Brahms – Quartett op. 26

Johannes Brahms
* Hamburg, 7. Mai 1833
† Wien, 3. April 1897

Quartett für Pianoforte, Violine, Viola und Violoncello Nr. 2, A-Dur, op. 26

komponiert: Düsseldorf 1855 (?), Hamm bei Hamburg, Juli – September 1861

Uraufführung:Wien, Musikverein (Tuchlauben), 29. November 1862
Johannes Brahms, Klavier
Josef Hellmesberger sen. (1828-1893), Violine
Franz Dobyhal (1817-1894), Viola
Heinrich Röver (1827-1875), Violoncello

Widmung: Elisabeth Rösing, geb. Reiffenberg (1797-1871)

Erstausgabe: Simrock, Bonn, Juni 1863

 Wenn es auch keine eindeutigen Belege dafür gibt, so darf es doch als wahrscheinlich gelten, daß Brahms den Plan zu seinem A-Dur-Quartett etwa gleichzeitig mit den ersten Skizzen zu den beiden Schwesterwerken in g-moll (op. 25) und c-moll (op. 60) entworfen hat. In jenen allzu oft und meistens mit überbordender poetischer Freiheit beschworenen Düsseldorfer Tagen der Jahre 1854 bis 1856 liegt jedenfalls der Keim für die einzigartige Triade dieser Klavierquartette, die wohl den Scheitelpunkt der gesamten Gattungsgeschichte markiert.

Die überaus komplizierte Entstehungsgeschichte der drei Werke läßt sich in vielen Details nicht mehr rekonstruieren; fraglos bleibt aber, daß die drei Quartette eine gedankliche Einheit bilden: So grundverschieden Schicksal und Aussage dieser höchst individuellen Schöpfungen auch ist, so ergänzen sie einander doch zu einem Organismus von bezwingender Kohärenz. Neben den zwei Schwesterwerken, dem schon allein wegen des mitreißenden Rondo alla zingarese populären G-moll-Quartett und dem wertherisch-bekenntnishaften C-moll-Quartett, das in seiner unerhörten Radikalität und Konsequenz einen Sonderfall nicht nur innerhalb der Brahmsschen Kammermusik darstellt, hatte unser A-Dur-Quartett schon immer einen recht schweren Stand – ein Factum, das sich in Aufführungsstatistik und Rezeptionsgeschichte recht deutlich widerspiegelt.

Max Kalbeck mutmaßte, die Anfänge des Opus 26 reichten in die Tage des 33. Niederrheinischen Musikfestes (Düsseldorf, Mai 1855) zurück: „Jenes träumerische, süße Adagio, welches den zweiten Satz des Quartetts bildet, scheint einer ganz bestimmten rheinischen Mainacht seine Entstehung zu verdanken.“ Kalbecks ebenso rührende wie bilderreiche Deutung des Satzes hätte den Komponisten wohl peinlich berührt – womit aber nicht gesagt ist, daß sie am Kern der Sache völlig vorbeiginge.

Mit dem Joachim-Schüler Carl Bargheer (1831-1902), dem Bratschisten Schulze und Julius Schmidt („Schlummer“-Schmidt) am Cello probierte Brahms im Herbst 1857 in Detmold Klavierquartette aus – ob aber darunter schon Teile unseres A-Dur-Quartettes waren, läßt sich nicht sagen. Erst nachdem Brahms Detmold endgültig den Rücken gekehrt hatte und vorübergehend in seiner Heimatstadt seßhaft geworden war, sollte das Opus 26 aus dem Nebel der Vorgeschichte treten.

Am 13. Juli 1861 bezog Brahms in dem Hamburger Vorort Hamm (Schwarze Straße 5) eine Wohnung im Hause von Elisabeth Rösing, der Witwe eines Privatgelehrten; Frau Dr. Rösings Nichten, Betty und Marie Völckers, die im Nachbarhaus wohnten, waren Stützen des von Brahms zwischen Juni 1859 und Mai 1861 geleiteten Hamburger Frauenchores gewesen. Zusammen mit ihren Freundinnen Laura Garbe und Marie Reuter bildeten sie noch immer jenes Vokalensemble, das Brahms zärtlich „mein Mädchenquartett“ nannte, und dessen ständige Verfügbarkeit wohl nicht den geringsten Reiz des neuen Domizils ausmachte. Bis zu Brahms´ Abreise nach Wien (September 1862) sollte Hamm seine Künstlerresidenz bleiben. Der damals noch ganz ländliche Ort am linken Alsterufer war von der Stadt aus bequem zu erreichen, und Brahms konnte den ihn besuchenden Freunden sein verwaistes Zimmer im Elternhaus anbieten. Zu den Gästen, die Brahms hier schon in den ersten Monaten seines Aufenthaltes besuchen sollten, gehörten natürlich allen voran Clara Schumann aus Berlin und Joseph Joachim aus Hannover – aber bald gesellten sich auch neue Bekanntschaften hinzu, wie Hermann Levi, der aus Rotterdam anreiste (und dessen innige Beziehung zu Brahms einen so unglücklichen Verlauf nehmen sollte), oder der umtriebige Selmar Bagge aus Wien, den wir weiter unten als Kritiker der Uraufführung des Opus 26 wiederfinden werden.

Unter den allerersten Arbeiten, die Brahms in seinem neuen Quartier zu einem vorläufigen Abschluß brachte, müssen die ersten beiden Sätze von Opus 25 und der 3. Satz unseres A-Dur-Quartetts gewesen sein – denn Clara, die in einem Brief vom 15. Juli um eine Notensendung gebeten hatte, konnte sich schon zwei Wochen später über diese Stücke auslassen:

„Ein Urteil kann ich natürlich nicht fällen, nur über den ersten Eindruck zu Dir sprechen – wird Dir daran etwas liegen? Und doch habe ich oft erfahren, daß der erste Eindruck mir blieb. […] Das Scherzo in A dur kenne ich noch zu wenig, habe aber doch mit großem Interesse die schönen Verwebungen des Themas verfolgt – das schlingt sich immer so schön ineinander und entwickelt sich ebenso eines aus dem andern. Das 2. Motiv erinnerte mich sehr an eine Stelle in Roberts Streichquartett [op. 41 Nr. 3], nicht melodisch gerade, aber in der Anlage und Stimmung. Das Trio ist recht frisch, und eigentümlich im Rhythmus, die 6 und 7 Takte frappierten mich erst nicht angenehm, aber daran gewöhnt man sich. Ich glaube, mit diesem Stücke ist es wie mit manchem von Dir, das wird einem erst recht lieb, wenn man es genau kennt, erst oft gehört hat.“

(Clara Schumann an Johannes Brahms, [Bad] Kreuznach, 29. Juli 1861)

Gegen Ende des Sommers muß das Quartett schon sehr weit gediehen gewesen sein; Brahms´ Jugendfreund Albert Dietrich berichtet in seinen „Erinnerungen an Johannes Brahms“ über den September 1861:

„Nun machte ich die projectirte kleine Tour nach Hamburg, um Brahms zu besuchen, und wohnte bei dessen Eltern in der Stadt, Fuhlentwiete, einer engen alten Straße. Brahms selbst wohnte, um ruhiger arbeiten zu können, äußerst freundlich in dem Vorort Hamm bei einer Frau Dr. Rösing. Ihr widmete er eins seiner schönsten Werke, sein A-dur-Clavierquartett. Er spielte mir gegen seine Gewohnheit aus den Skizzen vor, und ich gewann dabei schon die Überzeugung, daß es ein hervorragend herrliches Werk werden würde.“

In den letzten Septembertagen kann Brahms die Quartett-Zwillinge an seinen „liebsten Jussuf“ Joachim nach Hannover schicken. Joachims erste Reaktion (Brief vom 2. Oktober 1861)  nimmt in mancher Hinsicht die seit anderthalb Jahrhunderten im wesentlichen gleichbleibende Rezeption der beiden Werke vorweg: Während er über das G-moll-Quartett sofort ins Schwärmen gerät, bedenkt er op. 26 gerade mit einem einzigen mageren Satz. Doch es wäre nicht Joachim gewesen, wenn sich seine Perspektive nach näherem Studium nicht grundlegend gewandelt hätte:

„Mit dem A-Dur-Quartett habe ich mich immer mehr befreundet. Der Ton innigster Zartheit wechselt schön mit frischer Lebenslust. Manche harmonische Besonderheit würde mir, hätte ich sie im raschen Fortgang gleich gehört, statt sie mit dem Aug´ zu betrachten, nicht störend gewesen sein! […] Herrlich ist das Adagio! Erst meint ich, der Gegensatz zum E dur wäre nicht glücklich; aber als ich´s (selbst auf meine stockende Weise) auf dem Klavier durchspielte, wurde ich doch ganz warm dabei, und wenn dann der goldene Faden des Themas in die unbestimmte Leidenschaft beruhigend hineinschimmert, so ist das gerade ganz wunderschön. Einige schwere Griffe werden leicht in den Streichinstrumenten zu ändern sein. Auch das Nachschlagen im Scherzo, das sich bei der Ausführung unpraktisch erweisen dürfte. Schon im ersten Satz des Schumannschen A-Dur-Quartetts, das doch viel langsamer geht, klingt es unruhig. Aber wie rund und aus dem Ganzen ist sonst das Scherzo geraten. Es gemahnt manchmal an letzten Beethoven, so konzentriert ist der Bau, und eigentümlich die Wendung der Melodie. Mache nur, daß ich bald alle Sachen höre.“

(Joseph Joachim an Johannes Brahms, Hannover, 15. Oktober 1861)

Daß der Schreiber hier treffsicher genau dieselbe Parallele zu Schumanns op. 41 Nr. 3 zieht wie Clara in ihrem Brief zwei Monate zuvor, ist ein schönes Beispiel für die Dichte und Tragfähigkeit des Beziehungsgeflechtes, auf dem die Wahlverwandtschaft zwischen diesen musikalischen Geistern beruhte.

Als Joachim dann Gelegenheit bekam, die beiden Werke nicht nur zu hören, sondern auch zu spielen, entwickelte er – wie viele tiefer veranlagte Musiker – eine ganz besondere Vorliebe für das A-Dur-Quartett; von einer mit Brahms unternommenen Konzertreise wird er einige Jahre später schreiben:

„Die beiden Quartette von ihm haben mich in Zürich und Aarau wieder recht erwärmt; namentlich hat das A-dur soviel Zartheit und Verklärung an vielen Stellen, daß man nur daran zu denken braucht, will man über einzelne Rücksichtslosigkeiten des Freundes hinwegkommen. Wer so schreibt, ist edel und gut.“

(Joseph Joachim an Clara Schumann, Basel, 4. November 1866)

Obwohl das Opus 25 schon am 16. November 1861 in Hamburg von Clara Schumann (mit John Böie, Friedrich Breyther und Louis Lee) aus der Taufe gehoben werden konnte, mußte es sich ebenso wie seine A-Dur-Schwester in den folgenden Monaten noch zahlreiche Änderungen und Verbesserungen gefallen lassen – von diesem langwierigen und vielschichtigen Prozeß geben die erhaltenen autographen Quellen einen ungefähren Begriff. Daß aber damit der Läuterungsweg der Werke noch lange nicht beendet war, erfährt man aus dem Schreiben, das die Übersendung der beiden vorläufig abgeschlossenen Partituren an den Musikkritiker Adolf Schubring (1817-1893) nach Dessau begleitete:

„Sehr geehrter Freund!

Ich weiß Sie nicht besser zu grüßen, was ich doch gerne wollte, als indem ich Ihnen einige Noten schicke.

Zwei Klavier-Quartette, denen ich die Stimmen beilege, obschon ich glaube, Sie werden dieselben lieber lesen als nach dem schlechten Manuskript spielen.

Ohne Egoismus geht´s freilich nicht, ich wünschte sehr zu hören, was die Quartette für Eindruck machen.

Und, bitte, grade heraus, denn es ist doch besser, wir zanken uns im Notfall einmal, als sagen kein rechtes Wort.

Leider muß ich auch wieder drängen um die Rücksendung, da ich die Quartette gern zur Herausgabe vornähme; durch Feuer und Wasser müssen sie noch gehörig, ehe sie eingehen können in dem Tempel Härtel oder sonst wo.

Ich denke, in acht Tagen haben Sie sie vollauf genossen, und spätestens lassen Sie Ihren rücksendenden, und wenn es Ihre Zeit und Lust erlaubt, besprechenden Brief mir eine Geburtstagsfreude sein.“

(Johannes Brahms an Adolf Schubring, Hamm, 27. April 1862)

Der erwartete „besprechende Brief“ blieb sicher nicht aus – leider ist er uns nicht erhalten geblieben. Daß aber Brahms, als er am 8. September 1862 von Hamburg nach Wien aufbrach, den Weg über Dessau nahm, wo er mehrere Tage bei Schubring zu Gast blieb, könnte durchaus mit den Quartetten zu tun haben. Jedenfalls bildeten die beiden Partituren einen gewichtigen Teil des musikalischen Gepäcks, mit dem der junge Komponist Mitte September in der Kaiserstadt eintraf. Wie dann Brahms Anfang Oktober bei Julius Epstein vorsprach und –spielte, wie der perplexe Pianist daraufhin einen Extrakt des jungen musikalischen Wiens – das Hellmesberger-Quartett, den Verleger Johann Peter Gotthard(-Pazdirek), Josef Gänsbacher und andere zu sich zu auf ein Brahms-Frühstück einlud, bei dem die beiden Quartette prima vista musiziert wurden, das alles ist schon längst unveräußerlicher Besitz der musikalischen Mythologie. Natürlich war es nicht das A-Dur-Quartett, sondern das Rondo alla zingarese, das den erhitzten Josef Hellmesberger die Geige aufs Bett werfen ließ, um den verblüfften Komponisten mit den Worten „Das ist der Erbe Beethovens!“ zu umarmen; aber schon der Zufall, daß diese legendäre Matinee in eben jenem Hause (Schulerstraße 8/Domgasse 5) stattfand, das als Mozarts „Figarohaus“ musikalisch vorbelastet war, tauchte diese Episode in symbolträchtiges Licht, dessen Zauber sich vielleicht auch die Protagonisten selbst nicht ganz zu entziehen vermochten. Jedenfalls konnte Leopold Alexander Zellner schon am 12. Oktober in seinen „Blättern für Theater, Musik und Kunst“ die bevorstehende Zusammenarbeit des Hellmesberger-Quartetts mit dem Neuankömmling ebenso avisieren wie die für den 7. Dezember anberaumte Erstaufführung der Brahmsschen Serenade op. 11 in den philharmonischen Gesellschaftskonzerten. Am 16. November 1862, auf den Tag genau ein Jahr nach der Hamburger Uraufführung des Werkes, trat Brahms dann mit dem G-Moll-Quartett wirklich das erste Mal vor das Wiener Publikum. Knapp zwei Wochen später (am 29. November) bescherte er diesem Publikum mit der Präsentation des A-Dur-Quartetts das allererste Mal auch das Erlebnis einer Brahms-Uraufführung – ein Ereignis, dessen zahlreiche Wiederholungen den Mythos der „Musikstadt Wien“ über die folgenden fünfunddreißig Jahre hinweg fortschreiben sollten.

Und wie quittierten die Wiener Kritiker diese historische Begebenheit?

Was immer man der Musikkritik im allgemeinen und jener in Wien im besonderen vorgeworfen haben mag – daß sie diesen Moment unbeachtet vorübergehen habe lassen, kann man beim schlechtesten Willen nicht behaupten. Und weil es sich um einen ganz besonderen Augenblick im Leben des Komponisten wie in der Musikgeschichte seiner zukünftigen Heimatstadt handelt, mögen abschließend die (hier erstmals gesammelten) Rezensionen in chronologischer Reihe folgen, etwa so, wie sie dem erwartungsvollen Debutanten wohl vor Augen gekommen sein dürften.

Der anonyme Rezensent des „Fremdenblattes“, der in seiner Eigenschaft als Korrespondent der einflußreichen Leipziger „Signale“ eine ihm selbst offenbar durchaus bewußte Bedeutung hatte, reagierte am raschesten:

Herr Johannes Brahms, über dessen G-moll-Piano-Quartett wir uns letzthin ausgesprochen, veranstaltete vorgestern Abends ein Konzert im Musikvereinssaale, und hatte Gelegenheit, sich dem Publikum nach beiden Richtungen seiner künstlerischen Thätigkeit, nach Seite seiner Kompositionsweise und seines Klavierspiels zu zeigen. Sein Talent wurde bei Gelegenheit des oben erwähnten G-moll-Quartettes bereits anerkannt; wir können aber nicht verhehlen, daß uns das vorgestern gehörte Piano-Quartett in A-dur in keiner Weise befriedigte, und wir danken es dem Componisten, daß er die „Variationen und Fuge über ein Thema von Händel“ darauf folgen ließ, wodurch es ihm gelungen, den ungünstigen Eindruck des Quartetts wieder zu verwischen. Das Allegro (1. Satz) enthält nichts als musikalische Phrasen; zu einem eigentlichen Thema kommt es nicht. Das Adagio bringt zwar ein solches, allein es ist nicht bedeutend genug, um zu fesseln, und verläuft nach Art modern italienischer Canzonen in nichtssagenden Wendungen. Einen ursprünglich frischen herzlichen Ton schlägt der Komponist hingegen im Scherzo an, welcher Satz, sowohl was Erfindung, als was die Durchführung (diese beruht großentheils auf einer geistreichen Imitation) betrifft, wirklich hervorgehoben zu werden verdient. Auf das schöne Scherzo aber folgt zum Abschlusse ein polkaartiges Allegro, welches, wie schon gesagt, einen unangenehmen Eindruck hinterließ. Ganz anders verhält es sich mit den genannten Variationen. Hier zeigte Brahms eine Fülle von Phantasie und Erfindung. Als Klavierspieler besitzt Herr Brahms eine durchgebildete, ausgeglichene, wenn auch nicht immense Technik. Äußerer Glanz, bestechende Eigenschaften einer außerordentlichen Bravour fehlen ihm, aber sein Spiel ist durchaus der Ausdruck echter Empfindung. Er spielte den Clavierpart im A dur-Quartette, in welchem er von den Herren Hellmesberger, Dobyhal und Röver auf das Vortrefflichste unterstützt wurde. […]

Fremdenblatt, XVI. Jahrgang, Nr. 329, Wien, 1.12.1862, unpag. S. 5,

stark gekürzt in: Signale für die musikalische Welt, Zwanzigster Jahrgang, Nr. 50, Leipzig, 4.12.1862, S. 689

Zwei Tage später ließ sich Eduard Hanslick (1825-1904), der sich später gerne als Brahms-Apologet der allerersten Stunde fühlte und gerierte, ein erstes Mal zum Thema Brahms vernehmen; über unsere Uraufführung schreibt er:

Nicht so günstig wirkte das Clavierquartett in A-dur. Die Schattenseiten von Brahms´ Schaffen treten darin sprechender hervor. Fürs erste sind die Themen nicht bedeutend. Brahms liebt es bei der Wahl seiner Themen, deren contrapunktische Verwendbarkeit weit über ihren selbständigen, inneren Gehalt zu schätzen. Die Themen des Quartetts klingen trocken und nüchtern. Es werden ihnen im Verlaufe allerdings eine Fülle geistvoller Beziehungen abgewonnen; allein eine Wirkung im Großen ist ohne bedeutende Themen unmöglich. Sodann vermissen wir den großen, einheitlichen Zug der Entwicklung. Wir betrachten ein fortwährendes Anknüpfen und Abreißen, ein Vorbereiten ohne Endziel, ein Verheißen ohne Erfüllung. In jedem Satz finden wir feine Episoden-Motive, aber keines, das im Stande wäre, ein ganzes Stück zu tragen. Mit dem Quartett nur vom einmaligen Hören bekannt, vermögen wir natürlich nur den ersten Eindruck, nicht das Werk selbst zu schildern. Ohne Zweifel würde ein genaueres Studium hier wie bei Brahms überhaupt viele Vorzüge des Werkes ans Licht bringen. Für die lebendige Wirkung wäre damit kaum viel gewonnen. Diese verlangt plastisches Hervortreten der Melodien, große, nach einem Ziel treibende Steigerung und Entwicklung. Das Clavierquartett und andere neuere Sachen von Brahms mahnen uns bedenklich an Schumann´s letzte Periode, gerade wie uns Brahms´ Anfänge an Schumann´s erste Periode erinnern. Nur zu der goldklaren, reifen Mittelzeit des echten Schumann bietet uns sein Lieblingsschüler kein Seitenstück. […]

Ed[uard] H[anslick] in: Die Presse, 15. Jahrgang, Nr. 331, Wien, 3.12.1862, 2. unpag. S.

Am Vortag von Brahms´ philharmonischem Début erschienen zwei weitere Kritiken der nun schon eine Woche zurückliegenden Première. Die erste stammt aus der Feder des Cellisten, Komponisten und Journalisten Selmar Bagge (1823-1896), den wir schon als Brahmspilger in Hamm getroffen haben; Bagge lebte von 1842 bis 1863 in Wien, wo er sich, nachdem er mehrere Jahre hindurch neben seinem eigenen Lehrer Simon Sechter als Kompositionslehrer am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde gewirkt hatte, in mehreren publizistischen Anläufen als Musikkritiker etablierte:

Das Concert, welches Herr Brahms heute vor acht Tagen gab, versammelte ein nicht ganz vollzähliges aber wie es schien, den besten Musikkreisen angehöriges Publikum, und die Stimmung desselben war eine immer animirtere. Man schien allmälig sich mit der neuen Erscheinung zu befreunden und sich an ihr zu erwärmen. Das Clavierquartett in A-dur, eine durchweg verständliche, fein und interessant gearbeitete, liebenswürdige Composition fand sehr vielen Beifall, namentlich die beiden mittleren Sätze. Ob es werthvoller sei, als das kürzlich gespielte in G-moll wollen wir vorläufig nicht entscheiden, – eingänglicher, ansprechender ist es unbedingt. Der Componist scheint auf jenes in G-moll mehr Werth zu legen, da er es zu seinem ersten Debut in Wien wählte, klüger hätte er gewiß gethan umgekehrt zu verfahren. Doch charakterisirt es gerade den wirklichen Künstler sich von solchen Erwägungen nicht leiten zu lassen, oder überhaupt über die äußere Wirksamkeit nicht nachzudenken. […]

Selmar Bagge in: Deutsche Musik-Zeitung, III. Jahrgang, Nr. 49, Wien, 6.12.1862, S. 389

Das erste öffentliche Auftreten Joh. Brahms´ in Wien war, nach dem Rufe, der ihm voranging, und nach den Proben, die man bereits von seinem Talente kennen gelernt hatte, für musikalische Kreise von besonderem Interesse. In dem ersten von ihm am 29. November d. J. im Musikvereinssaale veranstalteten Konzerte hat er sich durch den Vortrag der Hauptstimme eines Quartetts für Piano, Violin, Viola und Cello (A-dur) und einer Partie Variazionen nebst Fuge über ein Händel´sches Thema für das Klavier allein, (beide Werke von eigener Komposizion) in seiner Doppel-Eigenschaft als Tonsetzer und Pianist vorgestellt.

Bei dem Anhören des berührten Quartetts tritt uns gleich im Beginne des ersten Satzes eine Tonsprache entgegen, die uns in eine aus dem Alltäglichen emporhebende Stimmung versetzt und unsere Aufmerksamkeit fesselt; wir fühlen das, was man „Geist“ nennt, über uns ergehen. Dieser Geist trägt allerdings weniger das Gepräge einer schöpferischen Begeisterung als jenes einer feinen Bildung an sich und regt mehr an, als er hinreißt; allein da ihm auch eine beachtenswerthe musikalische Gestaltungskraft zur Seite steht, so verliert er sich nicht so leicht in unzusammenfaßbar verschwommene Elemente und ringt nicht auf Kosten jedes formellen Reizes nach einem Anscheine von Bedeutung, wie es bei Neuern so häufig der Fall ist.

Wohl folgt auch Brahms im Wesentlichen der modernen Richtung, und die pathologischen Eindrücke walten daher vor, so wie er auch von geistigen Ausschweifungen nicht frei ist; allein eben so unverkennbar ist es, daß es sich an klassischen Vorbildern, namentlich an Beethoven, herangebildet hat. Wenn er auch die Fäden nicht in ein vollkommen durchsichtiges, sich mit organischer Triebkraft entfaltendes Ganze zu verweben vermag, so verliert er doch nie ganz den leitenden Grundgedanken und weiß ihn wiederholt in anziehenden Wendungen und Umgestaltungen zum Vorschein zu bringen.

Nur dann, wenn die Stimmung in der Entwicklung der Seelenzustände sich zur Leidenschaft steigert, dann ist auch für ihn die Klippe da, an der schon so Viele gescheitert sind; denn nur den Höchstbegabten ist es gegeben, auch im Sturme der Leidenschaft stets dem Gesetze des Schönen treu zu bleiben, nie dem Ohre des Hörers mißfällig zu werden.

Im Adagio, welches die meiste Theilnahme erregte, ist die Behandlung der Streichinstrumente gegenüber der Hauptstimme eine äußerst wirksame. Der eindringenden Sprache dieser Stimme, die uns gewaltsame innere Bewegungen enthüllt, geht die schöne Harmonie der Streichinstrumente wie mit flehenden Trostesklängen versöhnend zur Seite, und nur Schade ist es, daß dann, als die Stimmung sich bis zum Gewitter steigert, dieser Höhepunkt der Schilderung mehr auf äußere Effekte angelegt ist und die versöhnenden Elemente selbst grollend mit hinabsinken in das Dunkel. Dem Scherzo, in welchem das der Weise des Komponisten eigenthümliche Pathos ebenfalls durchklingt, wäre um des Gegensatzes willen ein etwas frischerer Humor zu wünschen; doch ist es schön gearbeitet und hat einen gefälligen lebendigen Schritt, so wie auch der letzte Satz durch innere Lebendigkeit und manche überraschende Züge in der Behandlung sich auszeichnet. […]

H—l in: Recensionen und Mittheilungen über Theater, Musik und bildende Kunst, Achter Jahrgang, Nr. 49, Wien, 6.12.1862, S. 781-82

Die letzten beiden Rezensionen erschienen drei Tage nach der philharmonischen Erstaufführung der Serenade op. 11, und dementsprechend fassen sie die Eindrücke aller drei Brahms-Konzerte dieser Wochen zusammen. Der wie der Brahms-„Entdecker“ Julius Epstein aus Zagreb stammende Leopold Alexander Zellner (1823-1894), der 1868 Generalsekretär der Gesellschaft der Musikfreunde werden sollte, macht aus seiner Skepsis gegenüber dem Komponisten Brahms (der eine ausgeprägte Wertschätzung des Pianisten gegenüberstand) kein Hehl:

Begonnen wurde das Concert mit einer Serenade für Orchester in sechs Sätzen [op. 11]. Auch diese Composition, so wirksame Einzelheiten sie immer aufweist (sehr schön sind der erste und zweite Satz, dann der erste Menuett), wollte gleich den bisher gehörten dieses Tonsetzers dennoch keinen lebhaften Eindruck hervorbringen. Wir glauben dem wesentlichen Grunde dieser Erscheinung auf die Spur gekommen zu sein. Brahms componirt zu voll und zu breitspurig. Seine Sachen sind zu wenig durchsichtig und zu wenig concis in der Form. Man könnte ihm vielleicht mit mehr Recht, als es einst ein Potentat gegenüber Mozart that, bemerken: zu viel Noten, Freund. […]

Jene nur theilweise Befriedigung, welche die Serenade gewährte, empfing man auch von dem zweiten Quartette (A-dur) des Hrn. Brahms, welches er im Vereine mit Hrn. Hellmesberger und Genossen in seinem eigenen Concerte zur Aufführung brachte. Die beiden ersten Sätze sind frisch und – so weit dieß bei der Art dieses Componisten: jeden nur übrigen Fleck der Partitur möglichst dicht mit Notenköpfen zu besäen, sein kann – auch durchsichtig. Reminiscenzen dagegen, zumal an Schubert, lassen sich manche vernehmen.. Die beiden letzten Sätze sind – gemacht und die Längen werden empfindlich. Im Ganzen indessen war es nicht uninteressant, dieses Werk kennen zu lernen.

[Leopold Alexander Zellner in:] Blätter für Theater, Musik und Kunst, VIII. Jahrgang, Nr. 99, Wien, 10.12.1862, S. 398

Das letzt Wort soll aber der Wiener Schumann-Apostel Karl Debrois van Bruyck (1828-1902) haben. Der aus einer flämischen Adelsfamilie stammende, in Brünn geborene und in Wien aufgewachsene van Bruyck, der einige Jahre später (1867) mit einer sehr bemerkenswerten Analyse des Wohltemperierten Klaviers an die Öffentlichkeit trat, wurde wegen seines „trockenen“, „gelehrten“ Stils ebenso oft getadelt wie belächelt; es ist aber gar nicht schwer, hinter der predigerhaften Fassade dieser Besprechung eine wirklich empfindsame Seele und ein offenes Ohr auszumachen. Von den meisten der vorangegangenen „Beurteilungen“ unterscheidet sich dieser journalistische Segensspruch jedenfalls gar nicht unvorteilhaft:

Herr Johannes Brahms hat nun zu drei verschiedenen Malen Gelegenheit gehabt, sein Verhältnis zu dem Publikum Wiens zu prüfen und eine Erfahrung zu sammeln, welche für den Künstler immer einen gewissen Werth hat. Zwar darf für diesen weder Beifall noch Mißfall, weder Enthusiasmus noch Gleichgiltigkeit jemals absolute Bedeutung haben, aber es wird stets für ihn von einem gewissen Interesse sein, sich über sein Verhältniß zur Welt zu orientiren. Daß das Quartett [op. 25], mit welchem Herr Brahms sich zuerst in einer Hellmesberger´schen Soirée einführte, im Ganzen nur mäßigen Anklang fand, hat uns nicht sehr überrascht, dagegen sind wir verwundert, daß dasselbe Schicksal einem Orchesterwerk zu Theil ward, einer Art Suite (der Komponist nennt es Serenade [op. 11]), welche in dem zweiten Gesellschaftskonzert zur Aufführung kam und als eine durchaus schöne, interessante, geistvolle Arbeit wohl eine wärmere Aufnahme verdient hätte. Einigermaßen für solche Lauheit entschädigt wurde der junge Künstler in einem Konzert, welches er selbst veranstaltete. Zwar vermochte sich ein Pianoforte-Quartett [op. 26], welches er in diesem produzirte, auch nur getheilte Gunst zu erobern, dagegen errang er sich mit einer Serie von ihm über ein Händel´sches Thema komponirter Variationen [op. 24] einstimmigen, lebhaften Beifall; und mochte auch an diesem Beifall das eminente, brillante Spiel des Komponisten einigen Antheil haben (welches zu entfalten ihm sein Werk reichen Anlaß bot), so glauben wir doch die bessere Hälfte desselben auf Rechnung der Komposition selbst setzen zu dürfen. […]

Brahms ist unzweifelhaft – wir haben es vor Jahren schon ausgesprochen – eine genialische, d.h. aus sich selbst schöpfende Natur, eine wirklich künstlerische Individualität, und das will schon etwas heißen. Er besitzt Phantasie, Geist und Gemüth, für den Ausdruck des Pathetischen wie Humoristischen stehen ihm gleich treffende Töne zu Gebote, und seine neuesten Produktionen zeigen uns, zu einem wie hohen Grad von Feinheit er insbesondere auch sein formelles Talent auszubilden gelernt hat.Wir haben also für seine weitere Entwicklung keinen anderen Wunsch, als daß er nicht auf die Ausbildung gerade des letzteren die höchste Energie seines geistigen Vermögens wenden, sondern daß es ihm Gelingen möge, dieses mit einem immer höheren substanziellen Gehalt zu erfüllen und sich, möglichst fern vom Element des Phantastischen und Nebulosen, mit seinem Denken und Empfinden in die Region des rein Menschlichen zu versenken, da, was er sich so innerlich erarbeitet, uns gewiß auch voll und warm aus seinen Tönen entgegenklingen wird. Dem Adel seiner Natur könnte ein solcher Flug bei ausdauernder Kraft und Selbstverleugnung und einiger Gunst der Verhältnisse wohl gelingen. […]

[Karl Debrois] v[an] Br[uyck] in: Wiener Zeitung – Abendblatt, Nr. 283, Wien, 10.12.1862, p. 1130

Wenn man bei der Lektüre dieser gesammelten kritischen Ergüsse als Nachgeborener ein, je nach Temperament, belustigtes oder verärgertes Kopfschütteln kaum unterdrücken kann, so wird man doch auch neidlos anerkennen müssen, daß das Echo zumindest seinem Ausmaße nach in einem recht ausgewogenen Verhältnis zu seinem Anlaß stand; und von welcher medialen Äußerung der Gegenwart ließe sich das noch behaupten?

© Claus-Christian Schuster

Brahms – Quartett op. 25

Johannes Brahms
* Hamburg, 7. Mai 1833
† Wien, 3. April 1897

Quartett für Pianoforte, Violine, Viola und Violoncello Nr . 1, g-moll, op. 25

komponiert: Düsseldorf, 1855 (?), Detmold, 1859 (?), Hamm bei Hamburg, Juli – September 1861

Uraufführung: Hamburg, Kleiner Wörmerscher Konzertsaal, 16. November 1861
Clara Schumann (geb. Wieck, 1819-1896), Klavier
John Böie (1822-1900), Violine
Friedrich Breyther (1804-1864), Viola
Louis Lee (1819-1896), Violoncello

Widmung: Baron Reinhard von Dalwigk (1802-1880)

Erstausgabe: Simrock, Bonn, September 1863

Das erste Kammermusikwerk, mit dem der zehnjährige Brahms 1843 im Hamburger Lokal „Zum alten Raben“ vor die Öffentlichkeit trat, war wahrscheinlich Mozarts G-moll-Klavierquartett KV 478 von 1785, das mit Recht als das erste große Werk dieses ein wenig stiefmütterlich behandelten Genres gilt. Das von Florence May (1845-1923), der Schülerin und Biographin des Meisters, überlieferte Programm jenes öffentlichen Débuts läßt zwar immerhin die Möglichkeit offen, daß es sich auch um das Schwesterwerk (KV 493, Es-Dur) gehandelt haben könnte, aber da wir KV 478 auch noch später in Brahms´ Repertoire finden, in dem KV 493 ansonsten gar nicht aufscheint, darf unsere Mutmaßung als recht gut begründet gelten. Doch auch abseits dieser praktischen Argumentation böte das erste der drei Brahmsschen Klavierquartette einige Indizien, die jenes berühmte Mozartwerk zu einem plausiblen Ausgangspunkt seiner Erkundungen auf diesem Gebiet machen. Neben und über allen auf der Hand liegenden und tiefgreifenden Unterschieden zwischen dem Brahmsschen Opus 25 und Mozarts KV 478 ist es freilich die gemeinsame Grundtonart g-moll, die einen in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzenden Berührungspunkt zwischen den beiden Werken darstellt. Denn obwohl Brahms selbst der Frage der Tonartenwahl wie der damit verbundenen Diskussion der Tonartencharakteristik scheinbar gleichgültig (wenn nicht gar spöttisch) gegenüberstand, so bietet sein Schaffen doch immer wieder aussagekräftige Beispiele für historische Fernbezüge, in denen gerade dieser Aspekt eine große Rolle spielt – man denke etwa nur an seine (nach ungezählten verworfenen) erste erhaltene Sonate für Klavier und Violine (G-Dur, op. 78), die in ihrer ganzen tonalen Dramaturgie sehr deutlich an Beethovens letztes Werk in diesem Genre (op. 96) anknüpft.

Ist mit Mozart einer der wesentlichen Bezugspunkte des Opus 25 benannt, so lassen sich die beiden anderen, nämlich Haydn und Schumann, unschwer ausmachen: Die „Schöpfungs“-Anklänge im dritten Satz des Werkes hat schon Kalbeck ausfindig gemacht, und sie führen uns geradewegs in jene Zeit, die Brahms während Schumanns Todeskrankheit als Stütze des verwaisten Hauses in Düsseldorf verbrachte; am 27. Mai 1855 eröffnete Ferdinand Hiller das 33. Niederrheinische Musikfest mit seiner eigenen Frühlings-Symphonie und einer denkwürdigen Aufführung von Haydns „Schöpfung“, in der Jenny Lind das Festpublikum bezauberte. Die grandiosen Wirkungen, die Haydn oft mit einfachsten Mitteln erzielt, beeindruckten Brahms tief, und sicher nicht zufällig lesen wir in der Folge recht oft davon, daß Brahms sich mit dem Studium der Haydnschen Kammermusik vergnügt.

Zu den anderen Beschäftigungen dieser Zeit zählte aber auch die Anfertigung einer vierhändigen Version von Schumanns 1842 komponiertem Klavierquartett Es-Dur op. 47, die freilich erst 1887 im Druck erscheinen sollte, uns aber jedenfalls bestätigt, daß Brahms sich schon 1855 intensiv mit dem Genre auseinandersetzte.

Obwohl die dokumentarischen Belege nicht eindeutig sind, gibt es also guten Grund dafür, Joseph Joachims Behauptung, daß nämlich die Keime aller drei Brahmsschen Klavierquartette in eben dieses Jahr 1855 zurückreichen, Glauben zu schenken. Es ist – nach dem Zeugnis Joachims und Carl Bargheers – auch durchaus glaubwürdig, daß das Quartett, das Brahms im Sommer 1859 in Hamburg mit dem Cellisten Christian Reimers (1827-1889) bei der Schumann-Freundin Sophie Petersen (geb. Petit) ausprobierte und dann im November des selben Jahres in Detmold mit Joachim und Bargheer noch einmal vornahm, eine frühe Fassung unseres G-moll-Quartetts war.

Während das (vielleicht als erstes und zunächst noch in cis-moll konzipierte) Quartett op. 60 noch volle zwei Jahrzehnte warten mußte, bis es 1875 in seiner gründlich veränderten C-moll-Gestalt das Licht der Öffentlichkeit erblicken durfte, machte sich Brahms schon 1861 an die Endredaktion der beiden Schwesterwerke, die unter den Opusnummern 25 und 26 im Sommer 1863 erscheinen konnten. Wenn man die eigenhändigen Datierungen des Komponisten in seinem Werkverzeichnis zu Grunde legt, kehrt dabei die numerische Reihenfolge die Enstehungschronologie um, wie wir das ja auch etwa bei den Klavierkonzerten Beethovens und Chopins beobachten können, was sich aber in diesem Fall (und auch das ist typisch für Brahms´ Arbeitsweise) auch auf das Erscheinungsdatum auswirkt: Das schon seit Juli 1861 auf dem Schreibtisch des Komponisten liegende Opus 26 wurde im Juni 1863 gedruckt, das erst im Herbst 1861 wieder vorgenommene Opus 25 kam erst im Spätsommer 1863 auf den Markt. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Zwillingswerke freilich schon ihre Uraufführungen erlebt, und zwar doch in der von den Opusnummern suggerierten Ordnung: Unser Opus 25 am 16. November 1861 in Hamburg als die vorletzte der wichtigen Hamburger Brahms-Premieren (am 7. Dezember 1861 hob Clara Schumann dann dort noch die Händel-Variationen op. 24 aus der Taufe), das A-Dur-Quartett ein Jahr später (am 29. November 1862 im alten Musikverein auf den Tuchlauben) als erste Wiener Uraufführung eines Brahms-Werkes.

Wie präzise Brahms´ eigene Datierungen sind, läßt sich allerdings schwer überprüfen: Als Antwort auf einen besonders betrübten Brief Clara Schumanns (Kreuznach, 15. Juli 1861) schickt er ihr postwendend die ersten beiden Sätze des G-moll-Quartetts und das Scherzo des A-Dur-Quartetts, was eher darauf schließen ließe, daß die Ausarbeitung der beiden Werke nicht nacheinander, sondern doch parallel erfolgte.

Daß Brahms zunächst nur ein Paar seiner drei Klavierquartett-Kinder zur Welt brachte, folgt einer inneren Gesetzmäßigkeit, der wir schon in den Jahren davor im Diptychon der beiden Detmolder Orchesterserenaden (op. 11 für großes und op. 16 für kleines Orchester, 1857-1859) und dem wohl noch weiter zurückreichenden Variationenpaar op. 21 begegnet sind – und auch in der Folge wird er sich immer wieder einer ganz konkreten Aufgabe gleichzeitig von zwei verschiedenen Seiten nähern (so etwa in den Streichquartetten op. 51, den Klavier-Rhapsodien op. 79, den Orchester-Ouverturen op. 80/81 und den Klarinettensonaten op. 120).

Zwar zeigt der Komponist sich im (nach dem Klaviertrio op. 8 und dem Streichsextett op. 18) erst dritten seiner zur Veröffentlichung freigegebenen instrumentalen Kammermusikwerke womöglich noch selbstkritischer und ökonomischer als bisher – so mußte sich etwa das Andante noch in der allerletzten Überarbeitungsphase einen empfindlichen Strich (19 Takte zwischen Takt 206 und 207) gefallen lassen –, aber das Resultat ist von Kargheit und Lakonik denkbar weit entfernt. Ganz im Gegenteil: Wollte man einen Grundzug benennen, der das ganze Werk auszeichnet – es ist, wie die Aufführungsstatistiken überdeutlich belegen, bei weitem das populärste der drei –, so wäre das wohl gerade die verschwenderische Fülle seiner Ideen, die sich sowohl im Reichtum der thematischen Einfälle als auch in der Großzügigkeit und Weite der formalen Gestalt manifestiert.

Schon der erste Satz (Allegro, g-moll, C) bietet ein Paradebeispiel für diese Qualität: Jeder der konstituierenden Formteile ist mehrgliedrig ausgearbeitet, wobei sowohl dialektische Verknüpfungsmodelle (wie sie auch für das Mozartsche G-moll-Quartett typisch sind) als auch evolutiv-variierende eingesetzt werden. Besonders eindrucksvoll tritt diese Strategie im Seitensatz zutage: Ein erstes Seitensatzglied tritt in der spannungsgeladenen Molldominante (d-moll, T. 50) auf und bietet dem Hörer schon alles, was er von einem veritablen Seitenthema erwarten darf – thematische Prägnanz und Rundung, Kontrast zum Hauptthema in Gestalt, Textur und Metrik –, mündet aber schließlich (T. 79) in ein alternatives Thema auf der (eigentlich erwarteten) Durdominante (D-Dur), das seinem Vorgänger geschwisterlich eng verwandt, aber in ein viel helleres Licht getaucht ist. Dieser Seitenthemen-Doppelgänger landet mit der für Brahms auch später so typischen metrischen Verschränkung (T. 101) im Jubel eines dritten Themas, das zwar wie eine erste Schlußgruppe wirken mag, in Wahrheit aber ein letzter Formteil des Seitensatzes ist, mit dessen beiden vorhergehenden Abschnitten es auf mehreren Ebenen verknüpft ist. Erst hieran schließt Brahms eine ausgedehnte Coda (TT. 130-160), die auf das erste Hauptthema zurückgreift und diese überreiche Exposition – eine der entwickeltsten und reichhaltigsten im Œuvre des Meisters – abrundet.

Man mag in dieser Freigiebigkeit auch Elemente jugendlichen Überschwangs, ja sogar einer gewissen Verschwendungssucht sehen (wie das etliche der Kommentatoren in der Vergangenheit auch getan haben); nachdenklich stimmt freilich, daß Brahms sogar in dieser Exposition nicht nur niemals den narrativen Faden verliert, sondern offenbar auch – ob bewußt oder instinktiv, bleibe dahingestellt – immer den konstruktiven Überblick bewahrt. Wie sonst ließe sich erklären, daß von den 160 Takten dieser Exposition nicht mehr und nicht weniger als genau 80 (nämlich der Hauptsatz selbst und die Coda) vom Hauptthema und seinen Ableitungen regiert werden und eben so viele der Trias der „Seitenthemen“ gehören?

Aus der Überfülle des Bemerkenswerten und Eigenartigen, das die Physiognomie dieses Kopfsatzes prägt, seien nur noch zwei Détails hervorgehoben: Unisono-Themenköpfe sind ein Archetyp der musikalischen Formenwelt, aber sie sind fast ausnahmslos nicht nur diastematisch (vulgo „melodisch“), sondern eben auch rhythmisch „konturiert“, d. h.: sie werden auch durch eine charakteristische „rhythmische Signatur“, eine einprägsame Folge unterschiedlicher Notenwerte hervorgehoben. Mozarts G-moll-Quartett (das mit dem Intervallpaar fallende Quart/kleine Sekund eine generische Verwandtschaft mit dem das Brahmssche Incipit ab dem zweiten Takt beherrschenden Gestus aufweist) bietet ein Musterbeispiel für einen solchen „prägnanten“ Unisono-Beginn. Brahms erlaubt es sich, in der Eröffnung dieses Satzes auf dieses probate Kunstmittel völlig zu verzichten: Die ersten drei Takte seines Unisono-Incipits beschränken sich auf eine durchgehende Viertelbewegung, die erst im vierten Takt – und das auch nur durch eine motivische Verkürzung – von einer halben Note unterbrochen wird. Nicht genug damit, kommt auch der diesem Vordersatz folgende ausharmonisierte Nachsatz (T. 5-10) mit der ebenmäßigen und ununterbrochenen Fortsetzung dieser Viertelbewegung aus. Es dürfte nicht leicht sein, in Musikstücken, die nicht motorisch, sondern, wie das vorliegende, rhetorisch-expressiv geprägt sind, eine ähnlich radikale rhythmische Askese zu finden.

Die zweite (und wohl noch bemerkenswertere) Besonderheit betrifft den Umgang des Komponisten mit jenem Formteil (T. 101 ff.), den wir als den abschließenden dritten Teil des Seitensatzes aufgefaßt haben: Was uns Brahms in der Exposition als lebensmutigen, klangstrotzenden D-Dur-Siegesgesang vorgestellt hat, treffen wir in der Reprise (T. 304 ff., tranquillo) als schattenhaftes Nebelgebilde, als fragiles und fadenscheiniges G-moll-Gespinst wieder. (Vielleicht haben Pfitzner, Šostakovič und andere nachgeborenen Komponisten den erstaunlichen Mut zur kaltblütigen Ermordung ihrer eigenen Themen – wir erinnern uns an das Finale von Pfitzners Klaviertrio op. 8 oder den Kopfsatz von Šostakovičs Cellosonate op. 40 – aus Beispielen wie diesem bezogen.)

Angesichts solcher und vieler anderer Extravaganzen, deren Erörterung uns hier zu weit führen würde, ist es nicht verwunderlich, daß Brahms´ Zeitgenossen ihre liebe Mühe mit diesem Satz hatten. So schreibt etwa Joseph Joachim dem Komponisten unumwunden:

„Am wenigsten lieb bleibt mir der erste Satz des G moll-Quartetts. Er scheint mir in der Erfindung unverhältnismäßig weit den kommenden Sätzen nachzustehen, und manche Unregelmäßigkeit in dem rhythmischen Bau kommt mir nicht durch Charakteristik geboten vor, die sie allein rechtfertigen könnte.“

(Hannover, 15. Oktober 1861)

Jedenfalls ist es eben die „Unregelmäßigkeit“, sprich: Individualität der Brahmsschen Lösungen, die den Komponisten hier dazu bewegt, ein erstes Mal auf die traditionelle Wiederholung der Exposition zu verzichten – denn wie unwiederholbar die musikalischen Ereignisse geworden sind, haben wir ja schon am Schicksal des Seitensatzes erlebt.

Obwohl dieser Eröffnungssatz sicher zu den gewichtigsten und eigenwilligsten im Œuvre des Meisters gehört, ist es doch der zweite Satz (Intermezzo. Allegro ma non troppo, c-moll – Animato, As-Dur, 9/8), der am weitesten in jenes Terrain vordringt, das später die eigentlichste Domaine des Komponisten werden sollte. Clara schwärmt denn auch schon nach der allerersten Begegnung mit der Partitur, in welcher der Satz damals noch „Scherzo“ hieß:

„Vom Scherzo in C moll, meine ich, müßtest Du schon beim Aufschreiben, wenn Du an mich gedacht, mein Entzücken gewußt haben. Scherzo würde ich es nun freilich nicht nennen, kann es mir überhaupt nur Allegretto denken, aber das ist ein Stück so recht eigens für mich. […] … das Stück möchte ich mir immer und immer wieder spielen können! Und wie schön muß das klingen, immer die Orgelpunkte! Du lächelst gewiß über mich und meinst vielleicht, ich kenne nicht den höheren musikalischen Wert des ersten Satzes, gewiß weiß ich ihn, aber in dem C-moll-Stück, da kann ich so schön sanft träumen, mir ist, als ob die Seele sich wiegte auf Tönen.“

(Kreuznach, 29. Juli 1861)

Der langsame Satz (Andante con moto, Es-Dur, 3/4), in dem uns jener schon im ersten Satz vorkommende „altmodische“ Doppelschlag wiederbegegnet, den die gestrengen Kritiker auch im Streichsextett op. 18, wo er fast allgegenwärtig zu sein scheint, nur mit angestrengtem Stirnrunzeln aufnehmen und gar nicht gelten lassen wollen, zieht ganz unbeeindruckt von aller beckmesserischen Spiegelfechterei seine majestätische Bahn, die vom choralhaften Es-Dur des Beginns zum Festglanz des C-Dur-Mittelteils mit seinen Händel- und Haydn-Zitaten und wieder zurück führt. Dem feingewebten, durchsichtigen Klang des Intermezzos antwortet hier ein reicher, volltönender Wohllaut.

Das wohl in erster Linie für die Popularität des Quartetts verantwortliche Finale (Rondo alla zingarese, Presto, g-moll, 2/4) schöpft gleichermaßen aus den „magyarischen“ Erfahrungen des jungen Brahms in den abenteuerlichen Reisetagen mit Ede Reményi (recte Eduard Hoffmann, 1828-1898) und den folkloristischen Anregungen, die Brahms von seinem Lieblingsfreund „Jussuf“ Joachim empfing: Joachim hatte zu Beginn des Jahres 1861 sein Brahms gewidmetes „Concert in ungarischer Weise“ (d-moll, op. 11) uraufgeführt, das mit einem zündenden „Rondo alla zingara“ schließt – Brahms wird sich dafür siebzehn Jahre später mit seinem Opus 77 revanchieren.

Was immer Joachim schon im November 1859 in Detmold zu Gesicht bekommen haben mag: Das Werk, dessen Manuskript Brahms ihm Ende September 1861 aus Hamburg nach Hannover schickt, muß ihm in weiten Teilen ganz neu gewesen sein. Sein ausführlicher Dankesbrief, in dem sich nur – wie schon erwähnt – der erste Satz herbe Kritik gefallen lassen muß, gibt uns freilich Rätsel auf: Sollte mit dem hier erwähnten „Menuetto“ etwa wirklich das Andante gemeint sein? Brahms´ Eindringen auf ungarisches Hoheitsgebiet bringt Joachim jedenfalls so sehr aus der Fassung, daß er sich zu höchst bedenklichen (aber wohl nicht gut bedachten) Sätzen hinreißen läßt:

„Wie freue ich mich, Scherzo, Menuetto und Finale zu hören! In letzterem hast Du mir auf meinem eignen Territorium eine ganz tüchtige Schlappe versetzt, und ich wollte, meine (etwas arrogant auftretenden) Landsleute würden nächstens von den Deutschen so zwingend von der Letzteren geistigen Überlegenheit überzeugt! Sie fügten sich dann freundschaftlich in das Unvermeidliche, und freuten sich, daß man ihre Muttersprache anerkennt.“

(Hannover, 15. Oktober 1861)

Weit jenseits der entbehrlichen Debatte über diverse „Überlegenheiten“, die immer sehr unüberlegt vom Zaun gebrochen wird, hat dieses Finale einen unwiderstehlichen Schwung, dem man sich auch nach anderthalb Jahrhunderten der „Ausschlachtung“ nur schwer zu entziehen vermag. Dem Sog der feurigen Dreitakter konnte auch das Hellmesberger-Quartett nicht standhalten, das Julius Epstein schon kurz nach Brahms´ Ankunft in Wien in seine kleine Wohnung im Figaro-Haus (Schulerstraße 8 / Domgasse 5) einlud, um den tonangebenden Protagonisten der Wiener Kammermusik den jungen Komponisten vorzustellen: „Das ist der Erbe Beethovens!“ soll Primarius Joseph Hellmesberger am Ende ausgerufen haben. Ob Brahms, der schon an der Hypothek der Schumannschen Prophezeiungen („Neue Bahnen“) schwer genug zu tragen hatte, sich darüber freuen mochte, ist freilich sehr fraglich.

Jedenfalls zögerte Hellmesberger keinen Augenblick lang, seine Neuentdeckung mit dem Wiener Publikum zu teilen: Und so konnte Brahms am 16. November 1862, dem Jahrestag der Hamburger Uraufführung, sich mit seinem Opus 25 im Konzert des Hellmesberger-Quartetts den Wienern das allererste Mal als Komponist vorstellen. Vor allem das Zingarese-Finale, in dem Brahms seine Mitstreiter (Joseph Hellmesberger, Franz Dobyhal und Heinrich Roever) in eine wahre Ekstase mitriß (und der Violoncellosteg effektvoll zu Bruch ging) beeindruckte die Hörer tief.

Wie bei solchen Gelegenheiten bis heute üblich, erkalteten die Kritiker im selben Ausmaß, wie sich das Publikum erwärmte. Leopold Alexander Zellner (1823-1894), aus Zagreb stammender Musiker, Komponist und Musikjournalist (und später langjähriger Generalsekretär der Gesellschaft der Musikfreunde) resümierte in seinen „Blättern für Musik“ lakonisch:

„Öde, Sturm, Graus, Frost, Vernichtung, Trostlosigkeit sind die Vorstellungen, welche diese von keinem lichten oder milden Strahl auch nur auf Augenblicke erleuchteten und durchwärmten Nachtbilder hervorrufen.“

Joseph Hellmesberger selbst, der sich, je mehr Brahms´ Ruhm wuchs, immer skeptischer verhielt, hat später – mit reuigem Rückblick auf seinen inzwischen legendär gewordenen Beethoven-Ausruf – beteuert, einfach „bei Epstein zu viel kroatischen Wein getrunken zu haben“. Uns aber kann es nur recht sein, wenn sich in Wesen und Wirkung des ganzen Werkes hanseatisches Erbe, die scharfen Gewürze der Roma und Sinti und der schwere Wein der Magyaren und Kroaten gar nicht mehr voneinander scheiden lassen, und uns nur das Staunen über ein urwüchsiges Werk bleibt, in dem Tiefe und Temperament einander auf staunenswerte Weise die Waage halten.

© Claus-Christian Schuster

Brahms – Trio op. 8

Johannes Brahms
* Hamburg, 7. Mai 1833
† Wien, 3. April 1897

Trio Nr. 1, H-Dur, op. 8 (Fassung 1889)

Umarbeitung: Bad Ischl, Mai – August 1889, Wien, September – Dezember 1889

Uraufführung : Budapest, 10. Jänner 1890
Johannes Brahms, Klavier
Jenö Hubay (1858-1937), Violine
David Popper (1843-1913), Violoncello

Erstausgabe: Simrock, Berlin, Februar 1891

„Kunstwerke lernt man nicht kennen, wenn sie fertig sind; man muß sie im Entstehen aufhaschen,  um sie einigermaßen zu begreifen.“ Wie gerne würde man den Rat Goethes befolgen, doch wie selten bietet sich dem nichtschöpferischen Menschen dazu eine Gelegenheit! Was Brahms betrifft, gibt es jedenfalls keinen Punkt, wo wir der Erfüllung dieses Wunsches näher wären als bei seinem Klaviertrio op. 8. Es ist zwar nicht die eigentliche Geburt des Kunstwerkes, der wir hier beiwohnen können, sondern nur eine Metamorphose, aber die ist so umfassend und tiefgreifend, daß sie uns die faszinierendsten Einblicke in die Werkstatt des Komponisten bietet, die er uns je gestattet hat. Zwar ist es vorlaut, hier von „gestatten“ zu sprechen, denn daß Brahms uns diese Einblicke nur wider Willen gewährt, steht außer Frage. Wäre die Erstfassung dieses Werkes nicht seit November 1854 gedruckt vorgelegen, so wäre sie wohl dem unerbittlichen Meister zum Opfer gefallen und in eben jenem Ischler Sommer, der uns die „Neufassung“ bescherte, genauso der Traun überantwortet worden, wie viel „zerrissenes Notenpapier“ vor und nach ihr. So aber können wir in aller Ruhe die beiden Fassungen dieses Werkes vergleichen, die recht eigentlich zwei unabhängige, nur dem selben Keim entsprungene Werke darstellen. Wer sich die Zeit nimmt, diesen Vergleich anzustellen, dem wird sich ein ganzer Kosmos rätselhafter und wunderbarer Verwandlungen eröffnen.

Es ist hier selbstverständlich nicht der Platz, auf die Beziehungen zwischen den beiden Werken näher einzugehen. Ein kurzer Überblick über die Art der Umformung und Neuschöpfung mag genügen. Hier ist an erster Stelle die Eliminierung der beiden beziehungsreichen Liedzitate aus dem dritten und vierten Satz der Urfassung zu nennen: Schuberts „Das Meer erglänzte weit hinaus“ (Am Meer (Heine) / „Schwanengesang“, D 957 Nr. 12) und Beethovens „Nimm sie hin denn, diese Lieder“ (An die ferne Geliebte (Jeitteles), op. 98 Nr. 6) waren in der ursprünglichen Komposition Kristallisationskerne von Momenten besonderer lyrischer Dichte. Die Tilgung dieser beiden Bezugspunkte hatte einschneidende Folgen für Dramaturgie und Aussage dieser beiden Sätze. Als womöglich noch radikaler erwiesen sich die Eingriffe bei der Neukomposition des Kopfsatzes. Hier behielt Brahms überhaupt nur den Hauptsatz bei, während Seitensatz und Durchführung zur Gänze ersetzt wurden. Die neukomponierten Teile traten hier an die Stelle von Passagen, die Klangwelt und Gestik der Musik von Janáček, Mahler und Pfitzner vorweggenommen hatten. Weitere Umformungen zielen auf Verknappung und Formteilverschmelzung. Alles in allem erscheint der Text in seinen äußeren Dimensionen um etwa zwei Fünftel gekürzt,  wobei aber vom ursprünglichen Material der Ecksätze nur etwa ein Achtel, von dem des Adagios nur rund ein Drittel übernommen wurde. Lediglich das Scherzo beider Fassungen kann als inhaltlich ident bezeichnet werden, obwohl auch hier zahlreiche instrumentatorische Änderungen vorgenommen wurden (die man – ganz in Brahms´ Sinne durchaus „Verböserungen“ nennen darf), und der Satz auch eine völlig neue Coda erhielt. Die neukomponierten Teile weisen durchwegs eine kräftigere und dichtere Textur als die ausgeschiedenen auf, so daß die Neukomposition ganz allgemein gedrängter und „solider“ auftritt als die Erstfassung. Die Aussage beider Werke ist nicht nur verschieden, sie erscheint in manchen und nicht eben den unwesentlichsten Punkten geradezu als einander diametral entgegengesetzt. Instrumentation und Tektonik der zweiten Komposition bezeichnen einen der Höhepunkte der Brahmsschen Meisterschaft. Die Bändigung der Zentrifugalkräfte des Materials, die bei der ersten Komposition wohl gar nicht versucht worden war, kann als in höchster Vollendung geglückt bezeichnet werden. Daß diesem Sieg einige der anrührendsten Momente der Brahmsschen Musik geopfert werden mußten, zeigt ein Grunddilemma des menschlichen Schaffens schlechthin auf.

Brahms, den man vielleicht den kritischsten Komponisten der bisherigen Musikgeschichte nennen könnte, hat dieses Dilemma  ganz bewußt erlebt und durchlitten. Ich glaube daher, daß die Äußerungen des Komponisten selbst uns dichter an den Kern der Fragen heranführen, die diese einzigartigen Schwesterwerke aufwerfen, als alle wertenden und beschreibenden Vergleiche. Beim Lesen dieser Zeugnisse wird man hinter der Selbstironie und dem Sarkasmus des Autors immer wieder auch jenen nicht lähmenden, sondern läuternden Selbstzweifel  anklingen hören, der das Adelsprädikat des wahren Genies ist.

Schon wenige Tage, nachdem Breitkopf & Härtel die Erstfassung des Werkes zur Herausgabe angenommen hat, schreibt Brahms, von Gewissensbissen geplagt, aus Düsseldorf an Joseph Joachim (19. Juni 1854):

„…Das Trio hätte ich auch gern noch behalten, da ich jedenfalls später darin geändert hätte…“

Doch das Werk ist eben schon unwiderruflich „vom Stapel“ und kommt im November 1854 in seiner unverändert frischen und urwüchsigen Gestalt in den Handel. Am 22. November 1854 stellt Brahms selbst das Werk in einem Hauskonzert bei Joseph Joachim in Hannover vor. Clara notiert:

„Später spielte Johannes noch sein Trio, dem ich nichts wünschte als einen anderen ersten Satz, denn ich kann mich mit diesem nicht befreunden.“

Louis Köhler (1820-1886) meldet aus Königsberg in seiner im März 1855 in den „Signalen für die musikalische Welt“ erschienenen Rezension etwas mildere Bedenken ähnlicher Art an:

„ …Der erste Satz ist überhaupt reich von schöner Wirkung; doch störte uns die Fughette etwas. Vielleicht erfreut sie andere um so mehr…“

Die ersten öffentlichen Aufführungen des Trios finden kurz hintereinander in Danzig (13. Oktober 1855), New York (27. November 1855) und Breslau (18. Dezember 1855) statt. Einige Wochen später kann man in Kiel die Novität mit Brahms selbst, Carl Georg Peter Grädener und John Böie hören (20. Jänner 1856). Doch als kurz darauf, im März 1856, Joachim Brahms vorschlägt, das Werk mit ihm in einer Kammermusiksoiree in Hannover zu spielen, zeigt der junge Meister wenig Lust. Ist Brahms´ Absage (die er schlicht damit begründet, in Düsseldorf sei gerade „der schönste Frühling“) schon ein Anzeichen wachsender Distanz gegenüber seinem Kammermusikerstling? Jedenfalls ist uns aus den folgenden Jahren keine einzige Aufführung des H-Dur-Trios durch Brahms bekannt geworden.

1869 kehrt der Pianist Anton Door (1833-1916) aus Moskau in seine Heimatstadt Wien zurück. Door hat sich in Rußland, wo er zum engeren Freundeskreis von Nikolaj Rubinštejn und Čajkovskij gehört hat, einen Namen als hervorragender Kammermusiker gemacht. Ihm bleibt es vorbehalten, dem ersten (und bis dahin einzigen) Brahmsschen Klaviertrio zu seiner Wiener Erstaufführung zu verhelfen – man schreibt inzwischen das Jahr 1871, und seit der Komposition des Werkes sind nicht weniger als siebzehn Jahre vergangen. Doch auf ausdrücklichen Wunsch des Komponisten bekommen die Wiener nicht die gedruckte Fassung, sondern eine um eben jene von Clara Schumann und Louis Köhler beanstandeten Durchführungsteile des ersten Satzes gekürzte Version zu hören.

Wieder vergehen siebzehn Jahre, da bietet sich Brahms schließlich ein Anlaß zur Neukomposition des Werkes – denn nicht anders kann man die Umarbeitung nennen. 1888 hat Fritz Simrock dem Verlag Breitkopf & Härtel alle dort erschienenen Brahms-Werke abgekauft und will sie nun neu herausgeben. Diese Gelegenheit zu einer gründlichen Ausmerzung aller erkannten Schwächen seines Jugendwerkes will  der Meister sich nicht entgehen lassen. Er durchforstet das Werk mit unbestechlichem Auge und findet „viel Häßliches“ und „viele unnütze Schwierigkeiten drin“. Daß er zunächst wohl wirklich nur an eine Korrektur und nicht an eine so tiefgreifende Neukomposition denkt, erscheint aufgrund der Bleistifteintragungen im Handexemplar der Erstausgabe wahrscheinlich. Doch während seines Ischler Sommeraufenthaltes 1889 arbeitet er sich immer tiefer in das Werk hinein, und kurz vor seiner Abreise nach Wien kann er Clara Schumann nach Baden-Baden berichten:

„…Mit welcher Kinderei ich schöne Sommertage verbrachte, rätst Du nicht. Ich habe mein H-Dur-Trio noch einmal geschrieben und kann es Op. 108 statt Op. 8 nennen. So wüst wird es nicht mehr sein wie früher – ob aber besser?

Wenn sich´s träfe, daß dort kleine Joachims und Hausmanns tummelten, könnten wir’s immer einmal versuchen…“

(3. September 1889)

Schon zwei Tage zuvor hat er bei seinem Verleger Fritz Simrock angefragt:

„Auch muß ich z.B. jetzt doch Sie fragen wegen des Trios op. 8, ob Sie davon eine neue Ausgabe machen und einige neue Platten daran wenden mögen. Es wird kürzer, hoffentlich besser und jedenfalls teurer – in welcher frohen Aussicht bestens grüßt Ihr
J.B.“

Doch Brahms hat es beileibe nicht eilig mit der Drucklegung seiner Neukomposition. Nach Wien zurückgekehrt feilt er weiter an dem Werk, bis er es schließlich am 10. Jänner 1890 in Budapest der Öffentlichkeit präsentiert.

 

Am 22. Februar 1890 kann auch das Wiener Publikum das neue Werk kennenlernen: Brahms stellte es in einer Soirée des Rosé-Quartetts im Bösendorfer-Saal mit Arnold Rosé, Violine, und Reinhard Hummer, Violoncello, vor. Am nächsten Tag schreibt er an Clara:

 

„…Ich hatte das Stück schon zu den Toten geworfen und wollte es nicht spielen. Daß es mir selbst nicht genügen und gefallen wollte heißt wenig, aber wenn darauf die Rede kam, war niemand neugierig darauf, und jeder, auch Joachim, Wüllner z.B., fing dann davon an, wie er erst neulich mit so vielem Vergnügen das alte Stück gespielt habe, und fand es schwärmerisch, romantisch und was alles.

Nun ist mir lieb, daß ich´s doch gespielt habe, es war ein sehr vergnügter Tag.“

Und Brahms hat offensichtlich Lust bekommen, sich noch mehrere solche vergnügte Tage zu verschaffen, denn am selben Tag schreibt er an seinen Freund Franz Wüllner, den städtischen Kapellmeister und Konservatoriumsdirektor in Köln:

„…Gestern erst habe ich denn das verneuerte Trio hier gespielt und bin wirklich in Versuchung es Dich hören zu lassen…“

Diese Anregung wird dankbar aufgegriffen, und Brahms kann auf diese Weise seinen Freunden aus Düsseldorfer Tagen sein erwachsen gewordenes Jugendwerk vorführen. Zu dem auf den 13. März 1890 in Köln angesetzten Konzert (ein von  Wüllner dirigiertes Chorkonzert, in dessen Mitte Brahms sein „verneuertes“ Trio mit Gustav Holländer, Violine, und Lájos Hegyesi, Violoncello, spielen wird) lädt er seinen Jugendfreund Julius Otto Grimm („Isegrimm“) und dessen Frau Philippine („Pine Gur“) ein:

„…es wäre ganz ausnahmsweise schön und lieblich, wenn Du und gar Pine Gur dabei wären. Du hörst allerlei würdige Chormusik, einen Haufen Motetten von mir und ein Stück, das Dich notwendig interessieren muß.

Kennst Du etwa noch ein H-Dur-Trio aus unserer Jugendzeit, und wärst Du nicht begierig, es jetzt zu hören, da ich ihm – (keine Perrücke aufgesetzt – !) aber die Haare ein wenig gekämmt und geordnet[?]“

(Anfang März 1890)

Gleich nach dem Kölner Konzert setzt Brahms seine Reise in die Vergangenheit fort und besucht Clara in Frankfurt am Main, wo er am 23. März auch noch einmal das Trio aufführt. Damit ist die Reihe der Probekonzerte, in denen sich das neue Werk bewähren muß, zu Ende.

Aus Bad Ischl kann Brahms am Ende seines Sommeraufenthaltes 1890 an Elisabeth und Heinrich von Herzogenberg die nun ausgereifte Neukomposition zusammen mit dem ganz neuen zweiten Streichquintett (G-Dur, op. 111) schicken. Kurz davor hat er an Heinrich von Herzogenberg noch geschrieben:

„…mit Buchstaben geht mir´s noch schlimmer als mit den Noten – diese gefallen mir doch erst morgen nicht, wenn ich sie heute geschrieben…“

(14. Juni 1890)

Elisabeths Antwortschreiben enthält die wohl herzlichste und gültigste Anmerkung zu dem  „Problem“ des doppelten Op. 8, das eben viel mehr ein Geschenk als ein Problem ist – soviele Fragen es auch aufwirft:

„Bei dem  alt-neuen Trio ging mir´s eigen. Im Stillen protestierte etwas in mir gegen die Umarbeitung – es war mir, als hätten Sie kein Recht dazu, in die Jugendzüge, die lieblichen, wenn auch ab und zu verschwommenen, mit Ihrer Meisterhand jetzt hineinzukomponieren, und ich dachte, das kann nimmermehr werden, weil niemand derselbe ist nach so langer Zeit – und ob man nicht wehmütig singen würde: Es war ein Duft, es war ein Glanz. –

Absichtlich sah ich das „alte“ Trio deshalb nicht vorher wieder an, da vieles mir davon entfallen war, und ich wußte nicht, wo der neue Brahms angesetzt hatte, da ich Kritiken mir nie merke! Im ersten Satz erkannte ich sofort die Stelle, wo Sie eingegriffen, aber ich wurde trotz aller Bedenken fortgerissen und spielte hingerissen weiter! – Es ist schön, wie es ist, und das Rechten mit Ihnen überlasse ich gern den Philologen unter den Musikern, die das Datum an dem Ding mehr interessiert als das Ding… Das Adagio ist durch die Zusammenziehung wunderbar rund geworden, und wie von neuem bezaubert das herrlich feierliche Schreiten des Hauptmotivs. Im Scherzo, wo ja scheinbar die wenigsten Veränderungen vorgenommen wurden, bewundern wir die riesig klare Akzentuierung der früheren Intentionen. Genug, wer wollte sich nicht freuen, das Werk mit dem Jünglingsgesicht und mit dem Meisterantlitz –

„Nun kann man´s zweimal lesen,
Wie gut ist das gewesen!“

(9. Oktober 1890)

Am 13. Dezember 1890 endlich schickt Brahms die beiden neuen Opera (8 und 111) zur Drucklegung nach Berlin. Wenige Tage später heißt es in einem Brief an Fritz Simrock:

„…Ich dachte alles ganz gut korrigiert zu haben!? Und nun stimmt’s nicht!? Und Sie schwindeln einen Takt mehr heraus, als ich fürs Geld geben will!? Ja, Geld – was habe ich denn für das erste Quintett gekriegt? Und wie rechnet man das Kastrieren eines Trios?“

(22. Dezember 1890)

Eine Woche später kommt hier dann auch das weitere Schicksal der Erstfassung zur Sprache:

„…Ich meine, es brauchte bei op. 8 nichts weiter zu stehen als: Neue Ausgabe. In Ankündigungen können Sie ja beisetzen: vollständig umgearbeitete und veränderte und was Sie wollen. Was mit der alten Ausgabe geschehen soll: es ist wirklich unnütz, darüber zu reden und zu beschließen – nur meine ich, man kann sie nicht wohl jetzt mit der neuen Ausgabe zugleich anzeigen. Wird sie verlangt, so schicken Sie sie, und scheint es Ihnen eines Tags nötig oder wünschenswert, so drucken Sie sie neu (lassen ja auch möglicherweise die neue Ausgabe eingehen!) Ein Vorsatz aber ist überflüssig. Ich denke selbstverständlich dabei nicht an das Honorar und weiß wirklich nicht, was ich fürs Kastrieren verlangen soll….

Für das verböserte Trio hätte ich nichts verlangt und erwartet, aber Sie schreiben ganz klar, kurz und grob, daß Sie es nicht umsonst nehmen! So kaufe ich mir noch Kuchen zu Ihrem Champagner – wird alles den armen Leibeigenen abgezapft!…“

(An Fritz Simrock, 29. Dezember 1890)

Die fast kaltblütig zu nennende Objektivität, mit der Brahms sein Jugendwerk noch einmal auf die Welt gebracht hatte, verstellte ihm nicht die Sicht auf das Lebensrecht des Erstgeborenen. Daß uns auf diese Weise Jünglingsgesicht und Meisterantlitz erhalten blieben, zählt zu den schönsten Geschenken der Musikgeschichte.

© Claus-Christian Schuster

Brahms – Trio op. 101

Johannes Brahms
* Hamburg, 7. Mai 1833
† Wien, 3. April 1897

Trio Nr. 3, c-moll, op. 101

komponiert: Thun, Sommer 1886

Uraufführung: Budapest, 20. Dezember 1886
Johannes Brahms, Klavier
Jenö Hubay (1858-1937), Violine
David Popper (1843-1913), Violoncello

Erstausgabe: Simrock, Berlin, April 1887

Mit Brahms´ drittem Klaviertrio ist in der Entwicklung des Genres ein kritischer Punkt erreicht. Die äußerste Konzentration und Verdichtung, die hier verwirklicht ist, war nicht mehr zu überbieten. Die Nachfolger konnten, sofern sie das Brahmssche Paradigma überhaupt vor Augen hatten, nur den Weg zum episch-symphonischen Klaviertrio gehen, wie ihn etwa Pfitzner und Reger beschritten, oder aber sich, wie Ives und Ravel, auf die Suche nach Neuland machen.

„Es ist besser als alle Photographien und so das eigentliche Bild von Ihnen.“ schwärmt Elisabeth von Herzogenberg (9./10. Jänner 1887), während sie schweren Herzens die Partitur einpacken läßt, um sie an Brahms zurückzuschicken. Zu Silvester hatte sie das Stück mit Joseph Joachim und Robert Hausmann ein erstes Mal durchspielen können (wobei man sich mit einer Partitur behelfen mußte, da Brahms keine Stimmen mitgesendet hatte). Ihre erste Reaktion in dem oben zitierten Brief ist so schlicht und erschöpfend, daß sie uns eigentlich der Mühe weiterer „Erläuterungen“ entheben sollte:

„…Diesen neuen Stücken gegenüber käme es mir noch lächerlicher als gewöhnlich vor, wenn ich armer Floh mich hinsetzen wollte, meine Eindrücke zu „motivieren“ und Ihnen sagen zu wollen, warum, was Sie gemacht haben, so schön ist! Und ich könnte es nicht mit Überzeugung tun; denn ich glaube und bekenne, daß es nicht an diesem und nicht an jenem liegt, warum diese Musik so besonders geraten ist, sondern weil der heilige Geist es eben besonders gut mit Ihnen meinte. Etwas, wie dieses Trio, in allen Teilen so vollendet, so leidenschaftlich und so maßvoll, so groß und so lieblich, so knapp und so beredt, ist überhaupt wohl selten geschrieben worden, und mich dünkt: Sie selber müssen ein Gefühl gehabt haben, als Sie den letzten Takt schrieben, wie etwa Heinrich der Vogler, wenn er betet: »Du gabst mir einen guten Fang, Herrgott, ich danke Dir!«…“

Auch Clara Schumann schreibt nach der ersten Bekanntschaft mit dem „wunderbar ergreifenden“ neuen Werk: „Noch kein Werk von Johannes hat mich so ganz und gar hingerissen.“

Ganz ähnlich muß der Dichter Joseph Viktor Widmann (1842-1911) empfunden haben, in dessen Berner Haus das Werk noch im Sommer 1886, unmittelbar nach seiner Fertigstellung, zum allerersten Mal erklang – Brahms spielte es dort mit den Brüdern Friedrich und Julius Hegar. Bei dieser Leseprobe scheint es jedenfalls  friedlicher zugegangen zu sein als bei jener, die der Wiener Erstaufführung (26. Februar 1887) vorausging und über die Max Kalbeck berichtet:

„…Obwohl Geiger [Robert Heckmann] und Violoncellist [R. Bellmann] ihre Stimmen vorher durchgesehen hatten, wurden sie doch von Brahms und der genialen Ungebundenheit seines Spiels so außer Fassung gebracht, daß sie ihm nur mühsam nachkamen und kaum selbständig hervortraten. Das Werk blieb ihnen fremd, und sie begriffen es um so weniger, als Brahms nicht die geringste Rücksicht auf sie nahm. Er schien die Bekanntschaft mit der Novität vorauszusetzen und ärgerte sich, daß die überraschten und verblüfften Mitspieler fast völlig versagten. Nach dem ersten Satz beging Heckmann die Unvorsichtigkeit, zu fragen, ob der Meister zufrieden sei oder es anders wünsche. Er erwiderte höhnend in gereiztem Tone: »Ja, sehr!« und fing sofort den nächsten Satz an. Im f-moll-Teile stolperten Violine und Violoncell, die den Einsatz verpaßten, und die Pizzicati mißglückten bei dem rasenden Tempo, das Brahms genommen hatte, jedesmal. Seine Ungeduld steigerte sich immer mehr, und man sah ihm an, wie es in ihm kochte. Nach dem letzten Akkord sprang er auf, schleuderte dem Konzertmeister ein paar heftige Worte zu: »So kommt man nicht zur Probe!«, war durch nichts zum Dableiben zu bewegen, sagte meiner Frau und mir Adieu, würdigte seine niedergedonnerten Mitspieler keines Blickes mehr und stürmte fort…“

Wenn man sich diese Szene vergegenwärtigt und dabei daran denkt, daß dieses Trio Brahms besser porträtiert als alle Photographien, so wird man beginnen, auch die grimmigeren Töne des Werkes zu verstehen.

Sicher hat Elisabeth von Herzogenberg den Nagel auf den Kopf getroffen, wenn sie feststellt, daß „es nicht an diesem und nicht an jenem liegt, warum diese Musik so besonders geraten ist.“ Es ist daher, so verlockend und lohnend es auch erscheint, gar nicht unbedingt notwendig, den motivischen und gedanklichen Querbezügen nachzuspüren, die aus den vier Sätzen dieses Werkes ein so zwingendes Ganzes machen. Überall wird man die gleiche Kraft der Verdichtung finden, unter deren Druck alle Ideen sich in ihrer reinsten Form kristallisieren – der Gedanke an gebirgsbildenden Naturgewalten wird in den Außensätzen, Allegro energico und Allegro molto, schon durch das Klang- und Notenbild nahegelegt. Nur im Schutz dieser mächtigen Ecksätze kann das  Mysterium der beiden Innensätze – des phantomhaften Presto non assai und des unschuldigen Andante grazioso – unversehrt bewahrt werden.

Es gibt gar keinen Zweifel: Dieses kürzeste aller großen Klaviertrios des XIX. Jahrhunderts, „bei dem man“ – um noch einmal Elisabeth von Herzogenberg sprechen zu lassen – „am Schluß nur einmal Mangel empfindet, weil es da aus ist und man noch mehr davon haben wollte“, braucht und duldet keine Einführung.

© Claus-Christian Schuster

Wheeler – Other People

Kenny Wheeler
* St. Catharines, ON, 14. Januar 1930
† London, 18. September 2014

Other People

„Other People“ führt uns mit spielerischer Doppelbödigkeit auf eine jener falschen Fährten, auf denen man oft die verblüffendsten Funde macht. Eine gar nicht wehleidige, sondern weise Melancholie prägt Stücke wie „Some days Are Better“ und „Win Some Loose Some“. Mit dem ältesten der hier versammelten Werke, seinem (bisher einzigen) Streichquartett, begibt sich Kenny auf eine Entdeckungsreise in die Welt der „klassischen“ Kammermusik, die – in der Komplexität ihrer Chiffrierungen und der aus freiwilliger Selbstbeschränkung erwachsenden Subtilität – mit derjenigen des Jazz sehr viel mehr gemein hat, als ein oberflächlicher Betrachter zu erkennen vermag. Daß diese kammermusikalische Textur einer Urbegabung des Komponisten entgegenkommt, hört man schon in „Nita“. Die ältesten Schmerzen des Lebens werden schließlich dem ungleichen Paar „The Unfortunate Man“ und „The Lucky Lady“ in den Mund gelegt: Und es ist sicher kein Zufall, daß es dem Wheelerschen Unglück nicht an Vitalität und dem Wheelerschen Glück nicht an Nachdenklichkeit fehlt. Die für Kenny so bezeichnende sympathische Selbstironie drückt sich unter anderem in dem Titel aus, den er dem (abgesehen vom Quartett) längsten Stück der Auswahl gegeben hat: „More is less“ – ein Motto, dem man nicht widersprechen kann; aber trotzdem möchte man von der ebenso kunstreichen wie ungekünstelten Musik Kenny Wheelers immer noch mehr bekommen.

© Claus-Christian Schuster

Brahms – Trio op. 8

Johannes Brahms
* Hamburg, 7. Mai 1833
† Wien, 3. April 1897

Trio Nr. 1, H-Dur, op. 8 (Fassung 1854)

komponiert: Niederschrift in Hannover, Papenstieg 4, 3.-31. Jänner 1854

Uraufführung: Danzig, Gewerbehaussaal, 13. Oktober 1855
Louis Haupt (1821-1887), Klavier
Eduard August Braun (1815-1873), Violine
Friedrich Wilhelm Klahr (1817-1862), Violoncello

Erstausgabe: Breitkopf & Härtel, Leipzig, November 1854

In Brahms´ Nachlaß hat sich ein Konzertprogramm aus den Hamburger Jugendtagen des Meisters erhalten, das eine eigentümliche Besonderheit aufweist: Zur Silberhochzeit des Klavierfabrikanten Christian Heinrich Schröder wurde am 5. Juli 1851 in einem Privatkonzert unter anderem ein Trio des in keinem Lexikon verzeichneten Komponisten „Karl Würth“ vorgetragen; neben dem Pianisten Johannes Brahms wirkten der Geiger Gade (nicht Niels Wilhelm, sondern sein Hamburger Namensvetter und Jahrgangskollege Johann Gade, 1817-1898) und der Violoncellist Gustav d´Arien (1819-?) an dieser Aufführung mit. Brahms hat auf diesem Programmzettel seinen eigenen und den angeblichen Namen des Komponisten mit einer Bleistiftmarkierung verbunden – der früheste uns erhaltene Hinweis auf eine Brahmssche Klaviertriokomposition. Trotzdem darf man bezweifeln, daß es sich hier um sein erstes Trio gehandelt hat; und ganz sicher wissen wir, daß Brahms auch in den Jahren zwischen dieser ersten dokumentierten Trioauffführung und dem Erscheinen des H-Dur-Trios in Klaviertrios geschwärmt hat. Eines dieser Werke ist uns wenigstens dem Namen nach bekannt: Es ist jene Phantasie in d-moll (Largo und Allegro), die der Komponist am Nachmittag des 4. Oktober 1853 im Hause Schumann spielte, wo sie die Nachbarschaft des Schumannschen Opus 110 aushalten mußte. Schumanns Anerbieten, die Triophantasie zusammen mit einer Reihe weiterer Werke bei Breitkopf & Härtel zum Druck zu empfehlen, bringt den Autor in einige Verlegenheit, in der er sich ratsuchend an Joseph Joachim wendet:

 „Lieber Joseph!

Dr. Schumann betreibt meine Sachen bei Breitkopf & Härtel so ernstlich und so dringend, daß mir schwindlich wird. Er meint, ich müsse in sechs Tagen die ersten Werke hinschicken.

Der Mannigfaltichkeit wegen schlägt er mir folgendes Programm vor:

  1. 1. Phantasie in d moll für Piano, Violine und Cello (Largo und Allegro)
  2. 2. Lieder
  3. 3. Scherzo in es moll
  4. 4. Sonate in C dur
  5. 5. Sonate in a moll für Piano und Geige
  6. 6. Gesänge

Schreibe mir doch deutlich Deine Herzensmeinung darüber. Ich weiß mich gar nicht zu fassen. Ob das Trio (Du erinnerst es wohl) der Veröffentlichung wert ist? Erst op. 4 ist ganz nach meinem Geschmack. Aber freilich meint Schumann, man müsse mit den schwächeren Werken anfangen. Da hat er recht, entweder damit anfangen, oder sie ganz fortlassen und streben, hernach nicht zu fallen.

Die fis moll [Sonate] und das Quartett in h, meint der Dr., könnte jedem Werk nachfolgen.

Wenn das Trio abgeschrieben ist, möchte ich es Dir wohl hinschicken; daß ich einige Schwächen geheilt habe, versteht sich von selbst…“

(Düsseldorf, 17. Oktober 1853)

 Dieser Brief ist ein bemerkenswertes und aufschlußreiches Dokument: Er bewahrt nicht nur die (uns Kinder einer in künstlerischen Dingen weniger verschwenderischen Zeit wehmütig stimmende) Spur einiger offenbar durchaus präsentabler, schließlich aber doch unterdrückter Jugendwerke des Meisters – neben der Trio-Phantasie (die in McCorkles Werkverzeichnis mit dem 1851 aufgeführten Trio von „Karl Würth“ als Anhang IIa Nr. 6 zusammengefaßt ist) einer frühen Geigensonate (Anhang IIa Nr. 8) und eines Streichquartetts (Anhang IIa Nr. 5) –, er beweist auch, daß schon der Zwanzigjährige über ein erstaunliches Maß an Selbstkritik und Unabhängigkeit des Urteils verfügte. Denn wie wir wissen, ist Brahms dem Schumannschen Publikationsplan ja keineswegs gefolgt: Nicht nur hat er die (offenbar auch von Schumann zunächst als das vergleichsweise unreifste Werk beurteilte) Phantasie völlig fallengelassen, er hat auch von Schumann besonders hochbewertete Werke (Geigensonate, Streichquartett) ungedruckt gelassen. Und das „Streben, hernach nicht zu fallen“ könnte überhaupt als Motto über dem Brahmsschen Gesamtwerk stehen, das – wenigstens was die Klarheit und Strenge des in ihm verwirklichten Wertmaßstabes anlangt – in der uns bekannten Musikgeschichte vielleicht seinesgleichen nicht hat.

In einem Gespräch mit seinem späteren Biographen Max Kalbeck hat Brahms 1885 diese rigorose Selbstkritik humorvoll verniedlichend als „Respekt vor der Druckerschwärze“ apostrophiert und auf Kalbecks Frage nach den unschuldigen Opfern dieser Strenge gesagt:

„Das Zeug ist alles verbrannt worden. Die Kisten mit den alten Skripturen standen lange in Hamburg. Als ich vor zwei oder drei Jahren dort war, ging ich auf den Boden – die ganze Kammer war aufs schönste mit meinen Noten tapeziert, sogar die Decke. Ich brauchte mich nur auf den Rücken zu legen, um meine Sonaten und Quartette zu bewundern. Es machte sich sehr gut. Da hab´ ich alles heruntergerissen – besser, ich tu´s, als andere! – und auch das übrige mitverbrannt…“

Dieses Autodafé hat wohl Anfang April 1883, kurz vor Brahms´ fünfzigstem Geburtstag stattgefunden. Ob neben den schon erwähnten Triokompositionen auch das in einem Bonner Nachlaß in Kopie aufgefundene und 1925 als anonyme Komposition „uraufgeführte“ A-Dur-Trio unter diese von Brahms verworfenen Werke zu zählen ist, wie seine Herausgeber (Ernst Bücken und Karl Hasse, 1938) meinten, wird wohl nie mehr eindeutig zu klären sein. Die der Ausgabe zugrundeliegende Abschrift ist in den Kriegswirren verloren gegangen, und so leidenschaftlich das Pro und Contra von Brahms´ Autorschaft in der einschlägigen Diskussion seither auch verfochten wird, muß man doch zugeben, daß die Argumente beider Seiten einander ziemlich die Waage halten. Sollte dieses Trio aber doch ein Brahmssches Jugendwerk sein (was ich in meiner Jugend genau so fest glaubte, wie ich es jetzt bezweifle), so wäre  es zeitlich wohl zwischen dem Hamburger Trio des ominösen „Karl Würth“ und der von Schumann als „Opus 1“ eingestuften, von Brahms aber verworfenen Phantasie einzureihen.

Von Hannover aus, wohin sich Brahms im Gefolge seines Freundes Joseph Joachim am 3. November 1853 nach den an Eindrücken und Erschütterungen so überreichen Wochen bei Robert und Clara Schumann in Düsseldorf zurückgezogen hat, bekräftigt der junge Komponist in seinem Dankesschreiben an Robert Schumann (vom 16. November) den inzwischen gereiften Entschluß: „Ich denke keines meiner Trios herauszugeben.“

Es ist leicht möglich, ja sogar sehr wahrscheinlich, daß zu dieser Zeit der Plan zu einem neuen Klaviertrio schon herangereift ist. Doch die Zeit zur Niederschrift der andrängenden Ideen ist noch nicht gekommen. Den Großteil der vorweihnachtlichen Zeit muß Brahms in Leipzig verbringen, wo er die Verhandlungen mit seinen Verlegern zum Abschluß bringt und sich der durch Schumanns prophetischen, aber belastenden Artikel „Neue Bahnen“ neugierig gemachten Leipziger Öffentlichkeit als Komponist und Pianist vorstellt. Viele der für des Komponisten weiteres Leben wichtigen Freundschaften und Beziehungen gehen auf diese ersten Leipziger Tage zurück. Die Festtage verbringt Brahms dann in gehobener Stimmung im Kreis seiner Familie in Hamburg: Er, der vor acht Monaten nicht viel anders als ein fahrender Handwerksbursche von zuhause aufgebrochen ist, kehrt als strahlender Sieger mit seinen ersten gedruckten Kompositionen und begleitet von der erwartungsvollen Neugier der großen musikalischen Welt zurück.

Doch das neue Trio drängt ans Licht. Schon am 3. Jänner 1854 ist Brahms wieder in Hannover. Er hat sich ein Domizil gemietet, das – auch wenn es kein Spitzwegsches Dachstübchen ist – einem Kreisler junior recht gut als musikalisch-poetisches Laboratorium dienen kann. Max Kalbeck beschreibt das Haus in einer Weise, die einen heutigen Hannoverbesucher recht wehmütig stimmen könnte:

 „Vor dem Egidientore standen, zwischen Obstgärten und Äckern verloren, einzelne Häuser, die einmal für die Günstlinge oder Favoritinnen des Fürstenhauses und -hofes gebaut worden waren. Das einstöckige, vier Fenster breite Häuschen am Papenstieg Nr. 4 versteckte sich förmlich hinter den Zweigen der alten Apfel- und Nußbäume, so daß man es von der Stadt aus kaum sah. Ein eigener Schleichweg führt auch heute [1903] noch vom Papenstieg aus zu der ehemaligen Solitude, und die beiden Säulen mit ägyptischen Lotoskapitälen, die den Haupteingang noch immer schmücken, Träger eines lebensgefährlichen Miniaturbalkons und gleich diesem selbst aus Holz gearbeitet, verraten, seitdem Stuck und Kalk von ihnen abfielen, wie billig die Tempel waren, welche von vornehmen Herren der empfindsamen Restaurationszeit einer Mondgöttin oder Priesterin der Isis gestiftet wurden.“

Dieses Bild mag einen daran erinnern, daß die Bamberger Erstausgabe der Hoffmannschen Kreisleriana, Brahms´ Lieblingsbuch, ein Vorwort von Jean Paul begleitet hat…

In dieser idyllischen Umgebung muß in den folgenden Wochen der Großteil des neuen Klaviertrios zu Papier gebracht worden sein. Am 19. Jänner treffen Clara und Robert Schumann in Hannover ein. Clara findet den Freund merkwürdig verändert:

 „Brahms fällt uns durch seine Schweigsamkeit auf. Er spricht fast gar nicht, oder tut er es zuweilen, so geschieht es so leise, daß ich es nicht verstehen kann. Er hat gewiß seine geheime innere Welt – er nimmt alles Schöne in sich auf und zehrt nun innerlich davon.“

(Tagebuch, 21.(?) Jänner 1854)

Trotz der Turbulenzen rund um Claras Konkurrentin Wilhelmine Clauß (Robert: „ein kleiner Anmuthteufel“) verbringen die Freunde angeregte und musikerfüllte Tage miteinander. Am 30. Jänner treten die Schumanns dann die Heimreise an. Robert Schumann und Johannes Brahms ziehen sich wieder in ihre geheime innere Welt zurück – dieser zur Vollendung seines Klaviertrios, jener um nicht wieder zurückzukommen.

An Schuberts 57. Geburtstag beendet Brahms die Niederschrift des Trios. 57 Jahre später, 1911, wird an der Geburtsstätte dieses ersten der erhaltenen Brahmstrios eine Gedenktafel angebracht – das Häuschen Papenstieg 4 und diese Tafel werden das Inferno des Zweiten Weltkriegs aber nicht überleben: 1943, am Höhepunkt der britisch-amerikanischen Bombardements, denen 90% der Hannovraner Altstadt zum Opfer fallen, wird auch diese Brahmsstätte zerstört. 1998 wird am ehemaligen Standort des Hauses eine von Siegfried Neuenhausen (*1931) entworfene Erinnerungstafel in den Boden eingelassen, die man heute allerdings vergeblich sucht…

Clara hatte recht: Alles Schöne, aber auch alles Erschütternde, was Brahms in den wenigen Monaten seit seinem Aufbruch aus Hamburg zu erleben beschieden war, war ihm innerliche Zehrung – und alles findet seinen Widerhall in diesem staunenswerten Opus 8. Brahms verweigert dem Werk zwar – anders als seine tschechischen Nachfolger Smetana und Janáček – einen verräterischen Titel, aber auch ohne solche äußere Hinweise ist hier alles beredt. Um in diesem Tagebuch lesen zu können, hätte es nicht einmal der vielsagenden musikalischen Zitate bedurft; aber es erstaunt uns nicht, daß auch diese der späteren Umarbeitung, die ja im Konzertbetrieb seit langem die heute gespielte Urfassung verdrängt hat, zum Opfer fallen mußten.

Denn der Komponist von 1889 war schon lange nicht mehr jener „Johannes Kreisler jr.“, als welcher der Brahms von 1854 firmierte. Gerade deshalb wird ja der unvergängliche Eigenwert der ursprünglichen Fassung durch die „Ausgabe letzter Hand“ (die doch im eigentlichsten Sinne eine Neukomposition unter Verwendung alter Materialien ist) durchaus nicht berührt; und die gängige Praxis, die das Frühwerk nur als Curiosum gelten lassen will, ist sehr im Irrtum.

Zwar meinte E.T. A. Hoffmanns Johannes Kreisler:

 „Die Musik schließt dem Menschen ein unbekanntes Reich auf, eine Welt, die nichts gemein hat mit der äußern Sinnenwelt, die ihn umgibt und in der er alle bestimmten Gefühle zurückläßt, um sich einer unaussprechlichen Sehnsucht hinzugeben.

Habt ihr dies eigentümliche Wesen auch wohl nur geahnt, ihr armen Instrumentalkomponisten, die ihr euch mühsam abquälet, bestimmte Empfindungen, ja sogar Begebenheiten darzustellen?“

– und sicher hätte unser Kreisler jr. (wie er ja auch später in seiner Haltung gegenüber der Programmusik der Neudeutschen Schule bewiesen hat) ganz ähnlich argumentiert; aber so wie Hoffmanns Kreisler schon einige Zeilen weiter von grünen Hainen, lachenden Kindern und dem Glanz des Abendrots schreibt, die ihm die Haydnschen Symphonien vor Augen führen, ebenso hätte auch Brahms sicher nicht geleugnet, daß Musik – auch und erst recht dort, wo sie sich nicht einfach in ein illustratives Verhältnis zu einem konkreten „Programm“ begibt – befähigt und sogar berufen ist, Eindrücke der äußern Sinnenwelt samt den von diesen ausgelösten bestimmten Gefühlen in uns wachzurufen. Vielleicht würde Brahms, trotz seiner schwärmerischen Verehrung für E. T. A. Hoffmann, letztlich doch Felix Mendelssohn zugestimmt haben, dessen nicht oft genug zitierten Worte in einem Brief an seinen Kollegen Marc André Souchay jun. (1796-1868) wohl die überzeugendste Stellungnahme in dieser noch immer nicht enden wollenden Auseinandersetzung sind:

„Die Leute beklagen sich gewöhnlich, die Musik sei so vieldeutig; es sei so zweifelhaft, was sie sich dabei zu denken hätten, und die Worte verstände doch ein Jeder. Mir geht es aber gerade umgekehrt. Und nicht blos mit ganzen Reden, auch mit einzelnen Worten, auch die scheinen mir so vieldeutig, so unbestimmt, so mißverständlich im Vergleich zu einer rechten Musik, die einem die Seele erfüllt mit tausend besseren Dingen als Worten. Das, was mir eine Musik ausspricht, die ich liebe, sind mir nicht zu unbestimmte Gedanken, um sie in Worte zu fassen, sondern zu bestimmte.“

(15. Oktober 1842)

Doch eben deshalb halte ich den Versuch, das musikalische Tagebuch, als welches sich das H-Dur-Trio leicht zu erkennen gibt, mit der Geschichte des Brahmsschen Wanderjahres illustrieren zu wollen, für ein problematisches und letzlich auch müßiges Unterfangen. Nichts in diesem Werk braucht und nur weniges duldet eine Erklärung. Auf diese wenigen Détails will ich mich hier beschränken.

Im ersten Satz (Allegro con moto, H-Dur, C) wird auch einen mit der Spätfassung des Werkes nicht vertrauten Hörer der offene Widerspruch zwischen dem verschwenderisch in H-Dur blühenden Hauptthema und dem asketisch-spröden Gis-moll-Seitenthema frappieren: Dem flächig-akkordischen Satz des ersten steht die karge Einstimmigkeit des zweiten unvermittelt gegenüber. Trotz des leicht nachvollziehbaren motivischen Zusammenhanges zwischen den beiden Themen ist es völlig unmöglich, diesen Bruch zu überhören. Erst im Laufe der weiteren Entwicklung des Seitenthemas wird es zögernd kontrapunktisch bereichert, verharrt aber in seiner lugubren Linearität. Eine überraschende Mediantrückung bringt schließlich einen unverhofften Stimmungswechsel, mit dem der zweite Teil des Seitensatzes sich lichteren und freundlicheren Regionen zuwendet. Der klagend-fallende Duktus der Gis-moll-Episode weicht in diesem E-Dur-Abschnitt („dolce, poco scherzando“) einer kindlich-vertrauensvollen Stimmung, die durch steigende Wendungen geprägt ist. Trotzdem bleibt auch hier das instrumentale Gewand betont schlicht. Vor allem die auffällige Sparsamkeit des über weite Strecken einhändig ausführbaren und bis gegen Ende des Maggioreteiles auf die tieferen Register beschränkten Klaviersatzes bewirkt, daß über den Charakter- und Tonartenwechsel hinweg die Einheit des Seitensatzes gewahrt bleibt.

Dieser bemerkenswerte Zug, zu dem es im erhaltenen Frühwerk Brahms´ keine Parallele gibt, ruft mir eine sehr einprägsamen Passage in den Hoffmannschen Kreisleriana in Erinnerung. Das im vierten Band der Fantasiestücke in Callots Manier enthaltene Kreislerianum Kreislers musikalisch-poetischer Clubb berichtet von der ungeschickten Neugier eines der um das Klavier versammelten Freunde des exzentrischen Musikers:

„…damit steckte er ausdrücklich das Licht an, welches sich auf dem breiten Schreibeleuchter befand, und forschte, ihn über die Saiten haltend, sehr bedächtig nach dem invaliden Hammer. Da fiel aber die schwere, auf dem Leuchter liegende Lichtschere herab, und, im grellen Ton aufrauschend, sprangen zwölf bis fünfzehn Saiten.“

Die anschließende Diskussion der Freunde, die sich um den erhofften musikalischen Genuß gebracht sehen, beendet Kreisler selbst mit den Worten:

 „Und ich will doch phantasieren… im Baß ist alles ganz geblieben, und das soll mir genug sein.“

Gleich zu Beginn der nun folgenden Phantasie, die der verrückte Kapellmeister mit schwärmerischen Deklamationen begleitet, erscheint die Akkordfolge as-moll (was enharmonisch dem Brahmsschen gis-moll entspricht) – E-Dur. Die erste Harmonie läßt Kreisler von Sehnsucht und Schmerz sprechen, während ihn die zweite zu dem Ausruf hinreißt:

 „Frisch auf, mein wackrer Geist! – rege und hebe dich empor in dem Element, das dich gebar, das deine Heimat ist!“

Trotz der erkennbaren Berührungspunkte zwischen dem Hoffmannschen Text und der Brahmsschen Musik (Tonartenfolge, Charakter, Aussparung des Klavierdiskants), muß man wohl nicht betonen, daß Brahms – auch wenn meine Assoziation nicht ganz unbegründet sein sollte – keinesfalls eine musikalische Textillustration angestrebt haben kann; denn jenseits der aufgezeigten Entsprechungen gibt es rein gar nichts, was die Vermutung zuließe, wir wären hier auf der Spur eines „Programms“. So wenig Hoffmann seine dichterische Phantasie befähigte, in Tönen ähnliche Wirkungen hervorzubringen wie in Worten, so wenig bedurfte Brahms der Krücke eines dramaturgischen Leitfadens, um seine musikalischen Ideen zu entwickeln. Dennoch wäre es denkbar, daß wir es an dieser Stelle – in Analogie zu den später ebenfalls ausgemerzten musikalischen Zitaten der letzten beiden Sätze – ganz einfach mit einer (dem engsten Kreis der Freunde vielleicht verständlichen) literarischen Anspielung zu tun haben, die der strengeren und gereifteren Ästhetik des Meisters entbehrlich erscheinen mußte.

Da das im Seitensatz aufgestellte Themenmaterial den weiteren Verlauf des Satzes diktiert, zog seine Eliminierung 1889 die Neukomposition des Satzganzen nach sich. Vielleicht ist die noch immer Erstaunen auslösende Radikalität der Neufassung des ganzen Werkes eine mittelbare Folge dieser ersten Entscheidung.

Wenn man nach den Abenteuern der Durchführung, in der die Motive des Seitenthemas in Gebiete vordringen, die einige Jahrzehnte später zum Reich Gustav Mahlers gehören werden, wieder das gesicherte Terrain der Reprise erreicht glaubt, findet man sich unversehens inmitten eines veritablen Fugatos wieder, das auf eigenwillige und selbstherrliche Art die Stelle des Seitensatzes vertritt. Diese „Fughette“ erregte schon bei den ersten Kritikern des Werkes Anstoß, und auch eineinhalb Jahrhunderte später dürfen sich die Interpreten an dieser Stelle an der befremdeten Ratlosigkeit des Publikums ergötzen. Beim Durchdringen dieses polyphonen Engpasses kann man heute noch auf vielen Gesichtern Reaktionen lesen, die Hoffmann in Kreislers ironischem Lamento über die „wahnsinnigen“ Komponisten aufs Korn genommen hat:

„Die ganz unnützen Spielereien des Kontrapunkts, die den Zuhörer gar nicht aufheitern und so den eigentlichen Zweck der Musik ganz verfehlen, nennen sie schauerlich geheimnisvolle Kombinationen und sind imstande, sie mit wunderlich verschlungenen Moosen, Kräutern und Blumen zu vergleichen.“

(E. T. A. Hoffmann, Gedanken über den hohen Wert der Musik)

Am Scherzo (Allegro molto, h-moll, 3/4 – Trio. Più lento, H-Dur, 3/4 ) kann man sich noch einmal davon überzeugen, daß die für diesen Satztyp charakteristischen Züge dem Empfinden der Romantik – und Brahms ist in diesem Stadium eindeutig ein romantischer Jüngling – besonders entgegenkommen. Eine sprunghafte Phantasie, die sich in überraschenden Stimmungswechseln ausdrückt,  burlesker Übermut, spukhafter Zauber, der in geheimnisvoll nächtlichen Farben geschildert wird – all das ist für die romantische Kunst ganz allgemein typisch, und all das läßt sich in der von großräumigen Gestaltungszwängen vergleichsweise unbelasteten Syntax des Scherzos besonders treffend gestalten. Obwohl Brahms auch in den Scherzi von Anfang an seinen eigenen, unverwechselbaren Ton findet, ist es daher wohl kein Zufall, daß sich gerade in diesen Stücken besonders deutliche Berührungspunkte mit der Musik der vorbrahmsichen Generation ergeben. (Der Mendelssohn-Anklang im Scherzo der Klaviersonate op. 5 und das Chopin-Echo im Es-moll-Scherzo op. 4 sind besonders bekannte Beispiele dafür.)

Bezeichnenderweise ist das Scherzo des H-Dur-Trios der einzige Satz, den der Meister 1889 so gut wie unangetastet ließ; er hat sich hier bei der Letztfassung mit kleinen (vor allem Instrumentation und Satz betreffenden – und, wenn mir die vorlaute Bemerkung verziehen wird, nicht immer glücklichen) Retouchen sowie einer neuen Coda begnügt.

Schon unter Brahms´ frühesten erhaltenen Werken findet sich ein H-moll-Scherzo, das eine ganze Reihe auffälliger Gemeinsamkeiten mit dem vorliegenden Satz aufweist: Das Scherzo der Klaviersonate fis-moll op. 2 (Hamburg, November 1852) trägt nicht nur eine völlig idente Spielanweisung (staccato e leggiero), es zeichnet sich auch durch die gleichen schroffen dynamischen Kontraste (piano – fortissimo), durch analoge motivische Keimzellen (Hauptteil: Aufstieg von der Tonika zur Terz mit anschließender Wendung zum Leitton; Trio: Umkreisen des Terztones) und durch etliche Texturparallelen (nachschlagende Bässe im Trio etc.) aus. Diese Analogien vermindern freilich in keiner Weise die Eigenständigkeit der beiden Werke: man könnte in ihnen prächtig charakterisierte Portraits eines sehr ungleichen Geschwisterpaares sehen.

Das folgende Adagio non troppo (H-Dur, C) ist trotz seiner rhapsodisch-improvisatorischen Form von zwingender Stimmigkeit. Natürlich fällt es uns – aus der vollständigeren Kenntnis der kompositorischen Entwicklung des Meisters – heute leichter, die innere Logik des Ablaufes nachzuvollziehen. Sogar den ergebenen „Brahminen“ unter den Kritikern bereitete dieser Satz seinerzeit aber einiges Kopfzerbrechen: Adolf Schubring vermißte 1862 die „rechte Einheit“, und Eduard Hanslick stieß sich noch 1870 an den „gesuchten Seltsamkeiten“ des Adagios. Freilich muß nach dem vergleichsweise „traditionell“ gebauten Scherzo der langsame Satz als eine Sphinx erscheinen. „Ists nicht eigentümlich, daß man vom Komponisten in allem Originalität fordert und daß man sie ihm in der Form verbietet?“ wird Busoni zehn Jahre nach Brahms´ Tod fragen.

Die erwartete Dreiteiligkeit (zu der sich die Spätfassung reumütig bekennen wird) erscheint hier in verfremdender Brechung: Als Mittelteil erscheint das kaum verhüllte Zitat eines Schubert-Liedes (Am Meer, D 957 Nr. 12), das gleich zum Ausgangspunkt einer frei assoziativen Entwicklung wird. Unerwartet rasch mündet diese aber wieder in die Reprise des Hauptteiles. Hier verwundert schon im zweiten Takt eine gewissermaßen schlafwandlerische Rückführung, mit der der subdominantische Beginn in die Tonika zurückfindet. (Die selbstvergessene Irrationalität dieser Wendung verleitet bis heute manchen gewissenhaften Pianisten zu einer wohlgemeinten, aber verheerenden  „Korrektur“…) Die improvisierenden Melismen, mit denen das Klavier den Streichersatz von hier an untermalt, sind frische Triebe eines Baumes, der in Beethovens letzten Klaviersonaten gepflanzt wurde. Spätestens mit den beiden – einander aufhebenden ­– kühnen Ganztonrückungen, die den weiteren Verlauf in ein fremdes Licht tauchen, wird klar, daß wir es hier nicht mit einer „Reprise“, sondern mit einem Traumbild, einer verklärenden Erinnerung zu tun haben. Und weil Traum und Delirium benachbarte Reiche sind, macht es Brahms keine Mühe, uns von jenem in dieses zu führen: Das Allegro (doppio movimento), das parenthetisch in die geträumte Reprise einbricht und das Schubring in seiner Besprechung einen zweiten „Mittelsatz“ nennt, ist nämlich nichts anderes als eine Fiebervision, in der sich ein Fragment des Hauptthemas ekstatisch verselbständigt und in einem heimatlosen Motivsplitter aus dem ersten Satz sein „surreales“ Spiegelbild findet. (Für Analytiker: Aus dem Geigenthema der Takte 5-6 wird eine Folge von vier Tönen gelöst und anschließend zu einem Dreitonmotiv verkürzt, dessen diastematische Kontur dem ebenfalls dreitönigen Geigenmotiv aus Takt 202ff. des ersten Satzes entspricht – die geringfügig veränderte Krebsumkehrung dieses Motivs dient dann als „Spiegelbild“.)

Dieses assoziative Spiel mit kleinräumigen, ostinat wiederholten Motivzellen werden wir später bei Janáček und seinen Nachfolgern wiederfinden. Faszinierend an diesem Vorgang ist nun aber weder die kombinatorische Logik (auf die sich Schönberg und seine Jünger berufen werden, die aber zum Glück nur im Verborgenen wirkt), noch auch die inhärente musikgeschichtliche Prophetie, sondern die sich hier eröffnende Perspektive: In diesem Fiebertraum offenbaren sich die bis dahin verborgenen Beziehungen zwischen allen Figuren und Motiven des Satzes, gerade hier gewinnt das Ganze die von Schubring vermißte „rechte Einheit“, und zwar völlig unabhängig davon, ob diese Einheit „nur“ unbewußt erlebt oder etwa bewußt entdeckt wird.

Das Ende der Vision klingt an den Abschluß der Schubert-Episode an und faßt damit noch einmal die zunächst heterogen erscheinenden Elemente des Satzes zusammen; erst dann wird die „Reprise“ zu Ende geführt. Das Satzganze folgt also trotz seiner grundlegend anderen Form ähnlichen Prinzipien wie der Kopfsatz: So wie sich dort der Fugato-Abschnitt in plötzlich gezügeltem Tempo mitten in die Reprise geschoben hatte, so unterbricht hier der beschleunigte Puls des Deliriums die entrückte Erinnerung an das Hauptthema. In beiden Fällen wird die erwartete Form an anloger Stelle durchbrochen und die Abweichung agogisch betont – und beide Stellen zogen von Anfang an Kritik auf sich. Daß Brahms in der Neukomposition auch diese beiden Steine des Anstoßes aus dem Weg geräumt hat, sollte uns freilich nicht zu der Annahme verleiten, sein Ziel sei der Widerruf aller jugendlichen Experimente gewesen. Der Hörer der IV. Symphonie und der späten Kammermusik- und Klavierwerke wird nie im Zweifel gelassen, daß Brahms in seinem Alter nichts an Kühnheit eingebüßt hat. Daß Anspruch und Ästhetik des Spätwerkes mit dem romantischen Wagemut der ersten Werke in Konflikt geraten, macht aus Brahms noch lange keinen reaktionären Traditionalisten, wie das die neudeutsche (und „neufranzösische“) Musikkritik gerne darstellten.

Das Finale (Allegro molto agitato, h-moll, 3/4) ist von jener bestürzenden Eindringlichkeit und entwaffnenden Offenheit, wie sie wohl nur ein Jugendwerk haben kann. Das atemlos insistierende Hauptthema strandet dreimal an einer schicksalshaft verneinenden Geste, mit der es schließlich einen todesmutigen Kampf aufnimmt. Am Höhepunkt dieser Auseinandersetzung tritt verwegen ein Viertonmotiv auf, das in erbitterter Engführung das bis dahin stabile metrische Gefüge zertrümmert. Wie Brahms den barbarischen Ansturm dieses Motivs besänftigt und es zur zärtlichen Begleitung des nun eintretenden schwärmerischen Seitenthemas zähmt, gehört zu jener Art von Wundern, die einen das Schumannsche Wort vom „Zauberstab“ des jungen Komponisten begreifen lassen. (Das Motiv ist übrigens nichts anderes als der um einen Ton erweiterte Motivsplitter, der uns schon im vorigen Satz als ein Revenant aus dem ersten begegnet ist.)

Über das Seitenthema selbst, dem wie Goethes Mignon schon immer die anbetende Liebe des Publikums sicher war, wurde schon allzuviel gesprochen und geschrieben – und das bekommt der Liebe nicht immer gut. Nun ja, der Kern dieses berückenden Themas ist ein Zitat: Beethoven hat mit eben dieser Wendung (und mit seinem Textdichter Aaron Jeitteles) seiner Fernen Geliebten „Nimm´ sie hin denn, diese Lieder!“ zugerufen. Aber – und das wird in der Diskussion um den tieferen Sinn dieses Zitates gerne unterschlagen – Brahms´ Quelle ist nicht Beethoven, sondern Robert Schumann: dort ist dieses Motiv nämlich ein immer wiederkehrendes, verborgen-offenes Zeichen der Liebe zu Clara. Daß Brahms aber, wie man auch ohne spekulative Aufdringlichkeit glauben darf, seiner Zuneigung zu Clara ausgerechnet jene Tongestalt gibt, die sich Schumann von Beethoven erborgt hat, gibt dem Zitat einen entsagungsvollen Hintersinn, der der zupackenden  Neugier nur allzuleicht entgeht. Vor allem aber: Die Weiterführung des Themas, in der die einhaltgebietenden Wendung des Hauptthemas nun in verständnisinnig-tröstlichem Licht erscheint, läßt sich zwar bis Beethoven zurückverfolgen, hat aber dort nicht im entferntesten diese Bedeutungstiefe. Man könnte also auch auf dieses Zitat anwenden, was Brahms seinem Freunde Otto Dessoff entgegnete, als der eine ihn an Brahms erinnernde Stelle aus seinem (diesem gewidmeten) Streichquartett entfernen wollte:

„Lieber Freund!
Ich bitte Dich, mache keine Dummheiten. Eines der dümmsten Capitel der dummen Leute ist das von den Reminiszenzen. Die betreff. kleine Stelle bei mir ist, so vortrefflich auch alles Übrige sein mag, wirklich ganz und gar nichts. Bei Dir ist aber gerade die Stelle von einer allerliebsten, schönen und natürlichen Empfindung. Verdirb nichts, rühr nicht daran.“
(Johannes Brahms an Otto Dessoff, Pörtschach, 26. Juni 1878) 

In seinem eigenen Werk hat Brahms freilich sehr wohl daran gerührt – er hat 1889 aus dem Finale nur das Hauptthema übernommen (aber auch diesem die exaltiert atemlosen Achtelpausen genommen) und den ganzen übrigen Satz völlig neu komponiert. Daß er damit etwas verdorben hat, wird man schwerlich behaupten können: die neuen Teile sind von monumentaler Dichte und Stringenz. Außerdem (und das beweist noch einmal, daß die Neufassung nichts mit der Zurücknahme „fortschrittlicher“ Positionen zu tun hat) greift das neue Finale Lösungen auf, die man als konsequente Weiterentwicklungen der Experimente im ersten und dritten Satz der Frühfassung begreifen kann – in die unmittelbar an die Exposition anschließende Reprise ist der „Durchführungsrest“ (der einen Nachhall der bestandenen Kämpfe bewahrt) als Enklave integriert. Daß aber das neue Finale, in all seiner meisterlichen Ökonomie und Kraft, die beglückenden und bestürzenden Verwirrungen des Jugendwerkes nicht ersetzen kann, hat wohl niemand besser gewußt als der Vater dieses so ungleichen Geschwisterpaares; und der soll in diesem Bruderzwist auch das letzte Wort haben  – das hoffentlich niemand so ernst nimmt wie seine Noten:

„Wegen des verneuerten Trios muß ich noch ausdrücklich sagen, daß das alte zwar schlecht ist, ich aber nicht behaupte, das neue sei gut! Was Sie mit dem alten anfangen, ob Sie es einschmelzen oder auch neu drucken, ist mir, im Ernst, ganz einerlei.“

(Johannes Brahms an Fritz Simrock, 13. Dezember 1890)

Die Mason-Thomas Soirées of Chamber Music und die Frage der Uraufführung

Bis 1991 galt die Aufführung durch William Mason, Theodore Thomas und Carl Bergmann in der New Yorker Dodworth´s Hall am 27. November 1855 als die Uraufführung des Trios. Sie bleibt in jedem Falle ein verblüffendes Zeugnis für das frühe Interesse, das Brahms in Amerika gefunden hat – und sie versammelte drei bedeutende Interpreten, die für die Entwicklung des amerikanischen Musiklebens von größter Bedeutung sind. Der aus einer weitverzweigten Bostoner Musikerfamilie stammende Pianist und Komponist William Mason (1829-1908) hatte ab 1849 unter anderem bei Moscheles in Leipzig und bei Liszt in Weimar studiert (wo er im Juni 1853 auch Brahms kennenlernte), bevor er sich 1855 in New York niederließ. In diesem Jahr dirigierte Carl Bergmann (1821-1876) das erste Mal die Philharmonic Society of New York (dem 1842 gegründeten Vorläufer der New Yorker Philharmoniker), deren wichtigster (und ab 1866 alleiniger) Dirigent er bis zu seinem Tode bleiben sollte. Der gebürtige Sachse Bergmann war schon 1850 nach Amerika gekommen und hatte sich als Dirigent und Cellist in den Musikzentren der Ostküste bestens bewährt. In ihm hatte Mason den richtigen Partner für sein ehrgeiziges Projekt einer ständigen Kammermusikserie in New York gefunden:

„I asked Carl Bergmann, who was the most noted orchestral conductor of those days, and thus well acquainted with musicians, to get together a good string quartet. This he accomplished in a day or two, and made me acquainted with Theodore Thomas, first violin; Joseph Mosenthal, second violin; and George Matzka, viola, Bergmann himself being the violoncellist. We began rehearsing, and our first concert, or rather matinée, took place in Dodworth´s Hall, opposite Eleventh Street, and one door above Grace Church in Broadway.“

Es ist nicht erstaunlich, daß Bergmann sich für einen Landsmann als Primgeiger entschied: Der knapp zwanzigjährige Theodor[e] Thomas (1835-1905), der Sohn eines Stadtpfeifers aus dem ostfriesischen Esens (wie sich die Bilder gleichen!), war schon 1845 nach Amerika gekommen und hatte – ganz wie der junge Brahms – erste praktische Erfahrungen als Musiker in Tanzlokalen und Gaststätten gesammelt, bevor er 1854 in die Philharmonic Society aufgenommen wurde, deren Chefdirigent er nach Bergmanns Tod werden sollte. (Auch die beiden an der Uraufführung des Brahmstrios nicht beteiligten Ensemblemitglieder waren bemerkenswerte und vielseitige Musiker: Joseph Mosenthal (1834-1896) stammte aus Kassel und war durchaus nicht nur als Sekundgeiger, sondern ebenso als Pianist, Organist und Chordirigent erfolgreich tätig; und der Bratschist George Matzka hatte ebenfalls weiterreichende Ambitionen: 1876 sollte er z. B. die New Yorker Erstaufführung von Čajkovskijs „Romeo und Julia“ dirigieren.)

Unter dem Namen „Mason-Thomas Soirées of Chamber Music“, der bald die ursprüngliche Bezeichnung „Mason & Bergmann´s Classical Matinées“ ersetzte, wurde der mit der amerikanischen Erstaufführung des Opus 8 inaugurierte Konzertzyklus ein wichtiger Bestandteil des New Yorker Konzertlebens; vierzehn Saisonen hindurch (1855-1869) wurde hier das New Yorker Publikum mit vielen der wichtigsten kammermusikalischen Neuerscheinungen aus Europa bekannt gemacht.

So verdienstvoll dieses Unternehmen auch war – das Verdienst der öffentlichen Uraufführung von Brahms´ Opus 8 gebührt, wie Michael Struck schon 1991 nachgewiesen hat, einem anderen Ensemble: Die Herren Louis Haupt, Eduard August Braun und Wilhelm Klahr veranstalteten im Herbst 1855 im Danziger Gewerbehaus einen Zyklus von vier Trio-Soiréen, in deren erster das Brahmssche Opus auf dem Programm stand.

Erste dokumentierte Aufführungen:

Datum
Ort
Saal
Klavier
Violine
Violoncello
Beleg, Kritik
1854-12-13 Berlin Wohnung Kisting Schaeffer, Julius Joachim, Joseph (?) ? Brief Joseph Joachim an Brahms, 13.12.1854
1854-12-17 Hamburg Brahms, Johannes ? ? BW BR-SMc 16.12.1854
1855-10-13 Danzig Gewerbehaussaal (Heilig-Geist-Gasse 82, heute Haupt, Louis Braun, Eduard August Klahr, Friedrich Wilhelm
1855-11-27 New York Dodsworth´s Hall Mason, William Thomas, Theodor Bergmann, Carl Dwight´s Journal of Music, 1.12.1855, p. 68
1855-12-18 Breslau Mächtig, Carl Seyfriz, Max ?
1856-01-xx Berlin Radecke, Robert Grünwald, Adolph? ?
1856-01-20 Kiel Harmonie-Saal Brahms, Johannes Böie, John Grädener, Carl G. P.
1857-xx-xx Detmold Schloß Brahms, Johannes Bargheer, Carl Schmidt, Julius „mehrmal“ (Tagebuch der Fürstin Elisabeth)
1876-12-14 Wien Musikverein, Kleiner Saal Brahms, Johannes Hellmesberger, Joseph sen. Hummer, Reinhold Wiener EA
1882-12-05 Wien Wohnung Dr. Emil Franz (Kantgasse 3) Brahms, Johannes Hellmesberger, Joseph sen. ?

Bibliographie (chronologisch):

Herttrich, Ernst (1942-): Johannes Brahms – Klaviertrio H-Dur Opus 8, Frühfassung und Spätfassung. Ein analytischer Vergleich. In: Bente, Martin: Musik – Edition – Interpretation. Gedenkschrift für Günter Henle. München : G. Henle Verlag, 1980. (pp. 218-236)

Zaunschirm, Franz: Der frühe und der späte Brahms. Eine Fallstudie anhand der autographen Korrekturen und gedruckten Fassungen zum Trio Nr. 1 für Klavier, Violine und Violoncello opus 8- Hamburg : Verlag der Musikalienhandlung Karl Dieter Wagner, 1988.

Struck, Michael: Zwischen Alter und Neuer Welt: Unbekannte Dokumente zur Uraufführung und frühen Rezeption des Klaviertrios op. 8 von Johannes Brahms in der Erstfassung. In: Hortschnansky, Klaus: Traditionen – Neuansätze. Für Anna Amalie Abert. Tutzing : Hans Schneider, 1997. (pp. 663-676)

Kube, Michael: Brahms´ Klaviertrio H-Dur op. 8 (1854) und sein gattungsgeschichtlicher Kontext. In: Internationaler Brahms-Kongress Gmunden 1997, Kongressbericht. (pp. 31-57)

Baldassarre, Antonio: Johannes Brahms im Bann von Johannes Kreisler. Ein Beitrag zur Schaffensästhetik des jungen Brahms, dargestellt am Klaviertrio H-Dur op. 8. In: Musik denken. Ernst Lichtenhahn zur Emeritierung. 16 beiträge seiner Schülerinnen und Schüler. Bern : Peter Lang, 2000 (pp. 123-153)

Scholz, Gottfried:  Zu Johannes Brahms´ Klaviertrio in H-Dur op. 8. In: Gruber, Gernot: Die Kammermusik von Johannes Brahms. Tradition und Innovation. Bericht über die Tagung in Wien 1997. Laaber : Laaber-Verlag, 2001. (pp. 139-148)

Heene, Marie-Christin: Die Kammermusik von Johannes Brahms. Das Klaviertrio Nr. 1 op. 8 – Ein Werk mit zwei Geschichten. Studienarbeit (Hausarbeit im Fach Historische Musikwissenschaft am Institut für Musikwissenschaft der Universität Leipzig). München und Ravensburg : Grin Verlag, 2008 (20 pp.)

Michalak, Jerzy Marian: Der Pianist Louis Haupt im Danziger Musikleben 1843-1887. In: Aufsätze zur Musik- und Theatergeschichte Danzigs vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Berlin : Frank & Timme, 2012 (pp. 211-230)

© Claus-Christian Schuster

Mendelssohn – Trio op. 66

Felix Mendelssohn
* Hamburg, 3. Februar 1809
† Leipzig, 4. November 1847

Trio für Pianoforte, Violine und Violoncell Nr. 2, c-moll, op. 66

komponiert: Frankfurt am Main, Februar bis April 1845

Widmung: Louis Spohr (1784-1859)

Uraufführung: Leipzig, Gewandhaus, 20. Dezember 1845 (Zweite musikalische Abendunterhaltung)
Felix Mendelssohn, Klavier
Ferdinand David (1810-1873), Violine
Carl Wittmann (1810-1860), Violoncello

Erstausgabe: Breitkopf & Härtel, Leipzig, Februar 1846

Seit Mendelssohn sich 1841 von  den „brillantesten und vorteilhaftesten Anerbietungen“ des neuen preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. nach Berlin hatte locken lassen, sah er sich vor Aufgaben und Belastungen gestellt, die wohl auch eine robustere Gesundheit als die seine unterminiert hätten. Im ehrgeizigen Bemühen, seinen in München regierenden Schwager Ludwig I. zu übertrumpfen und Berlin zu der Kulturmetropole des deutschsprachigen Raumes zu machen, hatte Friedrich Wilhelm IV. mit recht diffusen  Versprechungen eine ganze Pleiade großer Namen nach Berlin rufen lassen; um die Durchsetzung seiner hochfliegenden und unausgegorenen Projekte konnte und wollte sich der Monarch freilich nicht kümmern. Schon wenige Wochen nach der Annahme des königlichen Angebots schreibt Mendelssohn ernüchtert über seine neue Wirkungsstätte nach London:

„Dort gehört ein Mann hin, der die Anfangsgründe erst wieder erweckt; der 10 – 15 Jahre lang wieder belebt, was 20 bis 25 Jahre lang totgeschlagen worden ist, systematisch; dann kann sich ein Musiker wieder dort behaglich fühlen, ohne jene Vorarbeit nicht. Die zu unternehmen habe ich weder Lust noch Beruf. Hätte ich das so vorher gewusst, wie ich es in der 3. Woche des vergangenen Monats mit eigenen Augen gesehen habe, so würde ich von vornherein nicht 2 Briefe gewechselt, sondern alles rund von der Hand abgewiesen haben. Da das nicht geschehen war, so ist die kürzeste Zeit, mit der ich abkommen kann, ein Jahr…“

(an Karl Klingemann, 16. Juni 1844)

Nachdem diese „kürzeste Zeit“ verstrichen war, unternahm Mendelssohn auch wirklich einen ernsthaften Versuch, sich von Berlin zu lösen. Doch der König beantwortete die Kündigung Mendelssohns mit einem Dekret, durch das er ihn zum Preußischen Generalmusikdirektor ernannte. Zwar waren von nun an seine Aufgabenbereiche ein wenig genauer umrissen, was Mendelssohn vor allem den Freiraum gab, den er für seine Leipziger Pläne – den Aufbau eines Konservatoriums – brauchte; aber seine Berliner Stellung blieb trotzdem eine ungeliebte Bürde. Erst im Oktober 1844 gelang es ihm, sich aus dieser mißlichen Lage zu befreien. Für die endliche Durchführung dieses diplomatisch schweren Schrittes war wohl auch die Erfahrung ausschlaggebend, die Mendelssohn im Sommer 1844 gemacht hatte: In zwei unbeschwerten Ferienmonaten, die er nach der Rückkehr von seiner siebenten Englandreise in Bad Soden im Taunus verbrachte, erlebte er nach langer Zeit wieder schöpferisches und familiäres Glück. „Das Sodener Leben, Essen und Schlafen ohne Frack, ohne Klavier, ohne Visitenkarten, ohne Wagen und Pferde, aber auf Eseln, mit Feldblumen, mit Notenpapier und Zeichenbuch, mit Cécile und den Kindern,“  im vertrauten Umgang mit den Dichterfreunden Nikolaus Lenau, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben und Ferdinand Freiligrath – dieses andere Leben bescherte ihm und uns das herrliche Violinkonzert, das Ferdinand David am 13. März 1845 im Leipziger Gewandhaus uraufführen konnte.

Unmittelbar nach diesen glücklichen Sommermonaten hatte Mendelssohn seine Familie in Frankfurt zurückgelassen und war allein nach Berlin gereist, um sich „auf möglichst freundliche Weise aus den dortigen Verhältnissen herauszuwickeln.“  Die dort erreichte weitgehende Entbindung von seinen Verpflichtungen empfand er als großes Glück: „…seitdem ich diese Kabinets-Ordre in Händen habe, ist mir wahrlich, als könnte ich seit langer Zeit zum erstenmal wieder frei und mit gutem Gewissen atmen.“
(an Karl Klingemann, 5. November 1844)

Als Mendelssohn dann Anfang Dezember wieder in Frankfurt eintraf, fand er seinen gerade eineinhalbjährigen Sohn Felix lebensgefährlich erkrankt. Wie durch ein Wunder besserte sich nach einigen bangen Tagen der Zustand, „und bleibt es so, so können wir wieder frei atmen, so erhält uns Gott das Kind, oder vielmehr er schenkt es uns von Neuem! Du kannst Dir denken, welch ein Wiedersehn, welch traurige Tage das waren! Denk Dir also, wie wir Gott jetzt für so viele heitre tröstliche Stunden danken!“
(an Karl Klingemann, 17. Dezember 1844)

Aber auch Mendelssohn selbst war nach den übermenschlichen Anstrengungen der zwischen Berlin, Leipzig und London geteilten Jahre geschwächt. Am 25. Jänner 1845 heißt es am Schluß eines Briefes an den Verleger Julius Kistner: „Ich muß diesen Brief diktieren, weil ich seit 14 Tagen bettlägerig wurde, und jetzt, obwohl ganz in der Besserung, doch noch nicht im Stande bin, die Feder selbst zu führen.“  Drei Wochen später, kurz nach seinem sechsunddreißigsten Geburtstag, berichtet er Klingemann, daß „die Erkältung oder der Katarrh oder wie man es sonst nennt, doch noch nicht gewichen“ sei. „Ich habe wieder mit Husten und Krächzen eine Woche das Zimmer hüten müssen, und sitze noch darin, und Marie und Paul [die beiden ältesten Kinder, damals sieben und fünf Jahre alt] krächzen ein Trio mit mir…“

Wenn aus diesen Zeilen schon wieder ungebrochener Lebensmut und Optimismus klingt, so hat das wohl vor allem damit zu tun, daß Mendelssohn in der Zwischenzeit doch schon wieder im Stande ist, „die Feder selbst zu führen“und daß das Husteterzett mit den Kindern nicht das einzige Trio ist, von dem er seinem Freund berichten kann. Mit der allmählichen Genesung der Familie und dem Nahen des Frühlings wächst das C-moll-Trio heran, das sich über weite Strecken wie eine tönende Chronik dieser Tage anhört. Ganz sicher vermeinen wir die Bilder dieses Briefes an die Schwester in unserem Trio wiederzufinden:

„Wenn Ihr aber keinen Eisgang in Florenz habt, so müßt Ihr uns beneiden, statt umgekehrt; denn das ist ein herrliches Schauspiel, wie das Wesen hier unter der Brücke sprudelt, und springt und stürzt, und die großen Blöcke und Scheiben durcheinanderwirft, und sagt: packt euch, mit euch ist es für´s Erste vorbei! ´s feiert auch seinen Frühlingstag und zeigt, daß es unter der Eisdecke noch Kraft und Jugend behalten hat, und läuft noch einmal so schnell und springt noch einmal so hoch als in den vernünftigen Tagen anderer Jahreszeiten…“

(an Rebecka Dirichlet, 25. März 1845)

Es sind die ins Kämpferische und Hoffnungsvolle gekehrten Bilder der Winterreise, in der ja die von Mendelssohn für sein neues Trio gewählte Grundtonart c-moll auch schon eine wichtige Rolle spielt (Erstarrung, Rast, Der greise Kopf, Die Krähe).

Mitte April ist die Komposition abgeschlossen. An Fanny schreibt Felix am 20. April:„Das Trio ist ein bißchen eklig zu spielen, aber eigentlich schwer ist es doch nicht. Suchet, so werdet Ihr finden!“  Zur Probe aufs Exempel wird Ferdinand David, der gerade auf der Rückreise vom Düsseldorfer Musikfest durch Frankfurt kommt, das neue Opus vorgesetzt. Und dem Jugendfreund Eduard Devrient schreibt Mendelssohn, ganz im Nachklang der Gefühle und Gedanken, denen das Trio sein Leben verdankt:

„…Über die pelzigen Kastanienknospen habe ich bereits wieder sehr viel nachgedacht, aber ich verstehe es doch noch immer nicht ganz: wie so ein Baum wächst. Die Naturgeschichte erklärt es, ebenso gut wie der Generalbaß die Musik. In letzterer bin ich fleißig und habe zum ersten Mal seit langer Zeit das Glück, recht ruhig leben und arbeiten zu können – was das für ein Glück ist, lerne ich jetzt erst recht einsehen; wenn man nicht bloß eine freie Stunde oder dann und wann einen freien Tag, sondern eine ganze Reihe freier Tage zur Arbeit vor sich hat, dann kommt erst das rechte Vergnügen (an der Arbeit sowohl wie an den Tagen) und ich kann an meiner Musik und an Frau und Kindern, und an mir erst dann so rechte Freude haben, wenn die Freude ohne Hetze ist, wie hier jetzt.

So habe ich denn mancherlei Neues gemacht, zuletzt ein Trio für Piano mit Violine und Baß…“

(26. April 1845)

Die in der Chronik dieser Monate anklingenden Leitmotive – Bedrängnis und Rettung, das Erwachen und Leben der Natur, der Kampf der Jahreszeiten, Gebet und Dank – durchziehen als tönend überhöhte Wirklichkeit alle Sätze dieses Meisterwerks.

Es sollte Mendelssohns letztes Kammermusikwerk mit Klavier bleiben – und wer sich von der schulmeisterlichen Besserwisserei der beamteten Musikwissenschaft nicht beeindrucken läßt, wird es gerne als die würdige Krönung dieser Gattung im Mendelssohnschen Œuvre anerkennen. Jener Typ von Analytiker freilich, der meint, seine Einsicht in den Urgrund der Dinge am besten dadurch erweisen zu können, daß er bald gönnerhaft, bald streng Zensuren verteilt, freut sich, an unserem C-moll-Trio einen besonders verlockenden Reibebaum gefunden zu haben. Die Mendelssohnsche Aufforderung: „Suchet, so werdet Ihr finden!“  wird hier auf eine ganz eigene Weise verstanden. Vor allem das Finale hat es diesen strengen Richtern angetan: Da ist bald von einem „formalen Desaster“ (Frieder Reininghaus), bald von „Misere“ und „Fehldisposition“ (Mathias Thomas) die Rede, das Hauptthema sei vollends „abgenutzt“ und überhaupt nicht „finalkräftig“ (derselbe). Auch bei den anderen Sätzen wird nicht mit Kritik gespart, wobei je nach Geschmack und Laune des Schreibers einmal der eine, dann der andere Satz unter dem Niveau der übrigen Sätze sein soll. Ohne sich mit solchen Details aufzuhalten, urteilt der Liverpooler Emeritus Basil Smallman (in einer wohlmeinend sollenden Besprechung der Klaviertrios) lieber gleich pauschal: „Mendelssohn conceived his structures more as fixed patterns than as living forms.“

Die Liste dieser intellektuell verbrämten Zumutungen ließe sich noch lange fortsetzen; doch Beachtung verdient dieses Phänomen eigentlich nur als schmerzlicher Beleg dafür, daß die seit Wagner gepflegte Diffamierung Mendelssohns auch dort Spuren hinterlassen hat, wo man es eigentlich nicht vermuten würde. (Wie verständlich der Wunsch Wagners war, die Spuren zu einer seiner wichtigsten Anleihequellen zu verwischen, soll hier gar nicht erst erörtert werden.)

Mit der Widmung seines zweiten Klaviertrios an Louis Spohr erfüllte Mendelssohn eine Dankesschuld: Spohr, um genau ein Vierteljahrhundert älter als Mendelssohn, hatte diesem 1843 sein einziges bedeutendes Klavierwerk, die Klaviersonate As-Dur op. 125, zugeeignet. Mendelssohn hatte damals geantwortet:

„Wüßte ich´s Ihnen nur ordentlich auszudrücken, wie tief ich´s empfinde, was das sagen will, eins Ihrer Werke auf diese Weise noch ganz besonders sein eigen nennen zu dürfen, und wie mich nicht allein die Auszeichnung sondern eben so sehr Ihr freundliches Erinnern, Ihr fortgesetztes Wohlwollen dabei so ganz von Herzen freut. Haben Sie tausend Dank dafür, lieber Herr Kapellmeister, und was ich von gutem Clavierspielen zusammen bringen kann, um mit meinen jetzt sehr widerhaarigen Fingern die Sonate recht schön herauszubringen, das soll redlich geschehen. Aber das ist wieder nur eine Freude, die ich mir selbst mache, und ich möchte so gern Ihnen eine dafür erwidern!“

Daß Mendelssohns Revanche dann so königlich ausfiel, entsprach ganz seinem Naturell. Spohr hatte noch die Freude, Ende Juni 1846, einige Monate nach der Drucklegung, das ihm gewidmete Werk zusammen mit seinem eigenen ersten Klaviertrio (op. 119) mit Mendelssohn in Leipzig spielen zu können  – unter den Zuhörern war damals auch Richard Wagner. Als Mendelssohn anderntags die Spohrs zur Bahn begleitete, war er, als die anderen Begleiter schon Abschied genommen hatten, „noch der Letzte, der bei anfangs langsamem Fortschreiten des Zuges noch eine ganze Strecke neben dem Wagen herlief, bis es nicht mehr anging, und seine freundlich glänzenden Augen waren der letzte Eindruck, den die Reisenden von Leipzig mitnahmen…“
(Louis Spohr, Selbstbiographie)

Der erste Satz (Allegro energico e con fuoco) gehört zu den vollkommensten kammermusikalischen Leistungen der deutschen Romantik: Wie hier, mit Instinkt und Inspiration, aber ebenso sehr mit handwerklicher Meisterschaft und durchdachter Disposition,  ein episch vielschichtiges Bild entworfen und ausgeführt wird, das trotz allen Detailreichtums konzis und einheitlich wirkt, kann nur bewundert werden. Ein etwas genauerer Blick auf die Exposition dieses Satzes mag zeigen, wie Mendelssohn diesen Eindruck organischer Einheitlichkeit erzielt. Über einen nur trügerische Sicherheit bietenden Orgelpunkt hastet das rastlos bewegte Hauptthema, das mit seinen flüchtigen Akkordzerlegungen und Skalenfragmenten auf den ersten Blick nur wie die vage Ahnung eines Kommenden wirkt; und doch sind hier schon alle motivischen Hauptelemente nicht nur des ganzen Satzes, sondern des ganzen Werkverlaufs in nuce gegenwärtig. Im melodischen Ductus und der metrischen Gestalt hat dieser Grundgedanke eine mehr als nur generische Verwandtschaft mit der (gleichzeitig mit dem Beginn der Arbeit an Mendelssohns erstem Klaviertrio im März 1839 in Rekordzeit niedergeschriebenen) Ouverture op. 95, die mit dem Kopfsatz unseres Trios auch die Tonart gemeinsam hat. (Wir wissen, daß sich Mendelssohn bei diesem für eine Aufführung von Victor Hugos „Ruy Blas“ komponierten Werk nur von seiner eigenen Phantasie leiten ließ – Hugos Stück fand er „so abscheulich und unter jeder Würde, wie man´s gar nicht glauben kann“…)

Die weitere Entfaltung dieser Hauptidee setzt gleich mit dem Ende der Eröffnungsperiode ein, in deren erweitertem Nachsatz sich der Orgelpunkt schon in eine fallende Baßlinie auflöst. Das Hauptthema wird jetzt gleichzeitig zu einer nervösen Begleitfigur zerstäubt (Verkleinerung im Klavier) und zu einer emblematisch punktierten Melodie gedehnt (paraphrasierende Vergrößerung in den Streichern – dieser melodische Keim läßt sich übrigens auf das posthum veröffentlichte Lied ohne Worte e-moll op. 102 Nr. 1 (MWV U 162) zurückverfolgen).  Das so etablierte Modell strandet aber sofort an einer auffallenden Kette von vier unmittelbar aufeinander folgenden Trugschlüssen; die sich daran schließende Wiederaufnahme der ursprünglichen Themengestalt treibt unaufhaltsam auf eine Stromschnelle zu, in der am Ende eines Abspaltungsprozesses das unmerklich veränderte Kopfmotiv mit mitreißendem Ungestüm in das sieghafte Seitenthema mündet. Vor der zwingenden Naturhaftigkeit dieses Vorganges wirkt das Wort „Seitenthema“ freilich recht fehl am Platz: Es ist kein neues Thema – vielmehr eine organische Metamorphose des Hauptsatzes, in dessen Spitzentönen ihre melodischen Umrisse schon verborgen lagen; und Mendelssohn erreicht, indem er die begleitende Klaviertextur beibehält, eine ungebrochene Kontinuität zwischen den beiden Formteilen. Diesem in Es-Dur stehenden Seitensatz, der bei seiner Fortspinnung zunehmend nachdenkliche Züge bekommt, folgt eine Rückkehr zu einer kanonischen Variante der Ausgangsgestalt in der Molldominant (g-moll) und eine erweiterte Wiederholung des allerersten Entwicklungsabschnittes, der – unter beharrlicher Beibehaltung der Molldominante – zu einer recht deutlich an den Kopfsatz des G-moll-Klavierkonzertes (op. 25) anklingenden Schlußformel führt; hier endlich wird der im ersten Verarbeitungsschritt zutage getretene punktierte Rhythmus zum unumstrittenen Hauptprotagonisten. Der bis hierher eroberte Tonraum (c-moll – Es-Dur – g-moll) demonstriert die Stärke der Haupttonart, denn die Nebentonarten können als auskomponierte Tonstufen des C-moll-Dreiklanges gedeutet werden; außerdem antizipiert diese Disposition aber im Kleinen die tonale Dramaturgie des ganzen Werkes (2. Satz – Es-Dur, 3. Satz – g-moll).

Wie wir gesehen haben, bedient sich die Exposition einer ganzen Reihe von Durchführungstechniken. Die Aufgabe der nun folgenden eigentlichen Durchführung ist daher nicht, die Möglichkeiten des motivischen Ausgangsmaterials dynamisch zu entwickeln, sondern vielmehr das schon entfaltete Material wieder zu bündeln, um den Weg zur Reprise freizumachen. Aus dem fragend und klagend wiederholten Nachsatz des „Seitenthemas“, mit dem die Durchführung eröffnet wird, entspinnt sich ein ergreifender Dialog zwischen den Streichern, in dessen Verlauf die Verwandtschaft zwischen „Haupt-“ und „Seitenthema“ gleichsam Generation für Generation zurückverfolgt und offengelegt wird, bis am Ende die wiedergefundene Urgestalt des Hauptsatzes den Eintritt der Reprise markiert, über dem das Klavier ein letztes Bruchstück des Seitenthemas wehmütig festzuhalten versucht. Dieser Moment übt – ganz ähnlich wie die analoge Stelle in der Endfassung des ersten Klaviertrios – in seiner kunstvollen Schlichtheit einen ganz besonderen Zauber aus; und als Folge dieser Verzauberung erscheint der weitere Reprisenverlauf auch merkwürdig verwandelt. Der Abschnitt vor dem Seitensatz ist gegenüber der Exposition um etwa die Hälfte gekürzt, die Bewegung bricht sich immer wieder an kleinräumigen Betonungen. Besonders eklatant ist der Unterschied zur Exposition beim Übergang zum Seitensatz: wo dort sich ein mächtiger Strom ins Meer ergoß, eröffnet sich hier ein unerwarteter Durchblick in die Ferne, aus der man das Cello das jetzt schon vertraute Thema intonieren hört. Von da an überwiegen wieder die Analogien zwischen Exposition und Reprise.  Erst die ausgedehnte Coda erweitert das Bild um eine ganz neue und unvergeßliche Perspektive. Die Motorik des Hauptmotivs hält plötzlich lauschend inne, und der ferne pochende Leitrhythmus bleibt alleine hörbar. Durch die verfremdete Landschaft entfernter Tonarten gelangen wir zum Höhepunkt des Satzes: Bei der letzten Wiederkehr des Hauptthemas erklingen Vergrößerung und Originalgestalt gleichzeitig – ein schon zu Beginn des Werkes angedeuteter, aber nicht ausgeführter kontrapunktischer Kunstgriff, der bei Mendelssohn eine Rarität ist. Ein letztes Mal erklingt noch die Frage des in Moll gefangenen Seitenthemas, dann endet der Satz mit einer wildentschlossenen Note trotzigen Mutes.

Mendelssohn zog es vor, einem Satz von so außergewöhnlicher Konzentration und nachhaltiger Wirkung bescheidener dimensionierte und leichter gearbeitete Mittelsätze folgen zu lassen, und die Lösung der im Kopfsatz aufgeworfenen Fragen für das Finale aufzusparen. Daß ihm das gelang, ohne die Stringenz des Ablaufs zu gefährden, beweist seine souveräne Meisterschaft.

Durch die Schaffung tonaler und formaler Analogien zwischen den beiden Mittelsätzen wird der Gefahr des Proportionsverlustes entgegengewirkt; trotz ihrer großen charakterlichen Gegensätzlichkeit stützen und stärken die Sätze einander und entgehen so gemeinsam der Verharmlosung durch die mächtigeren Nachbarn. Beide Sätze sind dreiteilig und tonal nach dem Prinzip des Variantenwechsels (Es-Dur – es-moll – Es-Dur im zweiten, g-moll – G-Dur – g-moll im dritten Satz) gebaut.

Das Andante con moto (Es-Dur) im Neunachteltakt ist ein Lied ohne Worte wie es inniger und schlichter kaum zu denken ist – als Klavierstück würde es sicher einen Ehrenplatz unter den acht Heften der Mendelssohnschen Stücke dieses Titels einnehmen; und daher scheint es legitim sich der Worte zu erinnern, mit denen Schumann das Erscheinen der ersten dieser Kompositionen begrüßte:

„Wer hätte nicht einmal in der Dämmerungsstunde am Klavier gesessen (ein Flügel scheint zu hoftonmäßig) und mitten im Phantasieren sich unbewußt eine leise Melodie dazu gesungen? Kann man nun zufällig die Begleitung mit der Melodie in den Händen allein verbinden, und ist man hauptsächlich ein Mendelssohn, so entstehen daraus die schönsten Lieder ohne Worte.“

Der Dur-Hauptteil hat das naive Parlando eines kindlichen Gebetes, während sich im Minore dunklere und flehentlichere Töne vernehmen lassen, die in der Coda des Maggiore dann zu einem unerwartet heftigen Ausbruch (as-moll) führen. (Die Verschränkung und teilweise Durchdringung der beiden Formteile in der Reprise stellt übrigens eine zusätzliche Parallele zwischen den beiden Mittelsätzen dar.)

Daß Mendelssohn in den Scherzi in seinem ureigensten Element ist, wurde schon allzu oft wiederholt. In diesem Satz (Scherzo. Molto allegro quasi presto, g-moll) kann man aber wirklich, wie ein Kritiker das getan hat, die perfekte „Synthese zwischen Feenzauber und Fugentechnik“ sehen – vorausgesetzt, man nimmt den Begriff „Fugentechnik“ nicht zu wörtlich; denn eigentlich begnügt sich Mendelssohn mit angedeuteten Imitationen, vornehmlich zwischen den Streichern. Der fast schon zu einem Markenzeichen des Komponisten gewordene Topos des Feen- oder Elfenreigens wird von einem Trio alla zingarese (das sicher die zustimmende Anerkennung der Kollegen Haydn und Brahms findet) unterbrochen, ohne daß der Fluß des Satzes dadurch auch nur im geringsten gestört würde. Die Leichtigkeit, mit der Mendelssohn zwischen den beiden Polen dieses Satzes vermittelt, beschert uns in der drastisch verkürzten Reprise dann noch ein besonderes Kunststück: Auch hier usurpiert das vorlaute Maggiore ein Territorium, das von Rechts wegen ganz dem Moll-Hauptteil zustünde – und trotzdem bleibt der nächtlichen Choreographie das eigentlich zu erwartende Chaos erspart.

Mit dem Finale (Allegro appassionato) kehren wir in den Fragenkreis des ersten Satzes zurück. Die ziemlich weitgehende Ähnlichkeit des Kopfmotivs mit dem Scherzo aus Brahms´ dritter Klaviersonate (f-moll, op. 5) wurde wiederholt konstatiert. Wahrscheinlich hätte Brahms diese Feststellung ebenso bärbeißig quittiert, wie den Hinweis auf die Verwandtschaft zwischen dem Incipit unseres Trios und dem Beginn des Finales seines (in der selben Tonart stehenden) Klavierquartetts op. 60. Allerdings ist es sehr leicht möglich, daß dieser doppelte Anklang doch nicht ganz von ungefähr kommt: die analogen Choral-Enklaven im Schlußsatz des Brahmsschen Quartetts und in unserem Finale könnten ein zusätzliches Indiz für eine besondere Wirkung sein, die Mendelssohns Trio auf den jungen Brahms ausgeübt haben mag. Wie auch immer: die oben kurz berührten Einwände der erlauchten Musikwissenschaft gegen diesen Satz gehen vor allem deswegen ins Leere, weil sie seine Abhängigkeit vom Kopfsatz nur ungenügend in Rechnung stellen. Die formale Eigenwilligkeit  des Satzes (durchführungslose Zweiteiligkeit mit Einschub eines Choralthemas mitten in die Reprise des Hauptthemas, nachhaltig betonte Wiederaufnahme dieses „regelwidrigen“ Einschubs in der ausgedehnten Coda) und die hermeneutischen Implikationen, die sie bedingen, sind losgelöst von der Ideen- und Motivwelt des ersten Satzes gar nicht zu verstehen. Der vieldiskutierte Choral steht in direkter Abhängigkeit vom „eigentlichen“ Seitenthema des Satzes, das selbst wiederum nichts anderes als eine sehr verwandelte, aber noch immer als solche erkennbare Wiedergeburt des Seitenthemas aus dem ersten Satz ist. Diese Querbeziehungen sind wohl viel aussagekräftiger als die genaue Zuordnung der Choralmelodie selbst. (Als Quellen für den Choral werden genannt: „Vor Deinen Thron tret´ ich hiemit“, „Herr Gott, Dich loben alle wir“ und „Ihr Knechte Gottes allzugleich“; am nächsten steht wohl Bachs auf einer Genfer Psalmenausgabe von 1551 basierenden Choralsatz „Herr Gott, Dich loben alle wir“, BWV 326. Gegenüber dieser Quelle verändert Mendelssohn das Metrum, tauscht Haupt- gegen Mittelstimmen und bringt einige melodische Modifikationen an.)

Der leidenschaftliche Trotz des Hauptthemas, das von seiner (partiellen) vergrößerten Umkehrung im Baß begleitet wird, strahlt einen kämpferischen Lebenswillen aus, zu dem die „Non confundar in aeternum“-Stimmung des Seitenthemas zwar in Spannung, aber nicht in Widerspruch steht. Daß sich Lebenswillen und Gottvertrauen im Lobgesang vereinen, ist bei einem tief religiösen Menschen wie Mendelssohn ganz sicher keine rhetorische Pose. Die Pose entsteht erst im Angesicht der Masse; aber das „Suchet, so werdet Ihr finden!“ Mendelssohns wendet sich nicht an eine anonyme Masse. Der innere Adel, der Mendelssohn für so unterschiedliche Temperamente wie Louis Spohr und Robert Schumann zur höchsten Autorität machte (Schumann: „Sein Lob galt mir immer das höchste – die höchste letzte Instanz war er.“) und der wohl auch der tiefere Grund für den pathologischen Mendelssohn-Komplex Richard Wagners ist, wurde von einer nachfolgenden Zeit als klassizistische oder historistische Glätte und Unverbindlichkeit gedeutet. Wer die Botschaft dieses Trios zu hören versteht, wird keinen Augenblick mehr daran zweifeln, daß Mendelssohn nicht einfach der Autor eines genialen Violinkonzertes und einer vielseitig verwendbaren Bühnenmusik ist, sondern zu den ganz Großen unserer Musik zählt.

© Claus-Christian Schuster

Mendelssohn – Quartett op.3

Felix Mendelssohn
* Hamburg, 3. Februar 1809
† Leipzig, 4. November 1847

Quartett für Klavier, Violine, Viola und Violoncello (Nr.4), h-moll, op.3

komponiert: Berlin, 1824 – 18.Jänner 1825

Widmung: Johann Wolfgang von Goethe

Uraufführung: Paris, März 1825
Felix Mendelssohn, Klavier
Pierre Baillot (1771-1842), Violine
N. Mial, Viola
Louis Norblin (1781-1854), Violoncello

Erstausgabe: Hofmeister, Leipzig, Dezember 1826

Mendelssohns viertes und letztes Klavierquartett ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: zum einen dokumentiert es – als Schlußstück der innerhalb weniger Jahre (1821-1825) entstandenen Werkreihe – beispielhaft die Rasanz und Zielstrebigkeit von Mendelssohns kompositorischer Entwicklung, andererseits ist es aber auch für sich genommen ein aufschlußreiches Denkmal der wahrscheinlich folgenreichsten Begegnung, die das Leben des Wunderkindes prägte: jener mit Johann Wolfgang von Goethe, dem das Quartett gewidmet ist. Das Werk des Fünfzehnjährigen steht dabei eher am Ende als am Anfang einer Entwicklung: In Textur und Anlage hat es wahrscheinlich mehr mit den Gattungsmustern aus dem XVIII. Jahrhundert als mit dem „romantischen“ Klavierquartett der unmittelbar folgenden Jahrzehnte gemeinsam.

Die öfter geäußerte Mutmaßung, die Bevorzugung dieses Genres in Mendelssohns erster Schaffensperiode habe mit der (im Vergleich zu Streichquartett und Klaviertrio) relativ schwachen Gattungstradition des Klavierquartetts zu tun, die dem jungen Komponisten die Belastung durch allzu viele große Vorbilder erspart habe, mag aus unserer zeitlichen Perspektive schlüssig erscheinen: Bevor man aber dieses Argument aufgreift, sollte man sich vergegenwärtigen, daß es – neben den drei bis heute lebendigen Meisterwerken, die Mendelssohn vorlagen (Mozart, KV 478 und KV 493, Beethoven, op.16) – eine sehr beachtliche Anzahl veröffentlichter und vielgespielter Klavierquartette damals hochgeschätzter Meister aus der Zeit unmittelbar vor der Entstehung unseres Werkes gibt, die, obwohl heute fast vergessen, die Richtigkeit dieser Perspektive recht fraglich erscheinen lassen. Auffällig viele dieser Werke entstammen dem Beethoven-Umfeld – und welche Bedeutung die Auseinandersetzung mit Beethoven und seinem Erbe für den jungen Mendelssohn hatte, zeigen ja auch seine bald nach den Klavierquartetten entstandenen ersten Streichquartette.

Für den in Berlin heranwachsenden Komponisten kommen in diesem Zusammenhang wohl vor allem die drei Klavierquartette (op. 4-6) des Hohenzollern-Prinzen Louis Ferdinand von Preußen (1772-1806) in Betracht. Daß Beethoven selbst sich auch schon als Fünfzehnjähriger an drei Klavierquartetten (WoO 36) versucht hatte, konnte Mendelssohn wohl nicht wissen; die beiden Klavierquartette des Beethoven-Schülers Ferdinand Ries (1784-1838) könnten ihm aber durchaus vertraut gewesen sein, ebenso das 1817 erschienene Werk des damals populären Conradin Kreutzer (1780-1849, nicht zu verwechseln mit dem Widmungsträger der Kreutzer-Sonate, dem französischen Geiger Rodolphe Kreutzer). Unter den anderen Werken, die so etwas wie eine „Klavierquartett-Tradition“ belegen, wäre natürlich noch Carl Maria von Webers Opus 8 (1809) zu erwähnen. Im selben Jahr veröffentlichte übrigens Václav Jan Tomasek (1774-1850), der etwa zur gleichen Zeit wie Mendelssohn zu Goethe in Kontakt treten sollte, sein einziges Klavierquartett. (Schumann wird ihm an Schuberts 50. Geburtstag in Prag begegnen und in ihm einen interessanten geistreichen Alten finden.)

Während man also schwerlich behaupten kann, Mendelssohn habe seine Erstlingssaat in einem Brachfeld ausgebracht, so fällt doch auf, daß sich die Diktion seiner vier Klavierquartette recht deutlich von der seiner älteren Zeitgenossen unterscheidet. Neben unvermeidlichen Spuren der Auseinandersetzung mit Mozart und Beethoven finden sich in diesen Werken nämlich ­– und zwar in zunehmendem Maße – vor allem Echos vorklassisch-barocken Musizierens. Aus diesem Blickwinkel könnte die ganze Werkreihe (und unser H-moll-Quartett als krönender Abschluß in ganz besonderer Weise) durchaus auch als frühes Beispiel einer „historistischen“ Kompositionshaltung gedeutet werden. Es ist gut möglich, daß Zelter, der als Leiter der Berliner Singakademie einer der Hauptexponenten eines erneuerten und vertieften Interesses an älterer Musik war, seinem Schüler einige Anregungen in dieser Richtung gegeben hat; ein Blick auf das Werk seiner anderen prominenten Schüler – Carl Loewe, Gustav Meyerbeer und Otto Nicolai – wird uns allerdings davor bewahren, diesem Einfluß allzuviel Gewicht beizumessen. Viel eher ließe sich mutmaßen, daß dieser – im übrigen für ein Frühwerk nicht ganz außergewöhnliche – „historistische“ Wesenszug ganz unmittelbar mit der Art der Beziehung des Komponisten zu Johann Wolfgang von Goethe, dem Widmungsträger des Opus 3, zusammenhängen könnte.

Schon Mendelssohns Vater war zu Goethe in eine wenn auch nur flüchtige Beziehung getreten: 1816 hatte er dem Dichter einen Brief Carl Friedrich Zelters (1758-1832) überbracht. Schon damals hatte Abraham Mendelssohn die Absicht gehabt, Goethe auch seine Kinder vorzustellen, wozu sich dann aber kein passender Zeitpunkt gefunden hatte. Erst fünf Jahre später – Carl Friedrich Zelter war in der Zwischenzeit der Musiklehrer der Kinder geworden – kam es zur ersten persönlichen Begegnung zwischen Felix Mendelssohn und Johann Wolfgang von Goethe. Zelter selbst kündigt seinem illustren Freund den Besuch an:

„Morgen früh reise ich mit meiner Doris und einem zwölfjährigen muntern Knaben, meinem Schüler, dem Sohn des Herrn Mendelssohn, ab nach Wittenberg um dem dortigen Feste beyzuwohnen. […] Meiner Doris und meinem besten Schüler will ich gerne Dein Angesicht zeigen, ehe ich von der Welt gehe, worin ich´s freylich so lange als möglich aushalten will.“

(Brief Zelters an Goethe vom 26. Oktober 1821)

Wenige Wochen zuvor hatte der „muntere Knabe“ seinem Lehrer ein erstes Klavierquartett, ein schließlich unvollendet (und bis in die jüngere Vergangenheit auch unveröffentlicht) gebliebenes Werk in d-moll, zur Korrektur vorgelegt.

Sechzehn Tage lang hielt sich Zelter mit seiner Tochter und seinem Lieblingsschüler in Weimar auf. Die bekannte Schilderung dieses ersten Zusammentreffens in Ludwig Rellstabs Lebenserinnerungen (Berlin 1861) ist zwar nicht aus dem unmittelbaren Erleben, sondern schon in voller Kenntnis der „geschichtlichen“ Dimension dieser Begegnung niedergeschrieben, vermittelt aber doch ein anschauliches und wohl in allen wesentlichen Punkten zutreffendes Bild. Noch lebendiger skizziert Felix selbst die Situation in einem Brief an seine Eltern:

 „Ich spiele hier viel mehr als zu Hause, unter vier Stunden selten, zuweilen sechs, ja acht Stunden. Alle Nachmittage macht Goethe das Streichersche Instrument mit den Worten auf: »Ich habe Dich heute noch gar nicht gehört, mache mir ein wenig Lärm vor.«; und dann pflegt er sich neben mich zu setzen.“

Angesichts der sich in diesen Tagen anbahnenden ungewöhnlichen Freundschaft verwundert es nicht, daß die Mendelssohns die allernächste Gelegenheit, Goethe wieder einen Besuch abzustatten, ergriffen. Diese bot sich schon im nächsten Jahr auf der Rückreise von einem Sommeraufenthalt in der Schweiz. Diesmal wurden auch die Schwestern Fanny und Rebecka Goethe vorgestellt. Felix spielte seinem großväterlichen Freund ein eigens zu diesem Anlaß innerhalb weniger Tage in Frankfurt komponiertes (zweites) Klavierquartett (c-moll, op.1) vor, das er dann dem Goethe-Verehrer Fürst Antoni Henryk Radziwill (1775-1833), dem Schwager des oben erwähnten Louis Ferdinand von Preußen, widmen sollte. (Radziwill, der neben seiner Tätigkeit als preußischer Statthalter in Posen unermüdlich an seinem opus summum, einer umfangreichen Bühnenmusik zu Goethes Faust arbeitete, wurde übrigens auch von Beethoven und Chopin mit Widmungen bedacht.) Auch Fannys Lieder auf Goethesche Texte finden das Gefallen des Dichters. Ihr Klavierquartett, an dem sie schon seit Mai arbeitet, wird aber erst etliche Wochen nach dem Besuch in Weimar fertig. – Lea Mendelssohn sagt Goethe zum Abschied: „Es ist ein himmlischer, kostbarer Knabe! Schicken Sie ihn mir recht bald wieder, daß ich mich an ihm erquicke.“

Ein halbes Jahr später kann Zelter seinem Freunde nach Weimar berichten:

„Mein Felix hat sein fünfzehntes Jahr angetreten.Er wächst unter meinen Augen. Sein erstaunliches Clavierspiel darf ich ganz als Nebenher ansehen.[…] Alles gewinnt Gediegenheit, kaum fehlt noch Stärke und Macht; alles kommt von Innen und das Äußerliche seiner Zeit berührt ihn nur äußerlich. Denke Dir meine Freude, wenn wir´s erleben, daß der Knabe lebt und erfüllt was seine Unschuld verspricht. Gesund ist er. Ein sehr schönes Quartett fürs Fortepiano wünsche ich daß es Deiner Großfürstin zugeeignet würde. […] Es ist ganz neu und noch besser als das was er in Weimar hat hören lassen.“

(Brief Zelters an Goethe, 11. März 1823)

 Die im März 1825 erschienene Ausgabe dieses (dritten) Klavierquartetts (f-moll, op.2) sollte dann freilich nicht die von Zelter gewünschte Widmung an die Großfürstin Maria Pavlovna tragen – Mendelssohn eignete dieses Werk seinem Lehrer selbst zu.

 

Schon einige Wochen vor der Veröffentlichung des F-moll-Quartetts, am 18. Jänner 1825, hatte Mendelssohn sein viertes und letztes Klavierquartett (h-moll, op.3) vollendet. Mit diesem jüngsten Werk im Gepäck machte er sich im März in Begleitung seines Vaters auf die Reise nach Paris. Abraham Mendelssohn maß dieser Unternehmung ganz besondere Bedeutung bei: vom Urteil Luigi Cherubinis (1760-1842), des gefeierten Direktors des Pariser Conservatoire, sollte es abhängen, ob Felix die Musik zu seinem Lebensberufe machen dürfe. Die Begegnung mit dem Maestro verlief nicht ganz reibungsfrei – der elegante und selbstsichere Junge mußte dem alternden Pädagogen verschwendungssüchtig und eitel erscheinen, während Felix in Cherubini nur mehr eine ehrwürdige Ruine sah. (Cherubinis Tochter, die Felix „göttlich hübsch“ fand, bot da schon einen anderen Anblick…) Doch diese wechselseitigen Vorbehalte konnten nichts am professionellen Urteil des Meisters ändern. Über das Zusammentreffen schreibt Felix seiner Mutter:

„[…] Nun endlich zu den Musikern selbst, soviel ich ihrer bis jetzt kenne. Vor allem Cherubini, den ich einigemal gesehen. Der ist vertrocknet und verraucht. Neulich hörte ich in der königlichen Capelle eine Messe von ihm, die war so lustig, wie er brummig ist, d. h. über alle Maaßen. Halévy versicherte, es gäbe Tage, wo gar nichts aus ihm raus zu kriegen wäre. Einen jungen Musiker, der ihm etwas vorgespielt, habe er gefragt, ob er vielleicht gut malen könne; einem anderen habe er gesagt, »vous ne ferez jamais rien«; wenn er selbst ihm etwas zeige, und Cherubini sage nichts und schnitte keine grimace, so müsse es ganz vortrefflich seyn. Er hat ihm nur ein einzigesmal, und zwar nachdem ihm Halévy seine Oper vorgespielt, gesagt: c´est bien. – Mais c´est trop long, il faut couper. Alle Leute, die ihn kennen, sind sehr verwundert, daß er, nachdem er mein h moll Quartett aufs allerschändlichste hat executiren hören, lächelnd auf mich zukam und mir zunickte. Dann sagte er zu den Andern: ce garçon est riche, il fera bien; il fait même déjà bien; mais il dépense trop de son argent, il met trop d´étoffe dans son habit. Alle behauptete, daß seie ganz unerhört, besonders als er nachher hinzusetzte: je lui parlerai alors il fera bien! Dann sagten sie, er hätte noch niemals mit jungen Musikern gesprochen. Auch wollte Halévy gar nicht glauben, daß Cherubini mir das gesagt habe. Kurz, ich behaupte, daß Cherubini der einzige Mensch ist, auf den Klingemanns Wort mit dem ausgebrannten Vulkan paßt. Er sprüht noch zuweilen, aber er ist ganz mit Asche und Steinen bedeckt.“

(Brief vom 6. April 1825)

 Wenn der junge Komponist sein Werk auch „aufs allerschändlichste executirt“ fand, so waren seine Partner bei dieser Aufführung, die als Premiere gelten darf, doch unter den angesehensten Pariser Musikern. (Der heute nur mehr als Autor didaktischer Werke bekannte Pierre Baillot darf neben Ignaz Schuppanzigh als einer der wichtigsten Pioniere des professionellen Quartettspiels gelten; Cherubini selbst hat in seinen letzten Lebensjahren für ihn sechs Streichquartette geschrieben.) Übrigens sollten die erfrischend offenen und unmittelbaren Urteile des jungen Parisbesuchers nicht auf die Goldwaage gelegt werden; so entlockt ihm etwa seine erste Bekanntschaft mit Mozarts Klarinettenquintett (KV 581, 1789) das Verdikt: „Es sind sehr schöne Sachen drin, aber die Jugendarbeit giebt sich in jeder Note […] zu erkennen.“

 Nach zwei Monaten in Paris, wo Mendelssohn neben Cherubini auch Rossini, Reicha, Onslow, Hummel und vielen anderen älteren Kollegen begegnete, machten sich Vater und Sohn auf die Heimreise, die sie über Frankfurt am Main wiederum nach Weimar führte. Hier präsentierte Felix am Abend des 20. Mai 1825 Goethe das ihm zugedachte Klavierquartett; der Weimarer Geiger und Komponist Carl Eberwein (1786-1868) und zwei anonym geblieben Musiker begleiteten ihn.

Dieser dritte Besuch war der kürzeste, und das Bedauern darüber klingt in Goethes Brief, den er am folgenden Tag an Zelter schickt, nach:

„[…] Herr Mendelssohn verweilte auf seiner Rückreise von Paris allzukurze Zeit; Felix produzierte sein neustes Quartett zum Erstaunen von jedermann; diese persönlich hör- und vernehmbare Dedikation hat mir sehr wohlgetan. Den Vater konnte nur flüchtig sprechen, weil eine große Gesellschaft und die Musik abhielt und zerstreute. Ich hätte so gern durch ihn etwas von Paris vernommen. Felix hat den Frauenzimmern von den dortigen musikalischen Verhältnissen einiges erzählt, was den Augenblick sehr charakterisiert. Grüße die ganze Familie und erhalte mein Andenken auch in diesem Kreise.“

 „Diese persönlich hör- und vernehmbare Dedikation“ – das ist gewiß mehr als eine wohlwollende und freundliche Floskel. Für Goethes Ohr, über das die Musikwissenschaft sehr abschätzig zu urteilen pflegt, muß im leidenschaftlichen Ernst und der innigen Begeisterung dieser jugendlichen Partitur etwas bewahrt gewesen sein, was ganz persönlich ihm galt, und der Dichter hat diese Botschaft sehr wohl vernommen. Nicht, daß diese Empfänglichkeit uns für Goethes Taubheit Beethoven und Schubert gegenüber entschädigte; aber vielleicht sollten wir versuchen, das Mendelssohnsche Quartett ein wenig mit Goethes Ohren zu hören. 

Wie Goethe seinem heranwachsenden Freund zuhörte, das hat er selbst am treffendsten unmittelbar nach Felix´ letztem Besuch geschildert:

„So eben, früh halb 10 Uhr, fährt bey klarstem Himmel, im schönsten Sonnenschein, der treffliche Felix, mit Ottilien, Ulriken und den Kindern, nachdem er vierzehn Tage bey uns vergnüglich zugebracht und alles mit seiner vollendet liebenswürdigen Kunst erbaut, nach Jena […]. Mir war seine Gegenwart besonders wohlthätig, da ich fand: mein Verhältniß zur Musik sey noch immer dasselbe; ich höre sie mit Vergnügen, Antheil und Nachdenken, liebe mir das Geschichtliche; denn wer versteht irgend eine Erscheinung, wenn er sich [nicht] von dem Gang des Herankommens penetrirt? Dazu war denn auch die Hauptsache daß Felix auch diesen Stufengang recht löblich einsieht, und glücklicherweise sein gutes Gedächtniß ihm Musterstücke aller Art nach Belieben vorführt. Von der Bachischen Epoche an, hat er mir wieder Haydn, Mozart und Gluck zum Leben gebracht; von den großen neuern Technikern hinreichende Begriffe gegeben, und endlich mich seine eigenen Productionen fühlen und über sie nachdenken machen.“

(Brief an Zelter, 3. Juni 1830)

Da dieser letzte Besuch nur in vertiefter Weise fortsetzte, was in den ersten drei Begegnungen begonnen worden war, wird man wohl auch die „archaischen“, „historisierenden“ Aspekte unseres H-moll-Quartetts als Teil dieses musikalischen Dialoges mit Goethe werten dürfen.

Schon zu Beginn des ersten Satzes (Allegro molto) beschwört die symbolträchtige, Schlüsselwerke evozierende Grundtonart  mit pochenden Baßoktaven den Geist des Thomaskantors. Trotzdem ist das Hauptthema selbst durchaus keine Stilkopie; und vor allem seine Behandlung ist reinster und unverwechselbarer Mendelssohn. Die emblematische Keimzelle – eine chromatische Umkreisung des Grundtones – wird zum allgegenwärtigen Bindeglied des Satzes. Das Seitenthema, das einer Mendelssohnschen Vorliebe entsprechend variativ aus dem Hauptthema abgeleitet ist und keinen dialektischen Konflikt mit diesem sucht, erscheint schon in der Fortspinnung des Nachsatzes. Da die innige Verschwisterung dieser beiden thematischen Erscheinungsformen ihre parallele Verwendung in der Durchführung problematisch erscheinen ließe, führt der Komponist ein eigenes Durchführungsmotiv ein, das nur den betonten Halbtonschritt mit dem Hauptthemenkopf gemeinsam hat. In Verbindung mit dem für den Durchführungsteil gewählten rascheren Tempo ermöglicht die Symbiose dieser beiden Elemente einen dramatisch beschleunigten und modulationsreichen Ablauf dieses entscheidenden Abschnittes. Die Reprise, die Mendelssohn während der Arbeit noch einschneidend kürzte, verebbt in eine Folge von zwei Orgelpunkten, an denen der motorische Impetus des Stückes zu brechen droht, bis die Wiederaufnahme des raschen Durchführungsmotivs den Satz mit einer energischen Coda beschließt. Die in vielen späteren Werken des Meisters gepflegte strukturelle Zweiteiligkeit (Exposition/Durchführung – Reprise/Coda), als deren Grundvoraussetzung die Entlastung der Durchführung von dialektischen Aufgaben gelten muß, kündigt sich in der formalen Disposition dieses Jugendwerkes schon deutlich an.

Das Thema des langsamen Satzes (Andante, E-Dur) beweist, auf welch subtile Weise Mendelssohn der „Simplizität“ und dem „Regelmaß“ zu entgehen wußte, das oberflächliche oder bösmeinende Kritiker seiner Musik mitunter vorwerfen. Obwohl das Thema äußerlich der achttaktigen Norm entspricht, weicht es in seinem harmonischen und metrischen Verlauf der regelmäßigen Periodik auf raffinierte Weise aus. Daß das Klavier, dem das Thema zunächst anvertraut ist, als Folge dieses Raffinements nicht einmal mehr aus eigener Kraft in die ganz naheliegende Tonika zurückzufinden vermag, sondern von den teilnahmsvollen Streichern gewissermaßen nach Hause getragen werden muß, darf durchaus als ein Element romantischer Ironie verstanden werden – und ich möchte glauben, daß der Autor des „Wilhelm Meister“ für solche Züge nicht unempfänglich war. Auch die Weiterführung des Satzes zeigt uns den jungen Mendelssohn als einen Meister des spielerischen Umganges mit Formkonventionen, die er lächelnd umgeht und dabei unzerbrochen und heil läßt. Die endlich erreichte Tonika wird noch einmal kadenzierend bekräftigt; die Fortspinnung dieser Bekräftigung führt uns auf die Wechseldominante, von wo aus wir zum zweiten Mal das Thema – diesmal natürlich auf der Dominante – erreichen. Jetzt kennt der Pianist den Heimweg schon und erspart sich daher die retardierenden Verirrungen. Leider bringt gerade diese Sicherheit das Thema um zwei Takte und somit um sein labiles „Ebenmaß“, seinen unverwechselbaren Zauber. (Wer vermöchte zu sagen, ob der Junge wirklich schon so viel Lebensweisheit besaß, um mit dem Hintersinn dieses musikalischen Experimentes bewußt zu spielen?) Die abweichende Fortführung scheint jedenfalls auf diesen Verlust mit sehnsüchtigen Komplikationen zu reagieren. In einem neuerlichen Anlauf versucht nun das Cello sein Glück, zwar wieder in der Tonika, doch ganz in den bieder hinkenden Fußstapfen der vorigen Variante. Erst die variierte Wiederholung der zweiten Fortführung findet die „verlorenen“ beiden Takte wieder auf, über die das Stück endlich selig in den Heimathafen einlaufen kann.

Der Sinn dieses bezaubernden Satzes scheint mir ganz in diesem unschuldigen Spiel zu liegen; die möglichst korrekte und stichhaltige Anwendung der formalen Terminologie auf die „Satzglieder“ ABACAC(A) erscheint daneben als eine recht verzichtbare Fleißaufgabe.

Das Scherzo (Allegro molto, fis-moll) ist ein sehr frühes Beispiel für die berühmten Mendelssohnschen „Elfenscherzi“. Für den analogen Satz des Oktetts op.20 überlieferte Fanny Mendelssohn als literarische Vorlage die Schlußverse der Walpurgisnacht:

Wolkenflug und Nebelflor
Erhellen sich von oben,
Luft im Laub und Wind im Rohr
Und alles ist zerstoben.

Aus Goethes Gesprächen mit Eckermann wissen wir, daß der Dichter schon im Scherzo des Klavierquartetts das poetische Urbild mühelos wiedererkannte:

„Es ist wunderlich, wohin die aufs Höchste gesteigerte Technik und Mechanik die neuesten Komponisten führt; ihre Arbeiten bleiben keine Musik mehr, sie gehen über das Niveau der menschlichen Empfindungen hinaus, und man kann solchen Sachen aus eigenem Geist und Herzen nichts mehr unterlegen… Mir bleibt alles in den Ohren hängen… Doch das Allegro hatte Charakter. Dieses ewige Wirbeln und Drehen führte mir die Hexentänze des Blocksbergs vor Augen, und ich fand also doch eine Anschauung, die ich der wunderlichen Musik supponieren konnte.“

(Gespräch vom 14. Jänner 1827)

Die chromatische Umkreisung eines Zentraltones – diesmal der Dominante – weckt die Erinnerung an das Grundmotiv des Kopfsatzes. Die alternierenden Formteile, Scherzo (fis-moll) und Trio (H-Dur), sind durch die ostinate Klavierfiguration und die völlig analoge formale Gestaltung (jeweils eine monothematische Sonatenform en miniature) zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen, was den Satz besonders großflächig erscheinen läßt.

Auch das Finale (Allegro vivace) ist von beeindruckenden Dimensionen. Wie schon im Kopfsatz fällt die Dominanz des Hauptthemenkopfes (hier ein rhythmisch bestimmtes Motiv) auf. Die dem eigentlichen Hauptthema vorangehende Einleitung erinnert in Instrumentation und Textur (Klavierdiskant in Oktaven gegen orchestrale Streicherflächen) entfernt an einige besonders charakteristische Stellen der Schubertschen Klavierkammermusik. Während diese Parallele natürlich keinesfalls auf direkte Einflüsse hinweist, werden in der Entwicklung des Hauptthemas selbst recht deutlich Reminiszenzen Beethovenscher Töne vernehmbar.

Die formale Gestaltung und Organisation des Satzes ist allerdings ganz autonomer und origineller Mendelssohn. Da die thematischen Zellen außerhalb des Hauptthemenkomplexes recht schwach ausgeprägt sind, wird die Großgliederung durch die ostinate Figuration der Begleitstimmen erzielt: Sechzehntel für die Einleitung, Achteltriolen für den ersten, homophonen, und Staccato-Achteln für den zweiten, fugierten Abschnitt der „Durchführung“, während das rhythmisch prägnante Hauptthema in der Art eines einfachen Chorsatzes, also mit seinem eigenen Rhythmus begleitet wird. Die im ersten Satz nur angedeutete Zweiteiligkeit ist hier voll ausgeprägt: die „Coda“ ist eine  gekürzte Wiederholung der „Durchführung“, die an den Ausgangspunkt des Werkes – zur chromatischen Tonfolge, die das Leitmotiv des Kopfsatzes gebildet hatte – zurückkehrt.

Die Deutlichkeit, mit der nicht nur in diesem Punkt wesentliche Elemente des Mendelssohnschen Personalstils hier erstmals in Erscheinung treten, machen dieses letzte Klavierquartett des noch nicht Sechzehnjährigen zu einem für das Verständnis seiner Eigenart zentralen Schlüsselwerk. Daß es daneben dem als unmusikalisch verleumdeten deutschen Dichterfürsten einmal auch einen „wortlosen“ Platz in der Musikgeschichte verschafft hat, macht seinen ganz besonderen Reiz aus.

© Claus-Christian Schuster

Beethoven – Trio op. 9

Ludwig van Beethoven
* Bonn, 16.(?) Dezember 1770
† Wien, 26. März 1827

„Monsieur, L’auteur vivement penetré de votre munificence aussi délicate que liberale se rejouit de pouvoir le dire au monde en vous dédiant cet oeuvre. Si les productions de l’art, que vous honorez de votre protection en connaisseur, dependaient moins de l’inspiration du genie que de la bonne volonté de faire de son mieux, l’auteur aurait la satisfaction tant desirée de présenter au premier mécène de sa muse la meilleure de ses oeuvres.“

Auch wenn uns diese kunstvolle (oder sollen wir sagen: gekünstelte?) Widmung der drei Streichtrios Opus 9 nicht vorläge, würde sich jedem hörenden Ohr die außergewöhnliche Qualität dieser Werke sofort erschließen. Allzuviel wurde über die – in der Tat etwas verblüffende – Bezeichnung von Johann Georg von Browne-Camus als „erster Mäzen“ Beethovens gerätselt, und die (unbestreitbare) Bedeutung der Werke für Beethovens Weg zu der für sein Schaffen so zentralen Gattung des Streichquartetts betont: All das hat den Blick auf den überragenden Eigenwert, die Originalität und Gedankentiefe dieser im Konzertsaal leider nur selten zu hörenden Meisterwerke verstellt.

Das abschließende C-moll-Trio ist vielleicht das imponierendste der drei Werke. Die hier herrschende Ökonomie und Stringenz sind sogar für Beethovensche Maßstäbe außergewöhnlich. Hängt das vielleicht damit zusammen, daß Beethoven hier – erst das zweite Mal in seinem „offiziellen“ Oeuvre – „seine“ ureigenste „Leibtonart“ c-moll gewählt hat? Unbestreitbar ist jedenfalls, daß alle vier dem C-moll-Streichquartett op. 18 Nr. 4 vorangehenden C-moll-Werke – das Klaviertrio op. 1 Nr. 3, unser Streichtrio, die (der Gattin von Johann Georg Browne-Camus gewidmete) Klaviersonate op. 10 Nr. 1 und die „Sonate pathétique“ in Ductus und Localcolorit eng miteinander verwandt und ganz besonders zwingend sind.

Das Viertonmotiv, das Beethoven als Incipit des Kopfsatzes gewählt hat, bewährt sich als ausnehmend fruchtbarer Nährboden, auf dem die nachfolgenden sechs kleinräumigen Motive prächtig und vital gedeihen. Die Logik ihrer Abfolge ist so organisch, daß es widerstrebt, das – ohne Probleme benennbare und erkennbare – Schema der „Sonatenhauptsatzform“ (einer akademischen post festum Erfindung des XIX. Jahrhunderts) zur Sprache zu bringen. Auffällig und außergewöhnlich ist aber, daß Beethoven hier die Wiederholung nicht nur der Exposition, sondern auch von Durchführung und Reprise, ausdrücklich einfordert, und dem Ganzen eine hochbedeutende Coda folgen läßt; daß diese Forderung des Komponisten hier (ebenso wie im Kopfsatz des „Geistertrios“) heutzutage habituell ignoriert wird, zählt zu den vielen sanktionierten Unarten unseres neunmalklugen und ungeduldigen Zeitalters.

Am C-Dur-Adagio findet die Musikwissenschaft vor allem das Factum bemerkenswert, daß Beethoven hier die Durvariante des viertönigen Incipits des ersten Satzes (mit a statt as) als Ausgangspunkt verwendet, und daß sich diese Keimzelle hier als nicht weniger fruchtbar erweist. Noch weit bemerkenswerter finde ich aber, daß Beethoven hier in der „Durchführung“ – ja, er verwendet hier, gar nicht so alltäglich in einem langsamen Satz, die Grundstruktur der Sonatenhauptsatzform – die ersten beiden Takte des „Hauptthemas“ in so berückend klangschöner und reicher Weise variiert, daß man sich nur widerstrebend mit der Kürze dieses Teils (11 Takte) abfindet, wie denn überhaupt der ganze Satz sehr knapp (55 Takte) gehalten ist.

Im trotzigen und ruppigen Scherzo, in dem die Molldominante und die obsessive Betonung des zu ihr führenden fallenden Halbtonschrittes as-g (der ja die zweite Hälfte der viertönigen Keimzelle des ganzen Werkes darstellt und schon in der wehmütigen Abschiedswendung des vorigen Satzes bedeutungsvoll erklungen ist) für einen grimmigen – Brahms hätte gesagt „brummigen“ – Unterton sorgen, relativiert Beethoven die Unversöhnlichkeit des Tones mit einem die fallenden Molldreiklänge spiegelbildlich umkehrenden und in Dur verwandelnden, anmutig-zärtlichen Trio. Das schon in den vorangegangenen beiden Werken des Opus 9 angestellte Experiment, dem Redundanz-Automatismus der Abfolge Scherzo-Trio-Da capo zu entfliehen, führt Beethoven hier zu einem dritten Modell: diesmal schreibt er das Da capo aus und deutet von den beiden Wiederholungen des Hauptteils nur die zweite, gewissermaßen „stenographisch“ an.

Der Finalsatz weist bemerkenswerte und gewiß nicht zufällige Parallelen zu dem analogen C-moll-Prest(issim)o-Satz auf, mit dem Beethovens Opus 1 endet. Zusätzlich zu der schon dort herrschenden Atemlosigkeit und Unbehaustheit fällt hier die Dominanz der in die Tiefen stürzenden Gesten auf, die im vorangehenden Scherzo noch eine spielerische Miene hatten; nur selten wird einem melodischen Einfall Raum zur Entfaltung gegeben: es ist, als stünde über dem Satz des Goethesche „Spute dich, Kronos“ als Motto.

© Claus-Christian Schuster

Dvořák – Ballade op. 15

Antonín Dvořák
Ballade für Violine und Klavier, d-moll, op. 15 [B 139]
komponiert: 1884?

Erstausgabe: J. W. Coates, London, Dezember 1884

 Die D-moll-Ballade entstand wahrscheinlich in Erfüllung eines Kompositionsauftrages des Londoner Verlegers J. W. Coates, der als Herausgeber des „Magazine of music“ fungierte. Wahrscheinlich weist die hier von Dvořák verwendete niedrige Opusnummer (im Erstdruck heißt es: Op. 15 I, was die Vermutung nahelegt, der Komponist habe zumindest ein weiteres Stück dieser Besetzung geplant) nicht auf eine frühere Skizzierung des Werkes hin. Dvořák pflegte mitunter, die bei der Publikation seiner Werke zunächst „übersprungenen“ Opusnummern nachträglich mit Gelegenheitskompositionen aufzufüllen. Jedenfalls ist das Autograph der Komposition undatiert; Otakar Šourek hat aufgrund tonartlicher, charakterlicher und motivischer Indizien die Vermutung geäußert, die Ballade könne die Metamorphose einer verworfenen Skizze zum langsamen Satz der D-moll-Symphonie (op. 70/B 141) sein; die dokumentierte Entstehungszeit der Symphonie reicht von Dezember 1884 bis März 1885 – sollte Šoureks Hypothese zutreffen, müßte es sich also angesichts des Publikationsdatums um einen schon im Frühstadium der Niederschrift ausgeschiedene Passus handeln. Unbestreitbar ist allerdings die Stimmungsverwandtschaft der Ballade mit dem fraglichen Symphoniesatz. – Dvořák scheint Coates übrigens nur territorial beschränkte Rechte an dem Werk überlassen zu haben, denn schon im August 1885 erschien im Prager Verlag Urbánek eine zweite Ausgabe der Ballade.

© Claus-Christian Schuster