Violoncello

Erstausgabe: Émile Baudoux & C.ie, Paris, 1898

Am 22. Oktober 1896 schreibt der 41jährige Ernest Chausson sein nur drei knappe Zeilen umfassendes Testament nieder. Unmittelbar danach bricht er mit seiner Frau Jeanne zu einer Reise nach Barcelona auf, wo sein junger belgischer Freund Mathieu Crickboom (1871-1947) seit kurzem als Musikdirektor wirkt und ein kleines Chausson-Festival organisiert hat. Die Festtage gipfeln in einem denkwürdigen Ausflug, der die ganze Gesellschaft in das (vor allem zu dieser Jahreszeit) verschlafene Küstenstädtchen Sitges führt, wo der katalanische Maler Santiago Rusiñol (1861-1931) nach seiner Heimkehr aus Paris eine Küstlerkolonie gegründet hat. In seinem Atelier versammelt sich die illustre Runde – mit Ysaÿe, Granados, Morera und einer Reihe anderer Zelebritäten – zu fröhlichem Tafeln, Schauen, Scherzen und Musizieren. Jeanne Chausson und Enrique Granados wechseln einander am Flügel ab, Eugène Ysaÿe liest das (wenige Monate zuvor beendete) Poème Chaussons vom Blatt (noch vor Jahresende wird er es in Nancy uraufführen), und schließlich beginnt der belgische Oboist Guillaume Guidé (1859-1917), von der Poesie der inzwischen angebrochenen Abendstunde beflügelt, über katalanische Volksweisen zu improvisieren. Die anderen Musiker stimmen mit ein, und die vertrauten Melodien locken die Fischer aus den umliegenden Häusern herbei – am Ende der durchspielten und durchsungenen Nacht tragen die Dorfbewohner Ysaÿe im Triumph durch die Straßen.

Vielleicht bezeichnet diese romantisch-romanhafte Szene, die sich auch in einer Eichendorff-Novelle nicht übel ausnehmen würde, sinnbildhaft die Stellung Chaussons zwischen seiner Prägung durch die franko-belgische Schule und ihren Schutzheiligen César Franck, der die Paradigmata einer als germanisch empfundenen Musikästhetik in Frankreich hoffähig gemacht hatte, und Chaussons instinktiver Sehnsucht nach dem Süden. Und wahrscheinlich verkörpert das nur wenige Monate nach diesem katalanischen Intermezzo begonnene Klavierquartett besser als jedes andere Werk das Ringen des Meisters um jene einfache, luzide „Mediterraneität“, die für immer einer der Pole europäischen Kunstwollens bleiben wird.

Daß dieses Ideal nicht auf dem Weg des geringsten Widerstandes zu erreichen war, wußte Chausson nur zu gut; denn nichts ist schwerer, als „leicht“ zu erscheinen. Mathieu Crickboom, dem Initiator und Zeugen jener katalanischen Verzauberung, schreibt Chausson während der Arbeit am Quartett über das entstehende Werk:

„Très pas comme j´ai l´habitude de faire. Très simple, pas noir, plutôt léger. Un quatuor pour digestion.“

„Sehr anders als man es von mir gewöhnt ist: Sehr einfach, nicht schwarz, eher leicht. Ein Quartett für die Verdauung.“

(Paris, 25. April 1897)

Und wenige Monate später – Chausson hat sich inzwischen zur Sommerfrische in Veyrier am Lac d´Annecy niedergelassen und die Arbeit an den „problematischen“ Ecksätzen noch nicht wirklich begonnen – etwas ausführlicher:

„Je suis en train d´écrire un Quatuor avec piano. Deux morceaux parfaits, dont je ne suis pas mécontent. Il manque encore le premier mouvement et le finale! Drôle de manière de travailler n´est-ce pas? Mais j´ai déjà les éléments. Ne t´attends pas à une œuvre noir. Pas du tout. C´est presque folâtre. Et très facile. Après je me mettrai à un morceau d´orchestre que Colonne (!!) m´a demandé pour l´hiver prochain.“

„Ich bin dabei, ein Klavierquartett zu schreiben. Zwei Sätze, mit denen ich nicht unzufrieden bin, sind fertig. Es fehlt noch der erste Satz und das Finale! Eigenartige Arbeitsweise, nicht wahr? Aber ich habe schon die Motive. Erwarte kein schwarzes Werk. Ganz und gar nicht. Es ist fast übermütig. Und sehr leicht. Danach gehe ich ein Orchesterwerk an, das Colonne (!!) bei mir für den kommenden Winter bestellt hat.“

(an Mathieu Crickboom, Veyrier, 24. Juli 1897)

Einige Tage später finden wir Chausson dann über dem Kopfsatz – und die Arbeit geht noch immer nicht leichter von der Hand:

„Je travaille à mon quatuor. Deux morceaux sont déjà faits. Je croyais un autre avancé, et puis, avant dîner, je viens de m´apercevoir qu´il fallait presque tout effacer et le refaire autrement. C´est une belle chose que la facilité. Mais quand on n´en a pas, il faut bien en prendre son parti. C´est ce que je fais maintenant. Les cheveux, en tombant, ont emporté beaucoup de mes colères.“

„Ich arbeite an meinem Quartett. Zwei Sätze sind schon fertig. Ich glaubte, ein anderer sei schon weit gediehen, und dann, vor dem Abendessen, stelle ich gerade fest, daß man fast alles streichen und ändern muß. Es ist doch ein schönes Ding um die Mühelosigkeit. Aber wenn man sie nicht hat, muß man sich wohl damit abfinden. Das ist, was ich jetzt mache. Mit meinen ausfallenden Haaren ist auch mein Zorn geschwunden.“

(an Henry Lerolle, 30. Juli 1897)

Eines der verzögernden Momente bei der Entstehung des Klavierquartetts war freilich des Meisters Fürsorge für sein Schmerzenskind, seine Oper Le Roi Arthus (op. 23), die ihn seit 1888 beschäftigt hatte, und für die er nun – unter anderem auf einer von Veyrier aus unternommenen Kontaktreise, die ihn über Aachen, Kassel, Leipzig und Dresden bis nach Prag führte – beharrlich und unermüdlich eine Uraufführung zustandezubringen suchte. Nach einem ergebnislosen Gespräch mit Hans Richter und einem wirkungslosen Empfehlungsschreiben von Arthur Nikisch ist es, zu Chaussons Verblüffung, schließlich die Intervention von Isaac Albéniz, die ihm in Prag die unerwartete Annahme des Werkes einbringt. In Prag! Zuhause ist man entsetzt: Chaussons Verleger weigert sich kategorisch, die Oper zu drucken, wenn sie wirklich in so großer Entfernung von Paris – und ins Deutsche übersetzt! – uraufgeführt werden sollte; und obwohl sich Max Kalbeck schon an die Übersetzung des (nach Wagners Vorbild von Chausson selbst stammenden) Librettos gemacht hat, wird der Komponist von Zweifeln geplagt und wartet eine definitive Entscheidung ab:

„Épargnez-moi les futurs compliments de condoléances et les conseils rétrospectifs des indifférents. En attendant, je travaille à un quatuor avec un piano et un morceau d´orchestre. Quand ça marche bien, je suis très content et quand ça ne vas pas, je grinche, pour ne pas en perdre l´habitude.“

„Ersparen Sie mir die künftigen Beileidsbezeugungen und die rückblickenden Ratschläge der Gleichgültigen. In der Zwischenzeit arbeite ich an einem Klavierquartett und einem Orchesterstück. Wenn es gut geht, bin ich sehr zufrieden, und wenn es nicht geht, klaue ich, um nicht aus der Übung zu kommen.“

(an Paul Poujaud, Veyrier, um den 8. August 1897)

Das „Klauen“ (– der Vollständigkeit halber sei gesagt, daß man „grincher“ auch mit „murren“ oder „brummen“ übersetzen könnte –) beschränkt sich bei Chausson freilich fast ausschließlich auf Eigenzitate – und tatsächlich finden sich im ersten Satz des Quartetts, der Chausson bei der Niederschrift dieses Briefes gerade beschäftigte, Reminiszenzen an seine eigene Symphonie B-Dur op. 20 (1889/90) und das Poème op. 25 aus dem Vorjahr; und schon in der Gestalt seines höchst einprägsamen Incipits knüpft dieser erste Satz (Animé, A-Dur, 2/2) an das Concert en ré op. 21 (für Geige, Klavier und Streichquartett) von 1890 an, das nach wie vor wohl das meistgespielte Kammermusikwerk Chaussons bleibt. Dem Geiger Léopold Charlier, auf dessen Initiative die Lütticher Uraufführung des Quartetts (die mit einer Wiederaufführung des Concert verbunden war) zurückzuführen ist, hat der Komponist mit seinem Dankesschreiben auch eine Portraitphotographie zukommen lassen, auf die er über seine Unterschrift jenes emblematische Hauptmotiv von op. 21 gesetzt hat, mit dem das Hauptthema des Kopfsatzes unseres Quartetts die charakteristischen Quart- und Quintintervalle gemeinsam hat. (Die diastematische Übereinstimmung der ersten vier Noten mit jenem Motiv, das Alpha und Omega von Mahlers in zeitlicher Nachbarschaft entstandener erster Symphonie ist, wird ohnehin kaum einem aufmerksamen Hörer verborgen bleiben.) Was aber im Concert, in getreuer Nachfolge César Francks, noch schwerblütige Bekenntnismusik war, wird hier in ein helles, freundliches und heiteres Klima verpflanzt. Nachdem alle vier Instrumente diesen glücklichen Einfall begrüßt und gefeiert haben, schenkt Chausson ihnen noch einen kurzatmigen, aber sehr prägnanten Überleitungsgedanken, bevor er das Seitenthema vorstellt, dessen entfernte gestische und harmonische Verwandtschaft mit den Eröffnungstakten von Debussys Streichquartett von vielen Kommentatoren (und nicht immer in wohlwollendem Ton) konstatiert wurde; daß Chausson mit gutem Recht glaubte, an dieser Wendung nicht weniger Eigentumsrecht zu haben als der von ihm selbstlos geförderte jüngere Freund (der sich freilich nach Chaussons Unfalltod beharrlich weigern wird, der Familie zu kondolieren), erhellt schon daraus, daß er das bedeutendste unrealisiert gebliebene Projekt seiner letzten Lebensjahre, nämlich ein zweites Concert (WoO 27), das er noch während der Arbeit am Klavierquartett im September 1897 in Angriff nahm – es war für Klavier, Oboe, Bratsche und Streichquartett gedacht –, aus genau diesem selben fruchtbaren Grundgedanken keimen lassen wollte, wie die erhaltenen Skizzen beweisen. Die auf diese ideenreiche Exposition folgende Durchführung ist naturgemäß besonders bunt und blühend; sie übertrifft die Exposition auch an Länge deutlich, wird aber ihrerseits von der den Satz krönenden Reprise, in der alle Elemente in ganz neuer Textur und Beleuchtung wiederkehren, nochmals übetroffen, so daß der Satz den Eindruck vegetativ wachsenden Reichtums und Überflusses vermittelt.

Die beiden Mittelsätze, von denen wir wissen, daß sie schon lange vor den Ecksätzen Gestalt angenommen haben, unterscheiden sich von diesen durch ihre einfachere und kleinere Form, stehen ihnen aber an Adel und Originalität der Erfindung durchaus nicht nach. Auffällig ist, daß Chausson (ganz ähnlich wie sein von ihm gründlich verkannter Kollege Brahms) um die Entschärfung des traditionellen Antagonismus zwischen „langsamem Satz“ und „Scherzo“ bemüht ist. Bezeichnend dafür ist schon der Umstand, daß er die für diese Archetypen üblicherweise verwendeten Bezeichnungen durch „neutralere“ ersetzt: So wird der in den Briefen zunächst abwechselnd Andante oder Adagio genannte zweite Satz schließlich einfach zu Très calme (Des-Dur/cis-moll, 3/4). Während des Ringens um diesen Satz schreibt Chausson seinem jungen Freund Gustave Samazeuilh (1877-1967), der ihn um die Zusendung ihm noch fehlender Teile des Roi Arthus gebeten hatte, nach Bordeaux:

„Laissez-moi encore quelques jours. Pour le moment, je réserve tout mon temps á l´andante du quatuor que je désirerais essayer avec Ysaÿe quand il reviendra, et il revient vendredi soir. […] Mais je ne sais pas si je pourrai le finir, cet andante, car je viens de changer complètement  le milieu. Ah! Les secondes phrases! C´est toujours celles-là qui me causent le plus de mal. Naturellement. La première phrase, quand on ne l´a pas, on ne commence pas le morceau.“

„Geben Sie mir noch ein paar Tage. Im Augenblick widme ich alle meine Zeit dem Andante des Quartetts, das ich gerne mit Ysaÿe ausprobieren möchte, wenn er wiederkommt, und er kommt Freitag abends. […] Aber ich weiß nicht, ob ich es beenden kann, dieses Andante, denn ich habe den Mittelteil gerade völlig verändert. Ach! Die zweiten Themen! Es sind immer sie, die mir die meisten Schmerzen bereiten. Natürlich. Wenn man das erste Thema nicht hat, fängt man das Stück erst gar nicht an.“

(Paris, Poststempel 3. April 1897)

Offenbar hat Chausson diesen Brief am Dienstag (30. März) geschrieben, aber eben wegen des zeitlichen Druckes erst nach Ysaÿes Ankunft zur Post gebracht – genau an Brahms´ Todestag. So rasch, wie er gehofft hatte, konnte er mit dem Satz aber nicht ins Reine kommen: Erst Anfang August wird er in Veyrier den Schlußpunkt darunter setzen. Das zweite Thema (Un peu moins lent), das er schließlich gefunden hat, scheint ein Nachkomme des Überleitungsthemas aus dem ersten Satz zu sein: Es wendet den andächtig-innigen Gesang des Des-Dur-Hauptthemas nach F-Dur und stellt dessen breitem Ausschwingen bewegtere und kürzere Gesten gegenüber. Die Steigerung, die daraus resultiert, führt in der Satzmitte zu einem Ausbruch von rezitativischem Pathos, in dem ein leidenschaftlich insistierendes F-moll schließlich ermattend dem resignativen Cis-moll Platz machen muß, das – trotz einer letzten Des-Dur-Auferstehung des hymnischen Hauptthemas – die Heimattonart der zweiten Satzhälfte bleibt.

Hatte Chausson für diesen Satz die (für die Zeitgenossen, „die an steigendes Glück denken“, irritierende) Dramaturgie des in Moll mündenden Dursatzes gewählt, so bietet er uns mit dem folgenden, parallel konzipierten, aber schon früher (am 20. Juli in Veyrier) abgeschlossenen Schwestersatz eine spiegelbildliche Alternative. Dieser kürzeste Satz des Werkes, ist auch sein intimes Herzstück. Simple et sans hâte – schlicht und nicht eilig – legt Chausson (anstelle des ursprünglich vorgesehenen „Allegretto“) seinen Interpreten für diese exquisite Miniatur (d-moll/D-Dur, 3/4) ans Herz, und mehr Worte darf man über dieses Wunder an Élégance, Charme und Noblesse auch nicht verlieren. Nicht unbemerkt soll aber bleiben, daß Chausson durch die ungewöhnliche Wahl chromatisch benachbarter Tonarten (Des/cis – d/D) für dieses Satzpaar zusätzlich zu dem Chiasmus der Tongeschlechter bei gleichbleibenem Metrum (3/4) und analoger agogischer Dramaturgie (beide Sätze haben einen geringfügig bewegteren Mittelteil) dieses Satzdiptychon zu einem „Werk im Werk“ verschmolz.

Verbunden sind die beiden Mittelsätze auch durch ihre Rezeption – was durch eine anekdotisch interessante Einzelheit belegt ist: Der Verleger des Quartetts, Émile Baudoux, verkaufte seine 1894 gegründete Firma schon 1902; 1906 ging sie dann in den Besitz von Alexis Rouart über, dem sich 1908 Jacques Lerolle, der Sohn von Chaussons Lieblingsschwager und wichtigstem Korrespondenzpartner Henry Lerolle, als Compagnon beigesellte. Ein Blick in den Verlagskatalog dieses sehr erfolgreichen (und seit 1953 von Salabert weitergeführten) Unternehmens Rouart-Lerolle belegt nun, daß sich gerade die Binnensätze unseres Quartetts noch in der Zwischenkriegszeit einer gewissen Popularität erfreut haben müssen: Man findet sie nämlich dort mit dem Erscheinungsjahr 1923 unter den apokryphen Titeln Incantation und Légende in Arrangements für Salonorchester – untrügliches Zeichen für den Anklang, den diese beiden kürzeren Sätze bei einem immer noch kultivierten, aber zunehmend ungeduldigen Publikum fanden. (An den Verfasser dieser heute vergessenen Bearbeitungen, Stéphane Chapelier [1884-1966], Geiger, Komponist, Dirigent, Präsident der Autorenrechtsvereinigung, Philanthrop und Kunstsammler, erinnert man sich mitunter noch in Zusammenhang mit einem von ihm gestifteten Preis, den u. a. auch der in unserem Jännerkonzert vorgestellte Komponist Nicolas Bacri erhielt.)

Daß auf das Doppeljuwel dieser knapp gefaßten Mittelsätze ein dramaturgisch (und motivisch) an den Kopfsatz anknüpfendes leidenschaftliches und robustes Finale folgt, enstpricht ganz der (übrigens auch gerne von Brahms verwendeten) Großdramaturgie. Das Aufeinandertreffen dieses konkreten dritten und vierten Satzes weckt aber zusätzlich auch die Erinnerung an ein anderes wenig gespieltes Meisterwerk Chaussons: In den – vielleicht wegen ihres unscheinbar-bescheidenen Titel – kaum beachteten Quelques Danses op. 26 (1896) folgt auf die ebenfalls sans hâte zu spielende Pavane als vierter und letzter Tanz eine Forlane, die mit unserem freilich weit ausgedehnteren Finalsatz (Animé, a-moll/A-Dur, 6/8) etliche charakteristische Détails gemeinsam hat, vor allem den erregten Ton und die kleingliedrig jambische Artikulation im Sechsertakt (in der Forlane 6/4) des ritornellartig wiederkehrenden Anfangsmotivs. Dieses die Physiognomie des Finales prägende „Leitmotiv“, ein in engen Intervallen um die tiefalterierte zweite Stufe kreisendes Perpetuum mobile, nimmt die zarte modale (phrygische) Färbung des vorangegangenen Satzes beim Wort und holt sie aus dem Reich des Traumes in das der vita activa.

Formal ist dieser Satz bei weitem der komplexeste – nicht zuletzt, weil Chausson trotz des dezidiert „romanischen“ Grundtons des ganzen Werkes der (gerne als „germanisch“ apostrophierten“) zyklischen Konzeption der Liszt-Franck-Tradition, der er schon in seinem jugendlichen Klaviertrio op. 3 (1881) gefolgt ist, treu bleibt, weswegen der narrative Ablauf (der sich mit einiger Anstrengung auf ein klassisches Sonatensatzmodell zurückführen ließe) mit zahlreichen Rückverweisen und Zitaten angereichert ist. So drängt sich schon in das Seitenthema, das eine Metamorphose seiner Schwester aus dem ersten Satz zu sein scheint, das emblematisch Quartsignal des Werkbeginns, das im folgenden immer stolzer sein Haupt erhebt, bis es schließlich in aller Pracht das letzte Wort behält: die letzten vier Takte des Werkes sind dann in der Tat eine programmatisch affirmative Vergrößerung der beiden Takte, mit denen das Quartett so schwungvoll sorglos begonnen hat. Unmittelbar davor hat uns der Beginn der Coda eine Wiederbegegnung mit dem zweiten Satz beschert, und ein akribisch analytischer Blick könnte wohl alle bunten Gestalten, die diesen aufregenden Satz bevölkern, als legitime Nachkommen der Protagonisten der vorangegangenen Sätze identifizieren.

Daß es auch für den Komponisten selbst kein Leichtes war, diesen Reichtum zu bändigen, wissen wir aus der Entstehungsgeschichte des Werkes: In den ersten Oktobertagen 1897 war Chausson aus seinem Feriendomizil Veyrier-du-Lac nach Brüssel aufgebrochen, um seinem Freund Ysaÿe und dessen Quartett das noch unvollendete Werk zur „Lecture“ vorzulegen, vor allem eben wegen der Zweifel, die ihn hinsichtlich des Finales plagten. Seinem Schwager Henry Lerolle berichtet er darüber:

„Hier soir, lecture du Quatuor. J´ai été très content. Ça sonne bien. Le final m´a causé une surprise agréable. Je pense qu´en peu de jours, il sera définitivement terminé. Ouf! Et tout de suite, recommencer autre chose qui me fera geindre encore. Bizarre. Mais je ne pourrai plus me passer de ces alternatives de rage et de joie.“

„Gestern Abend Lekture des Quartetts. Ich war sehr zufrieden. Es klingt gut. Das Finale hat mir eine angenehme Überraschung bereitet. Ich denke, in ein paar Tagen wird es endgültig fertig sein. Uff! Und gleich danach muß ich eine andere Sache beginnen, die mich wieder stöhnen wird lassen. Bizarr. Aber ich werde auf dieses Wechselbad von Wut und Freude nicht mehr verzichten können.“

(Brüssel, 7. Oktober 1897)

Diese Wechselbäder von Wut und Freude haben Chausson und der Nachwelt eine durchaus überschaubare, aber exquisite Reihe wunderbarer und bewundernswerter Werke beschert, bis hin zu jenem unvollendeten Streichquartett, während dessen Komposition Chausson 44jährig ein Opfer seiner Leidenschaft für das damals eben in Mode kommende Radfahren werden sollte.

Am Finale unseres Quartetts feilt er nach seiner Rückkehr aus Brüssel in Veyrier noch bis zum 23. Oktober 1897, an welchem Tag er die Partitur endlich abschließen kann. Kurz darauf übersiedelt mit seiner Familie in den Süden – nach San Domenico bei Fiesole, wo er in der Villa Papiniano bis Ende Jänner an dem mehrfach erwähnten Orchesterwerk für Édouard Colonne (Soir de fête, op. 32) arbeiten wird.

Daß Chaussons Schaffen sich nicht auf das unverwüstliche Poème reduzieren läßt und auch nicht mit dem schönen Concert erschöpft ist, wird von Publikum und Veranstaltern beharrlich ignoriert. Es ist wohl kein Zufall, daß das Klavierquartett (das freilich, der ironischen [?] Bemerkung des Autors zum Trotz, alles andere als „très facile“ ist) in Wien allem Anschein nach überhaupt erst einmal (nämlich am 8. Jänner 1914 im Mozart-Saal des Konzerthauses) konzertant aufgeführt worden ist; ebensowenig, daß Wilhelm Altmann es in seinem informativen „Handbuch für Klavierquartettspieler“ (1937), das die Werke von Chaussons Jahrgangskollegen Ferdinand Hummel und Heinrich XXIV. Prinz Reuß wortreich rühmt, kurzerhand „vergessen“ hat. Wird das XXI. Jahrhundert diesem kostbaren Vermächtnis gegenüber hellhöriger sein?

© Claus-Christian Schuster

Chausson – Trio op. 3

Ernest Chausson
* Paris, 21. Jänner 1855
† Limay (Yvelines), 10. Juni 1899

Trio en Sol mineur pour Piano, Violon et Violoncelle, op. 3

komponiert: Montbovon, Les Allières (Kanton Freiburg), Mitte Juli – Mitte September 1881 ; überarbeitet in Biarritz (Pyrénées-Atlantiques), Herbst/Winter 1881/82

Uraufführung: Paris, Salle Pleyel (Société Nationale de Musique), 8. April 1882
André Messager (1833-1929), Klavier
Guillaume Rémy (1856-1932), Violine
Jules Delsart (1844-1900), Violoncello

Erstausgabe: Rouart & Lerolle, Paris, 1919

Schon bei seiner Taufe auf den Namen Amédée-Ernest am 9. April 1855 überschatten den Lebensweg des vielseitig begabten und in eine wohlhabende Familie geborenen Knaben die symbolträchtigen Zeichen einer Umbruchszeit: Die auf eine Gründung des VI. Jahrhunderts zurückgehende und am Jakobsweg gelegene Pariser Kirche Saint-Laurent, in der die Taufe stattfindet, ist gerade durch die von Baron Haussmann befohlene Anlage der großen Boulevards ihres historisch gewachsenen Umfelds beraubt worden und muß jetzt mit einer neuen Fassade versehen und verlängert werden. Der 51jährige Vater, der Bauunternehmer Prosper Chausson, zählt übrigens unstreitig zu den Nutznießern dieser Radikalkur, die das selbstbewußte, aber mißtrauische Second Empire der Hauptstadt verordnet hat, und die ihr Gesicht stärker verändern wird als alle nachfolgenden Zerstörungen. Bald schon übersiedelt die Familie – mit Ernests um zwölf Jahre älteren Bruder Eugène-Prosper, der ihn bei der Taufe gehalten hat – aus der nach dem Großvater benannten Rue Pierre Chausson auf den eleganten Boulevard Saint-Michel, wo Ernest seine Kindheit und Jugend verbringen wird. Daß diese Jahre trotz allen äußeren Comforts in einer gedämpften, von Nachdenklichkeit und unbestimmter Trauer gezeichneten Atmosphäre verlaufen, hat viele Gründe: Dem Jungen geht das Schicksal eines 1851 mit nur sechs Jahren verstorbenen Bruders, der schon den Namen Ernest getragen hatte, sehr nahe und erfüllt seine kindliche Seele mit dunklen Vorahnungen; 1865 stirbt Eugène-Prosper knapp vor Abschluß seines Iusstudiums und läßt den zehnjährigen Bruder mit den besorgten und nicht mehr ganz jungen Eltern zurück, die nun alle Sorgfalt und Liebe, aber auch alle übertriebene Sorge und Vorsicht ihrem einzigen verbliebenen Kinde zuwenden.

Der von Bismarck raffiniert provozierte und von Napoléon III. nur allzu willig begonnene Krieg mit Preußen schafft eine ebenso dramatische wie traumatische geschichtliche Tapete für Ernests entscheidende Pubertätsjahre: Zwischen der Kriegserklärung (19. Juli 1870) und dem „Frieden“ von Frankfurt (10. Mai 1871) liegen eine endlose Reihe blutiger Schlachten, die Ausrufung der Troisième République und der nachfolgende Bürgerkrieg, die Proklamation des Deutschen Kaiserreiches in Versailles und die ersten schrecklichen Wochen der Commune de Paris, die noch bis zum 28. Mai 1871 dauern wird – und Ernest Chaussons 16. Geburtstag…

Das Frankreich der folgenden Jahre ist und bleibt tief gespalten zwischen Sozialisten und Bonapartisten, Republikanern und Monarchisten, kämpferischen Atheisten und erzkonservativen Katholiken, wobei die Grenzen zwischen den einzelnen (wiederum in mehrere einander feindlich gegenüberstehende Gruppen gespaltenenen) Parteiungen alles andere als klar, dafür aber nicht weniger scharf sind. Die Familie Chausson ist dem monarchistisch-katholischen Lager zuzurechnen, und Ernest wird seinen eigenen Weg von dessen ideologischen Positionen aus beginnen.

Der schon 1872 beschlossene und 1875 in Angriff genommene Bau der Basilique du Sacré-Cœur de Montmartre, Jahrzehnte hindurch ein rotes Tuch für alle Architekturhistoriker und gleichzeitig unwiderstehlicher Anziehungspunkt für alle Paris-Touristen, ist ein Monument der nationalen Sühne im Geiste eben dieses katholischen Lagers – und das riesige Apsismosaik, das erst nach der 1919 erfolgten Einweihung der Kirche fertig werden sollte, trägt die schon 1872 ausgegebene Devise GALLIA PŒNITENS ET DEVOTA. Die schwindelerregende ideologische Polyphonie der französischen Gesellschaft brachte es mit sich, daß eben in jenem Jahre 1872 auch ein gar nicht devoter Band rabiat antideutscher politischer Gedichte erscheinen konnte (Gabriel Hugelmanns anonym publizierten Tyrtéennes – wobei die Anonymität wohl nicht nur dem Schutz, sondern auch der Glaubwürdigkeit des Autors dienen sollte), gleichzeitig aber auch die Wagner-Begeisterung und ganz allgemein die Faszination, mit der die französische Jugend deutsche Musik, Dichtung und Philosophie auf- und annahm, neuen Höhepunkten zustrebte.

Ernest Chausson ist seit dem Spätherbst des Jahres 1874 ständiger Gast des Salons der künstlerisch hochbegabten, feinsinnigen und attraktiven Berthe-Marie-Esther de Rayssac, die wenige Monate zuvor mit nur 27 Jahren Witwe geworden ist und in ihrer Wohnung in der Rue Bonaparte einen fluktuierenden Kreis von katholisch gesinnten Malern, Schriftstellern und Musikern versammelt. Die junge Hausherrin sieht in dem neuen – von seinem Hauslehrer, dem dichtenden Léon Brethous-Lafargue dort eingeführten – Mitglied ihres Zirkels, wie sie ihrem Tagebuch am 27. April 1875 anvertraut, einen „Chérubin chrétien“, und er avanciert bald von ihrem „pupil“ zu ihrem „filleul“, dem mit eifersüchtiger Fürsorge und frommer Inbrunst beschützten und unterstützten „Patensohn“. Unter dem 2. Mai 1875 vermerkt Madame de Rayssac in ihrem Tagebuch nicht nur, daß sie den Antrittsbesuch von Ernest Chaussons Mutter empfangen hat, sondern auch, daß sie „trios de Beethoven, très bien exécutés par Redon, Janmot et Chausson“ gehört habe: ihrem neuen Schützling assistierten dabei also ihr alter Zeichenlehrer aus den Jugendtagen in Lyon, Louis Janmot (1814-1892), und der unabhängige und originelle Odilon Redon (1840-1916), in dem Ernest einen Freund und „peintre symphonique“ gefunden hat.

Während Chausson im Kreis von Madame de Rayssac, der sich dann auch regelmäßig im neuen, im Herbst 1875 bezogenen Heim der Chaussons (22, boulevard de Courcelles) zusammenfindet, vielfältige Anregungen empfängt, die seinem Talent und seiner Leidenschaft für die Malerei, die Literatur und die Musik reichlich Nahrung geben, folgt er doch dem Wunsch der Eltern, indem er mit mäßigem Eifer ein Studium der Rechte betreibt und so am 7. Mai 1877 – Brahms´ 44. und Čajkovskijs 37. Geburtstag – schließlich die Anwaltsprüfung ablegen kann. Etwa zur selben Zeit schreibt er auf ein Gedicht seines Freundes Maurice Bouchor (1855-1929), der ebenfalls ständiger Gast bei Madame de Rayssac ist, sein erstes Lied, Dans la forêt (Les Lilas). Mit diesem unscheinbaren „Werk ohne Opuszahl Nr. 1“ beginnt der Katalog seiner musikalischen Werke, denen schon eine lange Reihe von dichterischen und malerischen Versuchen vorangegangen ist.

Maurice Bouchor teilt, wie die meisten der habitués im Salon Rayssac, Chaussons Interesse für die Musik Richard Wagners. Zwei Jahre nach Chaussons bescheidenem Kompositionsdébut finden wir daher die beiden in München an der Seite des älteren Bruders von Maurice, des Malers Joseph-Félix Bouchor, sowie des Organisten Jules de Brayer und des damals noch kaum bekannten Komponisten Vincent d´Indy, den Chausson hier zum ersten Mal trifft, und mit dem ihn dann eine lebenslange Freundschaft verbinden wird. (Der um vier Jahre ältere d´Indy wird nach Chaussons tragischem Tod 1899 dessen unvollendet gebliebenes Streichquartett op. 35 zu Ende schreiben.) Chausson ist, aus Zürich kommend, am 22. August 1879 in München eingetroffen, um hier den Fliegenden Holländer und den Ring des Nibelungen zu hören. Am nächsten Tag schreibt er an Madame de Rayssac:

Es gibt einen Satz von Schumann, der schrecklich ist und mir immerzu in den Ohren klingt wie die Trompete des Jüngsten Tages: „Nur erst, wenn dir die Form ganz klar ist, wird dir der Geist klar werden.“ Ich fühle die Wahrheit dieses Gedankens immer deutlicher, und er läßt mir keine Ruhe. Es gibt Tage, an denen ich mich, ich weiß nicht von welchem fieberhaften Instinkt getrieben fühle, als ob ich die Vorausahnung hätte, das Ziel gar nicht oder erst zu spät erreichen zu können.

(23. August 1879)

Die sich hier gleichzeitig manifestierende Zielstrebigkeit und Skepsis sind mächtigste Triebfeder und beständigstes Leitmotiv von Chaussons Schaffen. Seine Zielstrebigkeit hat ihn schon Ende 1878 als Privatschüler zu Jules Massenet geführt, der eben – mit gerade 35 Jahren und schon drei Jahre vor dem älteren Camille Saint-Saëns – zum Mitglied der Académie gewählt worden ist. Kurz nachdem Chausson von seiner sommerlichen Pilgerfahrt, die ihn nicht nur zu Wagner nach München, sondern auch zu Mozart nach Salzburg und zu Dürer nach Nürnberg geführt hat, nach Paris heimkehrt, wird er im Oktober 1879 am Konservatorium als auditeur libre in die Klasse von Jules Massenet und kurz darauf auch in jene von César Franck aufgenommen. Diese doppelte und sicher komplementäre Schülerschaft verhilft Chausson, der die Vorteile der ungewöhnlichen Konstellation ideal zu nützen versteht, zu so rasanten Fortschritten, daß er sich, von Massenet und Franck gleichermaßen ermutigt, schon 1881 am Wettbewerb um den Prix de Rome beteiligt – und dort schon in der Vorrunde am 13. Mai 1881 jämmerlich scheitert. (Auch in der Endrunde wird es in diesem Jahr keinen Sieger geben – von den beiden Zweitplacierten, Alfred Bruneau und Edmond Missa, beide jünger als Chausson, wird Missa sich insgesamt fünfmal an dem Wettbewerb beteiligen, ohne je das erträumte Ziel zu erreichen…)

An den wenige Wochen später stattfindenden Abschlußexamina nimmt Chausson schon nicht mehr teil und wird am 27. Juni 1881 somit auch offiziell aus der Studentenliste des Konservatoriums gestrichen. Auf das diese Wendung besiegelnde Schülerblatt schreibt Massenet lakonisch: „Très intelligent. Indépendant.“

Zwei Wochen später finden wir Chausson in Begleitung seiner Eltern auf dem Weg nach Montbovon, dem nördlich von Lausanne gelegenen Urlaubsort von Madame de Rayssac; schon im September des Vorjahres hat er seine „Patentante“ dort besucht und in wenigen Wochen eine (ihr gewidmete, aber unveröffentlicht gebliebene) Klaviersonate in der Tonart der Appassionata komponiert. Diesmal hat man sich nicht wie damals in Ouchy, sondern in Allières niedergelassen, und die Tonart ist eine andere – wenn auch das schicksalhafte f-moll noch in ihr nachklingt.

Gleich nach der Ankunft am 11. Juli 1881 beginnt Chausson mit der Arbeit an dem Werk, das sein Gesellenstück werden und ihn für die – trotz allem sehr schmerzlich empfundene – Niederlage im Kampf um den Rompreis entschädigen soll. Zwar ist Madame de Rayssac von den ersten Teilen des Werkes, die sie am 29. Juli zu hören bekommt, alles andere als begeistert, aber je weiter die Arbeit voranschreitet, desto deutlicher und unüberhörbarer wird, daß hier ein erstes Meisterwerk im Entstehen begriffen ist.

Im ersten Satz (Pas trop lent – Animé, g-moll) beschwört Chausson mit dem (freilich nach g-moll transponierten) Incipit von Bachs F-moll-Sonate (BWV 1018), die er gleichsam als glückbringendes Amulett gleich den ersten Entwürfen voranstellt, die Hilfe des angebeteten Meisters. Wahrscheinlich hat er diese Sonate sowohl in seinem Elternhaus als auch bei Madame de Rayssac etliche Male mit Odilon Redon gespielt. Trotz dieser expliziten Anrufung erscheint das Bachsche Thema in Chaussons Werk aber nur als schattenhafte Anspielung und durchaus nicht als wörtliches Zitat. Daß es ihm überhaupt darum zu tun war, hörbare Entlehnungen zu meiden und, in bewußtem Gegensatz dazu, die ihn inspirierenden Anregungen sich ganz anzuverwandeln, läßt sich auch andernorts belegen: An einer Stelle hatte er sich dem (gerade anderthalb Jahre zuvor uraufgeführten) Klavierquintett seines Lehrers César Franck so sehr angenähert, daß böse Zungen es nicht schwer gehabt hätten, von einem Plagiat zu sprechen – und Chausson eliminierte die beiden verdächtigen Takte mitleidlos. Daß aber Franck (und eben vor allem sein mit der Bach-Sonate die Grundtonart teilendes Klavierquintett) ständig präsentes Vorbild war, ist der formalen und dramaturgischen („zyklischen“) Anlage des ganzen Werkes deutlich anzumerken.

Der Kopfsatz ist in freier Sonatenform gehalten, wobei in überaus phantasievoller Weise an die Stelle der traditionellen Gliederung in Haupt- und Seitensatz die assoziative Verknüpfung von insgesamt sieben motivischen Keimzellen tritt. Dieses Verfahren ermöglicht die flexible Anpassung des formalen Gerüstes an die inhaltlichen Erfordernisse und sichert so gleichzeitig auch den nachvollziehbaren narrativen Zusammenhalt des großräumigen Satzes.

Das Scherzo (Vite, B-Dur, 3/8) ist ein echt französischer Tanzsatz, dessen Eleganz vor allem auf dem subtilen metrischen Wechsel von Drei- und Viertaktgruppen beruht. Leicht möglich, daß die Erinnerung an den analogen Satz aus Faurés erstem Klavierquartett op. 15, dessen Uraufführung Chausson am 14. Februar 1880 wohl gehört hat, nicht ohne Einfluß auf die Gestaltung dieses Satzes geblieben ist, der in der Dramaturgie unseres Trios die Stelle eines Intermezzos einnimmt.

Dem langsamen Satz (Assez lent, ursprünglich: Andante, d-moll, 6/4) sieht und hört man die Mühe, die er dem jungen Komponisten bereitet haben muß, kaum an: Nach drei verworfenen Fassungen entwarf Chausson, bevor er in der vierten Version seine endgültigen Formulierungen festlegte, nicht weniger als vier Verlaufsskizzen, um das rechte Gleichgewicht der konstituierenden Elemente zu finden. Die sinntragenden Motive des ersten Satzes erscheinen hier in kaum veränderter Gestalt, aber ohne die fiebrige Unruhe, die ihnen dort innewohnte – und für diese Metamorphose ins Elegische mußte Chausson all seine Kunstfertigkeit aufbieten, um der Musik dabei nichts von ihrer ursprünglichen Vitalität zu rauben.

Mit dem Finalsatz (Animé, G-Dur, 3/4) scheint das Werk zunächst einem heiter beschwingten Ende entgegenzugehen: es ist ein Tanz, der rustikalere Töne als der zweite Satz anklingen läßt, und dessen metrische und formale Gestaltung im Unterschied zu allem Vorangegangenen sich ganz in Regelmäßigkeiten gefällt. Doch mitten in der vermeintlichen Schlußstretta bricht der musikalische Diskurs unvermittelt ab, und die Leitmotive des ersten und dritten Satzes erscheinen in düsteren und grüblerischen Farben wieder. Die Flucht ist mißglückt, und am Ende wiederholt die Geige notengetreu den chromatischen Quartfall (ein archetypisches Tonsymbol der Klage), mit dem das Cello den ersten Satz eröffnet hatte. In diesem das ganze Werk überspannenden Bezug, der nachträglich das gesamte Geschehen der vier Sätze als eine „vision fugitive“, ein zeitlich dimensionsloses Traumgeschehen erscheinen läßt, ist Chausson unmittelbar nach dem Ende seines „Schülerdaseins“ eine wahrhaft meisterliche Lösung geglückt, die allein schon die Aufnahme dieses wenig gespielten Werkes in das Standardrepertoire jedes Klaviertrios rechtfertigen würde.

César Franck, dem Chausson das fertige Werk am 18. September in Paris vorlegen kann – Massenet bereitet in Brüssel gerade die Première seiner Hérodiade vor –, ist angetan:

J´ai joué hier à Franck notre Trio. Il en a été très content et ne m´a fait que trois observations. Pour deux, je suis tout à fait de son avis; quant à la troisième, je résiste. Il est vrai que la conclusion du premier morceau est brusquée et que le final manque d´air; il est trop perpétuellement agité et je vais le calmer par-ci par-là; quant à l´andante, qu´il aime, il trouve la nuance rêveuse trop prolongèe. Là-dessus, je ne suis point de son avis et je crois que son impression tient à ce que je n´ai pas assez ménagé les effets en le lui jouant. Le scherzo lui plaît beaucoup. Vous voyez qu´en somme il n´y a pas beaucoup à retoucher et que je dois être content. Vous le serez certainement aussi, car, indépendamment de votre amitié et de votre qualité d´écho, vous y avez bien quelque peu collaboré.

(an Berthe-Marie-Esther de Rayssac, Paris, 19. September 1881)

In der Zeit zwischen Oktober 1881 und Februar 1882, die er, von ganz kurzen Unterbrechungen (Bordeaux, Paris, vielleicht auch Brüssel?) abgesehen, mit seinen Eltern in Biarritz verbringt, verbessert Chausson noch einiges an seiner Partitur und erwartet dann ungeduldig die Uraufführung des Werkes, der sich zunächst einige terminliche Schwierigkeiten in den Weg stellen. César Franck, dem Chausson in diesem Zusammenhang geschrieben hat, rät in seiner Antwort zu Besonnenheit und Geduld:

„A la Société [Nationale de Musique] tous les programmes sont je crois à peu prés composés; je crois plus sage de remettre votre trio à l´hyver prochain[,] nous aurons ainsi le temps de le savoir à fond et le mettre tout à fait à son point.“

(Paris, 13. März 1882)

Schließlich kann das Trio aber doch schon am 8. April 1882 von Faurés Freund und Mitarbeiter André Messager (Klavier), dem Belgier Guillaume Rémy (Violine) und Jules Delsart, dem Vorkämpfer der Gamben-Renaissance, als Violoncellisten dem Pariser Publikum vorgestellt werden – freilich ohne aber auch nur das leiseste Echo in der Presse zu finden. Eine zweite Aufführung des Werkes (17. Februar 1883), die André Messager mit Augustin Lefort (Violine) und Jules Loeb (Violoncello) bestreitet, bleibt ebenso unbemerkt – sogar Jean Gallois, der große und unangefochtene Chausson-Spezialist unserer Tage, scheint sie übersehen zu haben –, und erst die dritte erweckt ganze sieben Jahre später (15. Februar 1890) ein wenn auch nur recht laues Presse-Echo, und das wohl einzig deshalb, weil sie im Rahmen eines Jubiläumskonzertes, nämlich des 200. der Société Nationale de Musique, stattfindet; Marie-Léontine Bordes-Pène, die erste Interpretin von Francks A-Dur-Sonate, der belgische Geiger Léon Heymann und der Straßburger Cellist Cornélis Liégeois setzen sich bei dieser Gelegenheit für das Stück ein.

Das hartnäckige Desinteresse an dem kostbaren Werk schlägt sich auch darin nieder, daß es erst zwanzig Jahre nach Chaussons frühem Tod, also fast vier Jahrzehnte nach seiner Entstehung gedruckt wurde – und nach wie vor, obwohl inzwischen mehr als ein Dutzend Einspielungen auf Tonträger vorliegen, zu den selten zu hörenden Zimelien des Repertoires zählt.

© Claus-Christian Schuster

Mozart – Trio KV 564

Wolfgang Amadeus Mozart
* Salzburg, 27. Jänner 1756
† Wien, 5. Dezember 1791

Trio für Klavier, Violine und Violoncello, G-Dur, KV 564

komponiert: Wien, beendet am 27. Oktober 1788 (IX., Währingerstraße 26)

Uraufführung: nicht dokumentiert

Erstausgabe: Artaria, Wien, Oktober 1790

Mozarts Hoffnung, mit dem Don Giovanni jenen materiellen Erfolg zu erzielen , der Le nozze di Figaro versagt geblieben war, erwies sich als trügerisch: Der triumphalen Prager Uraufführung (29. Oktober 1787) folgte ein halbes Jahr später (7. Mai 1788) die von Anfang an unter einem schlechten Stern stehende Wiener Produktion. Wenige Wochen später dokumentierte die Aufgabe des luxuriösen Innenstadtquartiers und Mozarts Übersiedlung auf den Alsergrund auch äußerlich die finanzielle Misere, in der sich die Familie befand. Daß die unmittelbar darauffolgenden Monate die produktivsten in Mozarts Leben werden sollten, ist schon oft als schlagender Beweis für die „Bedingungslosigkeit“ künstlerischen Schaffens angeführt worden – am häufigsten freilich von jener Seite, die sich durch eine solche Erkenntnis freudigst von allen Verpflichtungen der Kunst gegenüber entbunden glaubt.

Aber schon ein flüchtiger zweiter Blick zeigt, daß die Unabhängigkeit und Voraussetzungslosigkeit eine nur sehr bedingte ist: Wahrscheinlich ist kein einziges der in diesen schaffensreichen Monaten entstandenen Werken ohne unmittelbaren äußeren Anlaß geschrieben worden. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß – wie etwa im Fall der Triade der letzten Symphonien – diese „Anlässe“ oft genug Projekte waren, die sich dann (eben aus materiellen Gründen) nicht verwirklichen ließen.

Von den drei Werkgattungen, die Mozart in diesem Schaffensabschnitt zum letzten Mal bedenkt (Symphonie, Violinsonate, Klaviertrio), ist jene des Klaviertrios die für sein Schaffen sicher am wenigsten konstitutive. Vielleicht auch deshalb entspricht dieses letzte Klaviertrio so gar nicht dem Topos des „letzten, krönenden“ Werkes – jenem Topos, den gerade die letzten Symphonien entscheidend mitgeprägt haben.

Waren schon im Sommer die Kammermusikwerke zwischen den monumentalen Symphonien gleichsam in Momenten der Entspannung entstanden, so darf man in KV 564 in übergreifenderem Sinne ein Postskriptum zu dem überreichen Gesamtwerk dieser kritischen Monate sehen. Wie schon in der C-Dur-Klaviersonate („eine kleine klavier Sonate für anfänger“) und der F-Dur Violinsonate („eine kleine klavier Sonate – für Anfänger mit einer Violin“) sind die technischen Ansprüche in Hinblick auf häusliches Musizieren ( – etwa mit Michael Puchberg – ) niedrig gehalten, wenn auch das Klaviertrio in seinem ersten Satz einen deutlich konzertanteren Ton aufweist als die beiden Sonaten. Das Autograph legt die Vermutung nahe, daß das Werk ursprünglich als Klaviersonate konzipiert war und erst nachträglich – wahrscheinlich in Hinblick auf einen uns unbekannten konkreten  Anlaß – zum Klaviertrio umgearbeitet wurde.

Das Allegro spielt in gelöstester und glücklichster Manier mit dem Motiv einer fallenden Terz – wie ein quasi monothematischer Satz unter Aussparung dramatischer Komplikationen so abwechslungsreich und fesselnd sein kann, ist ein beglückendes Rätsel.

Das Andante (C-Dur) unterzieht ein volksliedhaftes Thema sechs ganz schlichten Variationen, von denen die ersten drei sich auf einfache figurale Umspielung beschränken, während die folgenden beiden die schon im Thema manifesten imitatorischen Möglichkeiten nacheinander in Dur und Moll skizzenhaft umreißen. Mit dem Minore ist auch die dramaturgische Mitte des ganzen Werkes und der einzige Moment drohender Vereinsamung erreicht; schon die folgende Schlußvariation zerstäubt diese Gefahr in einen schwerelos beschwingten Tanz.  Auf diese Weise finden sich der dunkelste und der hellste Ton des Werkes in unmittelbarer Nachbarschaft und halten das Werk aus seiner Mitte heraus im Gleichgewicht.

Das abschließende Allegretto ist eine Siciliana in Rondoform. Das Ritornell ist auf naiv-raffinierte Weise phrasiert, in dem die Baßlinie im Wechsel von abschließenden Viertel- und Achtelnoten zwischen zögernder Frage und tänzerischem Schwung irisiert. Die beiden Rondo-Episoden sind in subtiler Antithese aufeinander bezogen, indem die erste, ein unmißverständlich „französisches“ Minore, der Siciliana empfindsame Töne entlockt, während die andere den eleganten metrischen Duktus des Satzes ganz verläßt, um uns auf einer „teutschen“ Tenne mit bäurischer Ausgelassenheit tanzen zu lassen. Die Coda ist in ihrem unprätentiosen Einfallsreichtum ein würdiger Schlußpunkt für Mozarts Klaviertriowerk. Wer sich erst einmal von der (in repräsentationshungrigen Zeiten gerne genährten) Erwartung gelöst hat, jede Werkgruppe im Schaffen eines Genies müsse auf ein alles zuvor Begonnene überragendes Erfüllungswerk  zustreben (also etwa einem Pendant zu „Jupiter-Symphonie“ oder  Requiem), wird die innige und unbeschwerte Einfachheit dieses Abschlußwerkes nicht als Schwäche, sondern als unverdiente Gnade erleben.

© Claus-Christian Schuster

Mozart – Trio KV 548

Wolfgang Amadeus Mozart
* Salzburg, 27. Jänner 1756
† Wien, 5. Dezember 1791

Trio für Klavier, Violine und Violoncello, C-Dur, KV 548

komponiert: Wien (Währinger Straße 26, Gartenhaus), beendet am 14.Juli 1788

Uraufführung: nicht dokumentiert

Erstausgabe: Artaria, Wien, 1788

 „…Wenn Sie vielleicht so bald nicht eine Solche Summa entbehren könnten, so bitte ich sie mir wenigstens bis Morgen ein paar hundert gulden zu lehnen, weil mein Hausherr auf der Landstrasse so indiscret war, daß ich ihn gleich auf der stelle ( um ungelegenheit zu vermeiden ) auszahlen musste, welches mich sehr in unordnung gebracht hat! – wir schlafen heute daß erstemal in unserem neuen quartier, alwo wir Sommer und winter bleiben; – ich finde es im grunde einerley wo nicht besser; ich habe ohnehin nicht viel in der stadt zu thun, und kann, da ich den vielen besuchen nicht ausgesezt bin, mit mehrerer Musse arbeiten; – und muß ich geschäfte halber in die stadt, welches ohnehin selten genug geschehen wird, so führt mich Jeder fiacre um 10 x: hinein, um das ist auch das logis wohlfeiler, und wegen frühJahr, Sommer, und Herbst, angenehmer – da ich auch einen garten habe. – Das Logis ist in der waringergasse, bey den 3 Sternen N:o 135.

Die Übersiedlung, die Mozart seinem Logenbruder Michael Puchberg am 17. Juni 1788 mit diesem Brief anzeigt, ist äußeres Zeichen der kontinuierlichen Verschlechterung seiner wirtschaftlichen Lage: Schon ein Jahr zuvor hatte er den herrschaftlichen Haushalt im „Figaro-Haus“ (Schulerstraße 8/Domgasse 5) aufgeben müssen und auf der Landstraße ein billigeres Quartier bezogen (Landstraße 75-77). Vielleicht weil diese Unterkunft sich als nicht ausreichend winterfest erwiesen hatte, zogen die Mozarts schon Anfang Dezember wieder in die Stadt um (Tuchlauben 27/Ecke Schultergasse), wo Constanze am 27. Dezember 1787 ihr viertes Kind zur Welt brachte. Wie aus dem zitierten Brief hervorgeht, hatte man dabei aber, um im Sommer wieder die Vorteile einer luftigeren Wohnung im Grünen nützen zu können, den Haushalt auf der Landstraße zunächst nicht aufgegeben – eines der vielen kleinen Indizien für Mozarts Großzügigkeit im Umgang mit dem leidigen Geld.

Wenige Wochen zuvor hatte Joseph II. als Verbündeter Rußlands dem Osmanischen Reich den Krieg erklärt, ein in jeder Hinsicht unglücklicher Schritt, dessen absehbares Scheitern auch die allgemeine Wirtschaftslage deutlich verschlechterte. Die durch die völlig sinnlosen Kriegsausgaben heraufbeschworene Krise zwang in der Folge sogar den Adel zu Sparmaßnahmen, und darunter litt naturgemäß das Wiener Musikleben besonders empfindlich. Der in krassem Gegensatz zu dem Prager Triumph des Vorjahres stehende Mißerfolg der Wiener Erstaufführung des „Don Giovanni“ (7. Mai 1788) ist so besehen nicht ausschließlich auf den schlechten Geschmack der Wiener zurückzuführen. Was Mozarts persönliche finanzielle Probleme anlangt, so waren, neben einer in manchem wahrscheinlich noch immer allzu aufwendigen und luxuriösen Haushaltsführung, vor allem Constanzes Krankheit und die dadurch notwendigen Kuren eine zusätzliche Belastung. Immer wieder und in immer kürzeren Abständen muß Mozart sich mit der Bitte um finanzielle Unterstützung an Puchberg wenden, der ihn fast nie enttäuscht. Zu der materiellen Misere kommt persönliches Leid: knapp zwei Wochen nach der Übersiedlung auf den Alsergrund stirbt  die im Dezember zur Welt gekommene Tochter Theresia (29. Juni 1788).

Mozarts Hoffnung, „mit mehrerer Musse arbeiten“ zu können, hat sich aber all diesen tragischen und widrigen Umständen zum Trotz dennoch in wunderbarer Weise bestätigt: Schon in den ersten beiden Monaten entstand im neuen Quartier „Zu den drei Sternen“ (an der Stelle des heutigen Hauses Währinger Straße 26) die Triade der letzten Symphonien – ein Leistung, deren konzentrierte Dichte in der Musikgeschichte vielleicht nur noch in der Entstehung von Schuberts letzten drei Klaviersonaten eine Parallele hat. Ist Mozarts Arbeitsrhythmus schon zu „normalen“ Zeiten beeindruckend, so wird in diesen Wochen die Grenze des Vorstellbaren erreicht. Das E-Dur-Klaviertrio (KV 542) ist mit dem 22. Juni datiert; vier Tage später ist die Niederschrift der Es-Dur-Symphonie (KV 543) beendet. Am selben Tag trägt Mozart in sein handschriftliches Kompositionsverzeichnis auch die zwischendurch entstandenen Werke KV 544-546 ein, unter denen sich auch die als „Sonata facile“ zu ominöser Berühmtheit gelangte Klaviersonate in C-Dur (KV 545) befindet. Der erste Eintrag nach dem Tod der Tochter datiert vom 10. Juli: An diesem Tag beendet Mozart die letzte seiner Sonaten für Klavier und Violine (F-Dur, KV 547). Der Komposition unseres Klaviertrios folgt dann innerhalb weniger Wochen der Abschluß der G-moll-Symphonie (KV 550, 25. Juni) und von Mozarts letzter Symphonie, der Jupiter-Symphonie (C-Dur, KV 551, 10. August). Als kammermusikalischer Epilog zu diesem vielleicht produktivsten Sommer in Mozarts Leben entstehen nach einer kurzen Pause dann im Herbst noch das große Divertimento für Streichtrio (Es-Dur, KV 563) und das letzte Klaviertrio (G-Dur, KV 564).

Wenn man einmal den fast unvermeidlichen ehrfürchtigen Schauer vor einer solchen Schaffensflut beiseite läßt, dann erscheinen einige Details dieser beeindruckenden Werkliste besonders bemerkenswert. Da ist zunächst einmal die auffällige Häufung „letzter Werke“: Mehr als drei Jahre vor Mozarts Tod werden in diesen Monaten gleich drei Werkgattungen ad acta gelegt – die Symphonie, die Violinsonate und das Klaviertrio. Obwohl man – jedenfalls in den letzten beiden Fällen – sicher nicht von einem bewußten Abschluß der Auseinandersetzung mit den betroffenen Genres sprechen wird dürfen, so ist das Factum als solches doch erstaunlich, vor allem, wenn man bedenkt, ein wie langer Abschnitt die (mit unserer Alltagselle gemessen recht kurz erscheinende) verbleibende Zeit in Mozarts Biographie war. Als nächstes fällt auf, daß die Werke, die sich zwischen die Komposition der Symphonien drängen, zwar in vieler Hinsicht die Klang- und Gedankenwelt dieser Gipfelwerke widerspiegeln, sich jedoch ganz betont bescheiden geben: Die Sonaten KV 545 und KV 547 sind sogar ganz ausdrücklich „für Anfänger“ geschrieben – und zwar, soweit wir wissen, ohne die geringste unmittelbar praktische Veranlassung. Im Zusammenhang mit diesen beiden Sonaten, unserem Trio und der Krönung dieses ganzen Sommers, der Jupiter-Symphonie, verdient vielleicht noch die Tatsache Erwähnung, daß von den dreizehn Sätzen dieser vier Werke nur ein einziger (nämlich der Mittelsatz der Klaviersonate) das Reich des Tonartenpaares C-Dur/F-Dur verläßt. Wenn man weiß, wie eng in der klangsinnlichen Welt Mozarts (ganz unabhängig von zwangsläufig im Schematischen steckenbleibenden „Tonartencharakteristiken“) die thematische und harmonische Landschaft eines Werkes mit der gewählten Tonart verknüpft ist, wird man diesem Umstand die ihm gebührende Beachtung schenken.

Trotz der sich aus dieser letzten Bemerkung ergebenden Querverbindung unseres Trios zur Jupiter-Symphonie, ist aber die Wahl der Tonart natürlich zuallererst in Zusammenhang mit dem unmittelbar vorangehenden Schwesternwerk (KV 542, E-Dur) zu bewerten. Denn es ist nicht unwahrscheinlich, daß Mozart mit den im Laufe dieses Sommers 1788 entstandenen Klaviertrios ursprünglich ähnliches im Sinn hatte wie etwa mit den  Streichquintetten des Jahres 1787 oder den Streichquartetten von 1789 – nämlich eine zyklische Veröffentlichung.

Im Rahmen der ungleichschwebend temperierten Stimmung gehört C-Dur zu den  „akkordischen“ Tonarten. Die Sonderstellung dieser Tonart in unserer musikalischen Orthographie und ihr daraus ableitbarer „pädagogischer“ Gebrauch läßt uns nur zu leicht ihre subtilere Spezifik vergessen. (Daß C-Dur – jedenfalls in den Händen unserer großen Meister – niemals eine „neutrale“ Allerweltstonart war, versteht sich von selbst; gerade das musikhistorisch so bedeutungsschwere Paar Jupiter-Symphonie/I. Beethoven, das noch dazu durch exakt kongruente Satz- und Tonartenfolge verbunden ist, mag da als Beleg dienen). Im Reich der Klavier- und Kammermusik muß das ungleichschwebende C-Dur jedenfalls ein koloristisches Element besessen haben, das es zum „Gegenbild“ des komplizierten E-Dur geradezu prädestinierte. Jedenfalls fällt auf, daß diese beiden Tonarten in drei Haydnschen Werkzyklen unmittelbar aufeinander folgen. Während in den Bartolozzi-Trios (Hob. XV:27-29) und den Esterházy-Sonaten (Hob. XVI:21-26) die Folge jeweils C-Dur/E-Dur ist, finden wir im ersten Zyklus der Tost-Quartette (Hob. III:57-59) ebenso wie einige Jahre später an einer sehr auffälligen Stelle der „Schöpfung“ die uns auch bei den beiden Mozartschen Klaviertrios des Sommers 1788 begegnende Abfolge E-Dur/C-Dur: Zu Beginn des dritten Teiles schildert Haydn den Paradiesesmorgen (E-Dur), der Adam und Eva zu einem naiven Lobgesang (C-Dur) hinreißt. Nicht unähnlich der dort von Haydn verwendeten Dramaturgie führt auch bei den beiden einander folgenden Mozartschen Klaviertrios  der Weg von E-Dur nach C-Dur aus einer Sphäre lyrischer Halbtöne in das volle Licht tätiger Zustimmung.

Das auf den Tag genau ein Jahr vor dem legendären Sturm auf die Bastille beendete Werk erinnert uns gleich mit dem Kopfmotiv des eröffnenden Allegro an den mit revolutionären Gedanken spielenden Figaro – es ist schwer, sein „…delle belle turbando il riposo…“ (aus der Arie „Non più andrai“) nicht mitzusingen.[1] Überhaupt scheint der ganze Satz von opernhafter Gestik und Mimik durchzogen zu sein – die charakteristische Tonwiederholung auf der Dominante, die zwischen Bangigkeit und Koketterie schwankt, unterstreicht das ebenso wie das spitzbübische Seitenthema, das mit dynamisch ausgeklügelter Rhetorik einen köstlichen Intrigenplan entwirft. Das klagende Seufzermotiv, das in der sich in kanonischer Komplikation nach Moll wendenden Durchführung neu hinzutritt, steht in berührendem Gegenatz zu diesem leichtgewichtig-launigen Spiel: Hier wird hinter dem wie immer auch mitreißenden Spiel ein tiefer blickender Ernst hörbar, dessen wehmütiges Echo in der Folge auch fast noch die Reprise aus der ihr vorbestimmten „schicksalslosen“ Bahn wirft. Doch die ganz in ihrem Spiel befangenen Protagonisten wollen von den Zweifeln des Regisseurs gar nichts bemerkt haben, und der zupackende Humor des Incipits herrscht zuletzt auch ganz unangefochten über die ausgelassene Coda.

Der zweite Satz, Andante cantabile (F-Dur), ist ein Sonatensatz mit einem Hauptthema von recht eigenwilligem Zuschnitt: Vordersatz und Nachsatz der eröffnenden Periode (Klavier solo) haben motivisch nur sehr wenig gemeinsam, dafür wird der Nachsatz von der Geige wiederholt, so daß sich rückblickend der Vordersatz fast wie ein enleitendes Motto ausnimmt. Das charakteristischste Detail dieses Mottos, eine sich aus dem rhythmischen Hauptmotiv anmutig lösende Skala in zierlichen Zweiunddreißigsteln, wird in der Durchführung auf eine weite modulatorische Reise geschickt, wobei ihm das Seitenthema als Weggefährte mitgegeben wird. An kontrapunktischer Originalität steht diese Durchführung derjenigen des analogen Satzes von KV 496 (Klaviertrio G-Dur) nicht viel nach. In der Reprise wird der Ablauf des Geschehens kurz vor Ende von einem „Seufzerdialog“ (zwischen Geige und Klavier) unterbrochen, der noch einmal, gleichsam von ferne, an die dunkleren Töne des Kopfsatzes erinnert.

Doch auch diese Reminiszenz bleibt Episode: Ein keckes Rondo im Sechsachteltakt (Allegro) beschließt das Werk – unter allen Klaviertriosätzen Mozarts sicher der übermütigste und brillanteste. Der formale Ablauf entspricht fast genau dem des Finales aus KV 542, doch ist die konzertante Weiträumigkeit des E-Dur-Satzes hier einer frechen Knappheit gewichen, die hervorragend zu dem vorlauten Ton des thematischen Materials paßt. In das Minore klingen zwar wie von ferne noch die Sospiri der vorangehenden Sätze hinüber, aber auf die Dauer vermag nichts, sich der ansteckenden Ausgelassenheit zu entziehen, mit der Mozart den Satz zu einem wirkungsvollen Abschluß bringt. Die Lausbübereien reichen buchstäblich bis zum letzten Ton: In der Schlußwendung wird das augenzwinkernd martialische Incipit des ersten Satzes noch in einer wie beiläufig angebrachten Umkehrung verspottet.

 

[1] Diese Assoziation ist übrigens ein guter Beleg dafür, daß tonartliche und metrische Parallelen oft stärker wirken als eine sogar „wörtliche“ diastematische Übereinstimmung. Denn wer wollte leugnen, daß bei den drei folgenden – hier in chronologischer Reihenfolge zitierten Wendungen:
a) (KV 375,2,1-4) (Bläserserenade Es-Dur KV 375, Menuetto primo, Oktober 1781)
b) (KV 492,9,5-7) (Le nozze di Figaro KV 492, Nr. 9: Arie des Figaro, C-Dur, Oktober 1785/April 1786)
c) (KV 548,1,1,1-4) (Trio C-Dur KV 548, 1. Satz, Juli 1788)

die Bindung zwischen b) und c) weit enger ist als die zwischen a) und c), obwohl die „mechanische“ melodische Kongruenz im ersten Fall unbestreitbar enger als im zweiten ist? An diesem Eindruck ist natürlich auch der größere – also: raumgreifendere, mutigere – Ambitus der Beispiele b) (Dezim) und c) (Tredezim) im Vergleich zur biederen Oktave des Bläsermenuetts entscheidend beteiligt.

 

Mozart – Trio KV 542

Wolfgang Amadeus Mozart
* Salzburg, 27. Jänner 1756
† Wien, 5. Dezember 1791

Trio E-Dur KV 542

Komponiert: Wien (Währinger Straße 26, Gartenhaus), beendet am 22. Juni 1788
Widmung: Michael Puchberg (1741-1822)
Uraufführung: privat wohl Ende Juni 1788 bei Michael Puchberg (Wien I., Hoher Markt)

erste dokumentierte (nicht gesicherte) öffentliche Aufführung: Dresden, Hotel de Pologne, 13. April 1789
W.A. Mozart, Klavier
NN, Violine

Anton Kraft (1749-1820), Violoncello

Erstausgabe: Artaria, Wien, 1788

Der kompositorisch reichste Sommer in Mozarts Leben schenkte uns neben der Triade der letzten Symphonien auch die beiden Klaviertrios KV 542 und KV 548. Der schattenreiche biographische Hintergrund dieser Monate prägt auch Mozarts letztes Klaviertrio (G-Dur, KV 564), das als letzte Nachsommerfrucht Ende Oktober diese unfaßbar reiche Schaffensperiode beschließt: Geldnöte, Krankheit, ungünstige politische und soziale Konstellationen bilden einen dissonanzenreichen Kontrapunkt zum Schaffensglück dieses Sommers und hängen wie dräuende Gewitterwolken über einem Erntetag.

Das Trio KV 542 ist Mozarts einziges Werk in der Haupttonart E-Dur. Diese Tonart gehört in der ungleichschwebenden Stimmung zu den besonders „expressiven“, „gespannten“, was die Sparsamkeit ihrer Verwendung durch die Klassiker erklärt. Immerhin fällt auf, daß in Haydns Werk E-Dur zwar auch zu den selteneren Tonarten zählt, doch als Grundtonart mit einer ganzen Reihe gewichtiger Werke vertreten ist (je drei Streichquartette, Streichtrios und Klaviersonaten, je zwei Symphonien und Klaviertrios). Der Opernfreund wird sich aber unschwer an einige sehr bezeichnende und beziehungsreiche E-Dur-Momente auch in Mozarts Oeuvre erinnern: der gravitätisch-ehrfurchtsvollen (bzw. ehrfurchtgebietenden) Geste von Leporellos „O statua gentilissima“ und Sarastros „In diesen heil’gen Hallen“ steht die Naturpoesie zweier auch textlich verwandter Stellen in „Cosí fan tutte“ („Soave sia il vento“) und „Idomeneo“ („Zeffiretti lusinghieri“) gegenüber.

Dieses letzte Stück (KV 366/Nr.19 – Grazioso) führt uns recht nahe an die Stimmungswelt des Kopfsatzes (Allegro) unseres Trios. Hier wie dort wird die Atmosphäre von einem schwebenden Dreivierteltakt mit ausdrucksvollen chromatischen Wendungen getragen. Der weitgespannte Bogen des Hauptthemas, das in der Reprise noch eine sehr bemerkenswerte harmonische Bereicherung erfährt; das fast zerbrechliche Seitenthema, an dessen Ende der unerwartete Eintritt des Violoncello eine verblüffende Rückung markiert, die ihrerseits wiederum zu einem kontrapunktischen Geniestreich führt; und endlich die „empfindsam“ dahinsterbende Schlußgruppe, in der die alle Elemente verbindende chromatische Keimzelle offen zutage tritt – all das läßt den Satz in einem außergewöhnlichen, nicht alltäglichen Licht erscheinen.

Bei aller Skepsis gegenüber der müßigen Reminiszenzenjagd ist nicht zu leugnen, daß das folgende Andante grazioso (A-Dur) eine Zwillingsschwester des As-Dur-Andante aus der benachbarten Symphonie (Es-Dur, KV 543) ist: rhythmischer Duktus, melodische Gestik , bis hin zu einzelnen Wendungen – alles ist aus dem gleichen Holz geschnitzt. Und doch befinden wir uns hier in einer völlig anderen Welt, die freilich mit dem Gegensatz A-Dur/As-Dur nur ganz oberflächlich angedeutet werden kann. Vor Mozarts wirklich unerschöpflichem Erfindungsreichtum in der Harmonisierung des schlichten Rondothemas kann man nur sprachlos staunen. Die Rondoform ist übrigens wieder sehr frei behandelt: Die erste Episode ist nur ein reich ausgezierter Zwischensatz, das Minore variiert das Thema fast in der Art einer Durchführung, und die dazwischenliegenden Ritornelle sind miniaturhaft verkürzt, wodurch noch Raum für eine Coda gewonnen wird, in der Mozart sich selbst an harmonischem Einfallsreichtum noch einmal übertrifft.

Auch für den Finalsatz (Allegro), der erst im zweiten Anlauf seine uns bekannte Gestalt erhielt ( – im Autograph steht zwischen Andante und Finale ein 65 Takte langes Fragment des ursprünglichen Schlußsatzes im Sechsachteltakt – ), bedient sich Mozart der Rondoform, und wieder finden wir bestätigt, was wir bezüglich der formalen Verhältnisse zwischen dem 2. und 3. Satz des Trios B-Dur KV 502 schon feststellen konnten. Die Aufeinanderfolge zweier Sätze, denen das gleiche formale Grundschema zugrunde liegt, bedingt die Verwendung möglichst weit auseinanderliegender Varianten dieses Schemas. Folgerichtig finden wir in diesem herrlichen Schlußrondo die erste Episode betont konzertant ausgeprägt und das Minore mit besonders großer Selbständigkeit behandelt. Dem Formumriß ABACA-Coda des Andante ist hier die Gestalt ABACBA-Coda gegenübergestellt, worin sich noch über all diese Gewichtsverschiebungen hinaus die formale Eigenständigkeit der beiden Sätze manifestiert. In die Rückführung zum 2. Ritornell hat Mozart übrigens einen ganz köstlich „schrägen“ Querstand eingebaut (ich glaube fast, im Autograph das spitzbübische Vergnügen an diesem Streich graphisch ausgedrückt zu sehen!) – leider haben fast alle Ausgaben diese „Ungebührlichkeit“ des Meisters schamhaft wegretouchiert.

Aus dem Postscriptum des Briefes, mit dem Mozart seinem Logenbruder und Mäzen Michael Puchberg Mitte Juni 1788 seine Übersiedlung anzeigt: „Wann werden wir denn wieder bey ihnen eine kleine Musique machen?– Ich habe ein Neues Trio geschrieben!“ klingt schon die Vorfreude auf das Vergnügen, das Mozart sich und seinen Freunden mit diesem Werk zu bereiten gedenkt. Daß er dabei in besonderer Weise an Michael Puchberg gedacht hat, geht aus mehreren Briefstellen hervor, in denen das Werk als für Puchberg geschrieben bezeichnet wird. Wenige Wochen später bittet er seine Schwester, Michael Haydn zu sich nach St. Gilgen einzuladen und ihm seine – Mozarts – „Neuen sachen“ vorzuspielen: „…das Trio [KV 542], und quartett [KV 493] wird ihm nicht misfallen.“ Auf der Reise, die Mozart im darauffolgenden Frühling mit Fürst Carl Lichnowsky nach Prag, Dresden und Berlin führte, kam es in Dresden am 13. April 1789, am Vorabend von Mozarts Auftreten am Hof des Kurfürsten Friedrich August III. Von Sachsen, zur ersten datierbaren Aufführung des Werkes. Mozart wußte ganz offensichtlich, daß ihm mit diesem Werk ein auch in seinem Oeuvre nicht alltäglicher Wurf gelungen war. Nicht nur die meisten Mozartbiographen sehen in diesem Werk die Krönung von Mozarts Klaviertrioschaffen. Chopin schätzte das E-Dur-Trio ganz besonders und führte es etliche Male öffentlich auf.

© Claus-Christian Schuster