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Gesellschaftswandel als Nagelprobe

Claus-Christian Schuster (CCS) im Gespräch mit Christian Baier (CB)
(Wien, Oktober 2000)

CB: Die Subventionskürzungen im Kulturbereich, die neben vielen anderen einschneidenden Maßnahmen den Weg zum Null-Defizit Österreichs flankieren, stellen vor allem die Basis und den Mittelbau der heimischen Kulturszene vor große Probleme. In welchen Bereichen ist die Tätigkeit dieser beiden tragenden Säulen der hiesigen Musiklandschaft durch den Wegfall von Förderungsmittel betroffen?

CCS: Die Änderung der Förderungspolitik ist auch eine gesellschaftliche Absichtserklärung. Diese gesellschaftliche Absichtserklärung ist nicht, wie viele andere politische Entscheidungen der letzten Zeit, von alltäglichen kleinen Bedürfnissen diktiert. Vielmehr ist dieser Wandel ein Ausdruck des geänderten gesellschaftlichen Selbstverständnisses. Die Änderungen der Förderungspolitik wirken sich auf alle Ebenen des kulturellen Lebens gleichermaßen aus. Zunächst beginnt es bei den kleineren Veranstaltern und Initiativen, bei den nicht so robusten Pflanzen auf dem Kulturboden. Dort sind die geänderten Bedingungen existenzbedrohend. Bei den großen Veranstaltern zeitigen die Kürzungen abernoch verheerendere Folgen, nämlich die Änderung des Erscheinungsbildes und der Zielsetzungen. Dies geschieht auf eine unumgängliche und unausweichliche Art und Weise. Die großen Veranstalter, die Träger der österreichischen Kulturszene, produzieren aufgrund der geänderten Rahmenbedingungen immer mehr Events. Und was nicht Event ist, muß in Richtung Event kosmetisch gestylt werden. Dort, wo sich durch die Kürzungen die Tonart, in der gespielt wird, ändern muß, sehe ich – es mag jetzt grausam klingen – eine größere Gefahr für künstlerische und kulturelle Inhalte als dort, wo eine Kürzung das Aus, den raschen Tod bedeutet. Was verschwunden ist, ist ein Ton weniger im Akkord, aber was sich uns unter den Händen nach dem Wind dreht, wird den Klang unserer Kultur, also die Zukunft, bestimmen. Was das hierarchische Konzept, das Sie nicht zufälligerweise ansprechen, betrifft, so glaube ich, daß der Stellenwert der einzelnen künstlerischen Äußerung, der einzelnen kulturellen Initiative sich nicht errechnen läßt aus finanziellem Volumen, aus verkauften Eintrittskarten und Auslastungsquoten, sondern sich in einer viel gebrocheneren Form rechnet. Ich würde als ersten Verteidigungsschritt vorschlagen, daß wir uns von den hierarchischen Konzepten verabschieden. Ich plädiere für einen egalitäreren Umgang mit der Kunst.

CB: In den letzten Jahrzehnten haben kleine und große Veranstalter in einem Zubringer-Verhältnis kooperiert. Die kleinen Veranstalter haben – was den Wandel der Stile, der Ästhetik, der künstlerischen Ausdrucksformen betrifft – die subkutane Bildungs- und Aufklärungsarbeit geleistet, von der dann die großen Veranstalter profitierten. Wird diese Bildungsarbeit noch geleistet werden können, oder stehen am Schluß die großen Festivals vor leeren Sitzreihen, weil das Publikum wegbleibt, da es nicht mehr versteht, was ihm geboten wird?

CCS: Die Basisarbeit zur Weckung und Sensibilisierung des Publikums ist ein hehres und wunderbares Ziel. So könnte es funktionieren. Es wäre ein spiritueller Blutkreislauf. Oftmals war es aber in der Vergangenheit auch so, daß – selbst bei einem funktionierenden Subventionswesen – aus verschiedensten (nicht immer den niedrigsten) Motiven heraus ein Thema von der Spitze postuliert wurde, und dann eine ganze Reihe von Basisveranstaltern dieses Thema aufgegriffen und seine Aspekte aufgezeigt haben. Natürlich ist es auch gelungen, den Spieß umzudrehen, und von der Basis her ein Feld vorzubereiten, es zu pflügen, es aufnahmebereit zu machen und zu säen. Das wäre für mich der Inbegriff eines gesunden Kulturbodens. Wir leben allerdings in einer Situation, wo genau dieser Weg als Folge der pekuniären und gesellschaftlichen Bedingungen nur schwer begehbar ist. Die Frage stellt sich: Wie kann man die Funktionsweise der noch überlebenden Basisveranstalter und der ohnedies aus verschiedensten Gründen weiterhin bestehenden „Megaevent-Träger“ sodefinieren, daß trotzdem noch etwas Sinnvolles für das Kultur-Ganze entsteht? Da glaube ich, daß – ich bitte, mir das nicht als Zynismus auszulegen – die jetzt angespannte Situation eine große Chance für jene Initiativen beinhaltet, die aus einem wirklichen Bedürfnis und nicht aus – sagen wir es salopp – „G’schaftelhuberei“ entstanden sind. Man kann in einer Zeit, da die Subventionsgießkanne nicht mehr gleichmäßig den Boden der Musikkultur bewässert, sehr genau feststellen, wo es das Müssen gibt und wo bisher nur das Können war. Wenn diese Nagelprobe einmal durchgeführt wurde, und auf dem Kulturterrain einmal ausgesondert wurde, wo innere Anliegen vorhanden sind, und wo man sichKunst und Kultur nur zu ganz persönlichen und profanen Zwecken bedient. Da wird es entscheidend sein, daß neue Partnerschaften gesucht werden. Diese gewährleisten dann, daß solche Initiativen eine wirkliche Überlebenschance haben.

CB: Heißt das, die Privatwirtschaft von der Notwendigkeit eines Sponsorings zu überzeugen?

CCS: Das wird vielleicht in der Folge das Resultat dieses Denkprozesses sein. In erster Linie muß es das Ziel all dieser Initiativen sein, das Bedürfnis nach Inhalten und tiefergreifenden künstlerischen Aussagen zu wecken. Wir müssen wegkommen vom dekorativen Feierabendverständnis, mit dem Kultur gemeinhin behaftet ist. Allein die Geschichte des Konzertwesens belegt dieses Verständnis. Nietzsche spricht einmal von den Muße- und Verdauungsstunden des Geistes. Wir müssen uns vor Augen führen, wo es begonnen hat, daß Musik – wie alle anderen Künste auch – Gefahr läuft, nur mehr eine Verbrämung zu sein, die natürlich dann beim ersten Witterungsumschwung verzichtbar erscheint. Man wird – stellt man sich der Frage mit innerer Ehrlichkeit – bald darauf stoßen, daß es Bereiche gibt, in denen die geänderten gesellschaftlichen Realitäten so radikal kunstfeindlich sind, daß es ein Kampf gegen Windmühlen wäre, dort aus einem Justament-Standpunkt heraus Kultur durchsetzen zu wollen. Vor einem Vierteljahrhundert studierte ich in der damaligen Sowjetunion und mußte miterleben, wie man Künstler für nichtabsolvierte Konzerte bezahlte, weil sich die Mühen, den Saal zu heizen, bei einer geringen Publikumsanzahl nicht lohnte. Das ist für mich ein Beispiel von gogolscher Radikalität für einen Scheinbetrieb, in den sich Kunst hineinmanövrieren kann. Wenn man sich – siehe „Drittes Reich“ und die Devise „Kunst ins Volk“ – einbildet, man muß mit aller Gewalt etwas durchsetzen, was dem Rezipienten kein Bedürfnis ist, dann ist das Scheitern vorprogrammiert. Auf der anderen Seite wird man wohl erkennen, daß es gar nicht so winzige Bereiche unseres Gesellschaftslebens gibt, wo Bedürfnisse vital vorhanden sind, und wo man die inhaltliche Austrocknung, die mit dem Wort „Mega-Event“ ziemlich grauenerregend beschrieben ist, als Verlust empfindet. An diesem Punkt kann man als Veranstalter, als Interpret, als potentieller Sponsor ein reiches und weites Betätigungsfeld finden.

CB: Das Altenberg Trio Wien war und ist kein Ensemble, das sich nur auf das kammermusikalische Standard-Repertoire stützt.

CCS: Wir sind immer auchauf der Suche nach Werken, die – oft aus obskursten Gründen – verschüttet und nicht bekannt sind. Ich sehe als Interpret meine Aufgabe darin, ein Werk, dessen Bedeutung und Stellenwert ich erkannt habe, auch dort durchzusetzen, wo mir Widerstände in den Weg gelegt werden. Meine Erfahrungen mit Widerständen beziehen sich nicht nur auf neue und neueste Musik, sondern auch auf ältere und alte Musik. In Zukunft wird für Interpreten wichtig sein, sich intensiver als bisher noch mit Werken auseinanderzusetzen, den Staub vorangegangener Interpretationen wegzuwischen, die Patinaeingefahrener Hörgewohnheiten abzukratzen und dem Publikum einen unverstellten Blick auf die Komposition, also auf die Musik an sich, zu ermöglichen.

CB: Wird bei der derzeitigen Förderungssituation dieser Luxus des zweiten Blicks auf eine Komposition noch möglich sein?

CCS: Ich glaube, ohne vulgärdarwinistisch sein zu wollen, daß überall, wo die Ausübung von Kultur und das Leben mit Kultur ein vitales Bedürfnis sind, der künstlerische Wille nicht umzubringen ist. Schwierige Rahmenbedingungen haben oft – die Vergangenheit zeigt es – verschüttete Potentiale an Kreativität und Willenskraft mobilisiert, die sich für den nächstfolgenden Schritt, die Durchsetzung von Inhalten auch gegen bestehende Widerstände, als sehr segensreich erwiesen haben. Auf längere Sicht wird der Staat aber nicht umhin können, seine Förder- und Beschützeraufgabe, die er in meinem Staatsverständnis nach wie vor hat, auf eine diskrete Weise wahrzunehmen,mit der Fähigkeit, zu unterscheiden zwischen Luftblasen und Wurzeln.

An die nahe Ungeliebte

Lichtwark_Alfred

Aus der Fülle der Ungerechtigkeit, mit der die europäische Menschheit des neunzehnten Jahrhunderts ihre führenden Geister überschüttet hat, wird sich wie an einem Experiment nachweisen lassen, daß die Fähigkeit des originellen Urteils ebenso selten vorhanden ist wie die Gabe der originellen Produktion, und daß in der Regel nicht einmal Klarheit herrscht über das Wesen des Urteils in künstlerischen Dingen (…) Wer die bekannten und oft gehörten Wendungen in den Mund nimmt: Vom Künstler verlange ich, der Künstler soll, der Künstler muß, – der beweist damit nur, daß er keine Ahnung hat, wie das Kunstwerk entsteht. Mit solchen Forderungen mag er dem Handwerk gegenübertreten, das ihm dient, er mag sie vor der breiten Masse der künstlerischen Produktion erheben, der Marktware, die einem vorhandenen Bedürfnis entgegenkommt. Nach der Kunst des Genies hat kein Mensch auf der Welt Bedürfnis, ehe sie da ist, außer dem einen, der sie erzeugt.

Alfred Lichtwark, Die Seele und das Kunstwerk (1902)

Diese zu Beginn unseres Jahrhunderts gemachten Bemerkungen, dürfen mutatis mutandis – also etwa: indem man „neunzehntes“ durch „zwanzigstes“ ersetzt – auch an seinem Ende wiederholt werden. Vielleicht sind sich heute, nachdem uns das zur Neige gehende Jahrhundert eine nie zuvor gekannte Überfülle an Ismen und damit an sich immer ändernden Wertmaßstäben und Beurteilungskriterien beschert hat, mehr Menschen der mit jedem künstlerischen Urteil verbundenen Risiken und Unsicherheiten bewußt, und die Ungerechtigkeiten, die wir in dieser Hinsicht heute zu begehen bereit sind, haben daher etwas von ihrer Heftigkeit eingebüßt – zumindest zwischen zivilisierten Menschen, die nicht gerade an der Eroberung politischer Mandate mithilfe von Bierzeltparolen arbeiten.

In unseren Konzertsälen ist bei der Aufführung zeitgenössischer Musik die Leidenschaft von Ablehnung und Zustimmung, wenn es sich nicht um Fälle kommerziell verordneter Ekstase handelt, einer wohltemperierten Allerweltsartigkeit gewichen, die den Komponisten recht oft im Unklaren darüber läßt, ob sein Werk nun auf teilnehmende oder taube Ohren gestoßen ist. Wenige Tage vor der Uraufführung seiner Rythmes für Orchester schreibt Frank Martin einem Freund:

„Dabei muß ich noch froh sein, wenn man mich auspfeift, das wäre ein Erfolg; hingegen der trübe Schleier der Gleichgültigkeit, der sich langsam auf ein unbekanntes Werk niedersenkt!“

(an André Berge, 7. Dezember 1929)

So besehen sollten auch wir vielleicht stellvertretend für die Komponisten über jene langjährigen Abonnenten froh sein, die uns angesichts des diesjährigen Programms den Rücken gekehrt haben – das ist zwar etwas weniger leidenschaftlich als das Auspfeifen, aber doch immer noch einen deutlichen Schritt von der Gleichgültigkeit entfernt.

Der Gleichgültigkeit folgt die Verachtung. Das apodiktische Urteil „Des is ka Kunst!“ hat die Kunst unseres Jahrhunderts in allen Schattierungen, vom leidenschaftlich empörten Schlachtruf bis zum verächtlichen Stammtischrülpser, getreulich begleitet.

Obwohl uns allen die unmittelbare Vergleichsmöglichkeit fehlt, haben wir wohl nicht ganz ohne Grund das Gefühl, es sei noch keine der uns rekonstruierbaren Epochen der Menschheitsgeschichte mit ihrer eigenen Kunst so zerfallen gewesen wie die unsere. Die Ratlosigkeit, mit der manchmal auch willige und aufgeschlossene Besucher ganze Saalfluchten unserer Museen schlechten Gewissens durcheilen, ist ein bedenkliches Symptom. Gewiß, das Neue, Ungewohnte und Unerhörte hat immer eine Weile gebraucht, bevor es zum vertrauten und sanktionierten Kulturgut werden konnte. Wenn aber Schönbergs „Erwartung“ noch drei Generationen nach der Uraufführung einen Exodus des Publikums provoziert, so ist diese Weile auf dem besten Wege, sich zur Ewigkeit auszuwachsen.

Über die Gründe und Hintergründe dieses Phänomens haben einige der brillantesten Köpfe unseres Jahrhunderts schreibend nachgedacht, und es wäre verwegen, diesen Gedanken hier noch etwas hinzufügen zu wollen. Klar ist wohl, daß die immer unerträglicher werdende Zeitspanne, die uns auf diese Weise von unserer eigenen Gegenwart zu trennen droht, nur durch eine bewußte Willensanstrengung überbrückt werden kann. Daß das geistige Vakuum, das sich zwischen dem vereinsamten Genie und seiner erholungs- und unterhaltungsbedürftigen Mitwelt auftut, vor allem dann ein Tummelplatz für die frechste Scharlatanerie zu werden droht, wenn auch das Genie in seiner Flucht vor den Zumutungen der Masse zur Provokation zu greifen gezwungen ist, sollte uns bei dieser Willensanstrengung zur Vorsicht mahnen, aber nicht lähmen. Der Kulturmarkt kann uns bei der Suche nach der Kunst unserer Zeit sicher keine Orientierung bieten; denn hier wird unterschiedslos alles, Aufschrei und Täuschung, Geschaffenes und Geraubtes, zu Schmieröl in der verläßlichen Maschinerie von Angebot und Nachfrage weiterverarbeitet. Der schöpferische Mensch unseres Jahrhunderts, der wie der aller vorangehenden ein Einsamer im Herbst ist, spricht zu uns durch die tosende Brandung einer immer lauter werdenden Zeit. Von seiner Rede hören wir nur einzelne zusammenhanglose Silben. Wir sollten versuchen, von seinen Lippen zu lesen.

Die Zumutungen, die das Publikum für den Künstler bereit hält – der Künstler soll, der Künstler muß –, sind rührende und harmlose Dummheiten im Vergleich zu jenen brutalen Zwängen, denen der Markt ihn unterwirft. Schon Brahms muß einen beträchtlichen Teil seiner Zeit der „Propagandaarbeit“ opfern: auf ausgedehnten und kräfteraubenden Tourneen widmet er sich der Vermarktung seiner künstlerischen Produktion. Es ist wichtig zu sehen (und würde viel zu weit führen, hier nachzuweisen), daß diese Konzertreisen sich nicht nur quantitativ, sondern auch ihrem Wesen und ihrer Funktion nach von denjenigen Mozarts grundlegend unterscheiden. Die künstlerische Produktion ist ein Wirtschaftszweig geworden, der keinen Anspruch auf Sonderbehandlung stellen darf. Die vielzitierte, aber wenig verstandene Argumentation von Adolf Loos in seinem Aufsatz ornament und verbrechen (1908) bringt diese Sachlage in enthusiastischer Offenheit zur Sprache:

„Evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornaments aus dem gebrauchsgegenstande. […] Das fehlen des ornaments hat eine verkürzung der arbeitszeit und eine erhöhung des lohnes zur folge. Ornament ist vergeudete arbeitskraft und dadurch vergeudete gesundheit. So war es immer. Heute bedeutet es aber auch vergeudetes material, und beides bedeutet vergeudetes kapital.“

Die praktische Funktionslosigkeit des Ornaments erscheint hier als eine läßliche Sünde, verglichen mit der Todsünde der Kapitalverschwendung: Erst in dieser Ideologie findet das Wort „Kapitalverbrechen“ seine innigste Bedeutung. Wenn aber der ästhetische Lustgewinn, den das funktionslose Ornament „primitiveren“ Kulturen und Menschen gewährte ( – Loos spricht mit der Nonchalance des europäischen Herrenmenschen von Kaffern, Papuas, Persern und, natürlich, von den Frauen – ), den Erfordernissen der Wirtschaftlichkeit geopfert werden muß, ist flugs Ersatz geschaffen:

„Wir haben die kunst, die das ornament abgelöst hat. wir gehen nach des tages last und mühen zu Beethoven oder in den Tristan.“

Loos würde sich wohl gehütet haben, nach des tages last und mühen zu Mahler, Schönberg, Ravel oder Skrjabin zu gehen, obwohl doch das seine engeren Zeitgenossen waren. Die Kunst darf – als legitimer Ersatz für das geächtete Ornament – der praktischen Funktionalität entraten, aber sie muß trotzdem eine klar umrissene Aufgabe im Räderwerk der Wirtschaft erfüllen: sie hat den im Dienste des Kapitals tätigen Menschen nach des tages last und mühen zu erbauen und zu unterhalten. Was der Lehrer des Nietzsche-Jüngers Loos zu diesem Konzept zu bemerken hatte, ist am Beginn der Ersten Unzeitgemäßen Betrachtung (1873) nachzulesen, wo Nietzsche über die „Kulturschaffenden“ schreibt:

„…denn dies ist doch ersichtlich eine zusammengehörige Gesellschaft, die sich verschworen zu haben scheint, sich der Muße- und Verdauungsstunden des modernen Menschen, das heißt seiner „Kulturmomente“ zu bemächtigen und ihn in diesen durch bedrucktes Papier zu betäuben.“

Wer es aber versteht, die Kunst als Betäubungsmittel einzusetzen, der darf getrost auf das sprichwörtliche Opiumsurrogat Religion verzichten. Die so dienstbar gemachte und gezähmte Kunst ist völlig gefahrlos und muß nicht einmal für Kinder unerreichbar aufbewahrt werden.

Die Kunst, die sich diesem Joch entziehen möchte, muß zwangsläufig immer tollere Capriolen schlagen, um der Versklavung zu entgehen. Der Dadaismus und alle seine Nachkommen sind die logische Antwort auf den totalitären Kapitalismus. Der zum Konsumenten mutierte Mensch, der über eine solche, ihn in seinen „Kulturmomenten“ irritierende Provokation stolpert, wird in reflexhafter Notwehr zur Wortkeule „Des is ka Kunst!“ greifen. Ist man erst einmal mit der ungebärdigen Kunst handgemein geworden, fällt es ganz leicht, sie mit der gehörigen Inbrunst zu hassen. Die aufdringliche und zählebige Ungeliebte, die uns mit ihren frechen Annäherungsversuchen verfolgt, hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn wir uns angeekelt abwenden.

Daß in dieser Konstellation überhaupt noch Kunst entstehen kann, die mehr und anderes ist als Betäubungsmittel oder Provokation, ist schlicht ein Wunder, aber dennoch eine Tatsache, von der wir uns selbst und Sie an den nächsten fünf Abenden überzeugen wollen. Dieser Rückblick auf ein verkanntes Jahrhundert soll auch Abschied von einem ungeliebten Jahrhundert sein. Die Auswahl der hier aufgeführten Werke ist, wie jede denkbare, willkürlich und subjektiv. Doch alle sind sie legitime Kinder dieses unseres Jahrhunderts, und wie alle Kinder bedürfen sie unserer Liebe noch mehr als unseres Geldes. Vielleicht wird ein ferner Betrachter einmal auch unserem Bemühen um diese ungeliebten Problemkinder den rührend naiven Trost spenden dürfen, den Jeitteles und Beethoven für ihre Ferne Geliebte fanden:

Dann vor diesen Liedern weichet,
Was geschieden uns so weit,
Und ein liebend Herz erreichet,
Was ein liebend Herz geweiht.

Irrwege und Neue Bahnen?

Irrwege und Neue Bahnen?

Wenige Szenen der Musikgeschichte haben so nachhaltig die Phantasie des hörenden und schreibenden Publikums beschäftigt wie das Zusammentreffen zwischen dem Ehepaar Schumann und dem jungen Johannes Brahms. Das Erscheinen des jungen Genies im Hause an der Bilker Straße am 30. September 1853 mit allen anekdoten- und legendenhaften Details ist unverzichtbarer Bestandteil der biographischen Literatur rund um Robert, Clara und Johannes. Die an sich schon romanhaften Züge dieser Begegnung werden zum Ausgangspunkt von weit über Brahms´ ersten Düsseldorfer Aufenthalt hinausgehenden rhapsodischen Spekulationen. Die begeisternde Dreisamkeit im Hause Schumann, die das Bild weiternde F.A.E.-Episode mit Joachim und Dietrich, das Zusammentreffen mit Bettina und Gisela von Arnim, Joachims Liebe; Roberts Artikel „Neue Bahnen“; die Geschichte von Roberts Violinkonzert, der Besuch in Hannover bei Brahms und Joachim, Claras Eifersucht auf Wilhelmine Clauß… Allein in den Fakten steckt schon ein ansehnlicher Roman, wer wollte das leugnen?

SM_SMcDoch das zunächst unschuldige Spiel der Phantasie ist gefährlich. In einer 1990 erschienenen Biographie Clara Schumanns liest man – die Rede ist von der Heimreise der Schumanns aus Hannover am 30. Jänner 1854 – :

„Auf dieser Rückfahrt muß es zu einer furchtbaren Auseinandersetzung gekommen sein ­– das Finale einer Ehe. Vielleicht hatte Clara behauptet, Joachim sei nur zu vornehm gewesen, auszusprechen, was ihm überdeutlich im Gesicht gestanden habe, daß nämlich das Violinkonzert Spuren des Irrsinns erkennen lasse [,] und es für Robert Zeit sei, seinen Platz für Johannes Brahms freizumachen.“

Ay, there´s the rub!

Kurzentschlossen hat die Autorin Claras Stelle eingenommen, Claras Zweifel durch ihre eigene holzschnitthafte Überzeugung ersetzt. Ihre teleologische Ungeduld drängt auf einen möglichst raschen und gnadenlosen Machtwechsel: Le roi est mort. Vive le roi! Die Rollen sind klar verteilt: Es ist Saul und David, nicht etwa David und Abschalom; und nur eine unerwartet große Zurückhaltung der Autorin bewahrt uns davor, daß der schwermütige Schumann in kraftloser Abwehr einen Speer nach Brahms wirft.

BR_1853Schumann soll seinen Platz für Brahms frei machen. Man muß der Autorin für die Präzision dieses vulgärdarwinistischen Bildes dankbar sein. Schumann und Brahms haben darin nicht ihre eigenen Plätze, sondern sind Vorgänger und Nachfolger auf dem langen Weg, der – man ahnt es schon – von Perotinus Magnus zu Pierre Boulez führt. Nicht zufällig hat die neuere Schumannliteratur in ihrem Bemühen, das Spätwerk Schumanns zu „rehabilitieren“, immer wieder die Kompositionstechniken der Zweiten Wiener Schule zum Vergleich herangezogen: wenn sich in den letzten Werken Schumanns Vorahnungen dieser „fortschrittlichen“ Techniken aufspüren lassen, so das Kalkül, dann ist Schumanns Ehre gerettet, denn dannn hat er zur Weiterentwicklung der Musik auch dort beigetragen, wo er die Wirkung der „Träumerei“ verfehlt hat.

Je matter und kraftloser Schumann erscheint, desto erschütternder wirkt der Gruß, den er Brahms in den „Neuen Bahnen“ entbietet. Am besten macht man aus dem dreiundvierzigjährigen Schumann gleich den greisen Simeon und liest mit andächtiger Rührung: „Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen.“ Nichts würde der rührselig-theatralischen Stimmigkeit der Szene, die gut in den hagiographischen Kanon der Nazarener passen würde, mehr schaden als die unwillkommene Entdeckung, daß Meister Robert noch einen Weg vor sich hatte, als er entschied, ihn nicht mehr zu beschreiten.

Hier ist die Quelle einer der infamsten Legenden der Musikgeschichte: jener vom kontinuierlichen Verfall der schöpferischen Kräfte Robert Schumanns während seiner Düsseldofer Jahre. Felix Draesekes begierig aufgegriffenes Wort, Schumann habe als Genie begonnen und als Talent geendet, gibt dieser falschen Perspektive den richtigen Rahmen. Wie so oft hat auch im Falle Robert Schumanns die Biographie über das Werk gesiegt: das Bild des im geblümten Schlafrock an den ausgelassenen Karnevalsumzügen vorbei auf die Rheinbrücke eilenden Komponisten ist eben so einprägsam, daß Publikum und Interpreten in einmütiger Andacht kaum die Augen davon wenden können. Die Ohren scheinen dann nur mehr wahrzunehmen, was wir vor unserem geistigen Auge gesehen zu haben glauben – und da gibt es auch in der Musik plötzlich überall unübersehbare Spuren der herannahenden Katastrophe.

Nun soll freilich nicht geleugnet werden, daß es einen engen, ja unauflösbaren Zusammenhang zwischen Leben und Werk gibt. Aber dieser Zusammenhang läßt sich kaum je auf eine simple Widerspiegelung des Lebens im Werk zurückführen. Dem Leben des schöpferischen Menschen und der Gesellschaft, der er angehört, tritt im Werk des Künstlers eine Gegenwelt gegenüber, die ihre materielle und konkrete Basis niemals verleugnen, aber immer – denn das gehört zum Wesen und Ziel des Künstlerischen – hinter sich lassen kann. Es ist daher durchaus nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, daß die letzten Schaffensjahre Schumanns vor dem gesellschaftlichen Hintergrund einer gescheiterten Revolution und dem persönlichen einer fortschreitenden Krankheit ablaufen; aber es ist unsinnig (um nicht zu sagen: verbrecherisch), Schumanns nach 1849 entstandene Werke als melancholisch-resignative Grisaillen eines seine Gestaltungskräfte schrittweise verlierenden Geisteskranken abzutun.

Daß dieser Unsinn so beharrlich vertreten wird ­– in den letzten Jahrzehnten immer wieder auch von Schumann-„Apologeten“ – hängt mit der verzeihlichen Unfähigkeit von Schumanns Zeitgenossen zusammen, die kompositorische Entwicklung seiner letzten Schaffensjahre nach Wesen und Bedeutung zu erfassen. Clara, die zuletzt auch vor der Vernichtung von ihr mißlungen erscheinenden Spätwerken nicht zurückschreckte ( – 1893 verbrannte sie Schumanns letztes Kammermusikwerk, die Anfang November 1853 komponierten Fünf Romanzen für Violoncello und Klavier – ), ist an der Rezeptionsmisere sicher nicht unbeteiligt. An ihrem Beispiel läßt sich aber auch recht gut erkennen, wie sehr die Kenntnis der Lebensgeschichte auf die Beurteilung des Werkes abfärbt: Als sie im November 1851 die eben entstandene monumentale zweite Violinsonate (d-moll, op.121) kennenlernt, findet sie sie „von einer wunderbaren Originalität und einer Tiefe und Großartigkeit, wie ich kaum eine andere kenne, – das ist wirklich eine ganz überwätigende Musik.“ Dreißig Jahre später, bei der Lektüre von Philipp Spittas 1882 erschienener Schumann-Biographie, notiert sie, trotz ihrer Einwände gegen Spittas pauschal negative Bewertungen: „…der erste Satz der D-moll-Sonate hat etwas rhythmisch Peinliches.“

So konnte und mußte das Bild entstehen, Schumann habe sich selbst, während er die „Neuen Bahnen“ seines jungen Freundes segnete, heillos im dürren Gestrüpp grüblerischer Unfruchtbarkeit verrannt; der Eichendorffsche Fernen verheißende Waldweg, auf dem seine alte Bahn verlaufen war, habe sich nach und nach im weglosen Unterholz verloren. Kaum ein Schumannbuch, in dem einem nicht, vereinzelt oder summarisch, Andeutungen und Urteile dieser Art begegnen. Dabei gibt es ein einfaches (und heute leichter denn je anzuwendendes) Mittel, diese Sicht kritisch zu überprüfen: man höre sich alle Kompositionen jener „Zeit, wo Schumann´s Werke die verhängnißvolle Zahl 100 überschritten hatten“ (Hanslick), aufmerksam und unvoreingenommen an – und urteile dann, ob das wirklich nur die Spur eines Verirrten ist, oder ob sich hier nicht vielleicht ein noch unbeschrittener Weg öffnet.

Muß man wirklich in die Irre gegangen sein, um im Irrenhaus zu enden?

Zur Erstfassung von Mendelssohns D-moll-Trio

Musikfreunde : Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien / Jänner 2009  

Vom Werden der Perfektion

Eine Mendelssohn-Uraufführung im Jahr 2009

Felix Mendelssohns d-Moll-Klaviertrio op. 49 gilt als eines der herrlichsten Werke der Kammermusik überhaupt. Wenn das stets neugierige Altenberg Trio nun erstmals in moderner Zeit dessen Urfassung erarbeitet, tut es damit einen Blick in die faszinierende Werkstatt des Komponisten.

Es sei „das Meistertrio der Gegenwart“ und „eine gar schöne Komposition, die nach Jahren noch Enkel und Urenkel erfreuen wird“, sein Autor „der Mozart des neunzehnten Jahrhunderts, der hellste Musiker, der die Widersprüche der Zeit am klarsten durchschaut und zuerst versöhnt“: So schwärmte einst Schumann über Felix Mendelssohns prächtiges Klaviertrio d-Moll op. 49. Dass dessen nahezu sprichwörtliche Perfektion jedoch keineswegs vom Himmel gefallen ist, sondern das Produkt eines langen, vielgestaltigen Arbeitsprozesses darstellt, wird gerne vergessen.

Das Klischee von „begnadeten angelischen Gestalten wie Mozart und Mendelssohn, denen alles zufliegt“ – Claus Christian Schuster kennt es zur Genüge. Den klugen Pianisten und Spiritus rector des Altenberg Trios treibt jedoch gemeinsam mit seinen Kollegen Amiram Ganz (Violine) und Alexander Gebert (Violoncello) auch das Verlangen, „dem Publikum sinnfällig vor Ohren zu führen, dass auch bei diesen Komponisten unglaublich viel Arbeit nötig ist, ein konsequentes Meißeln an einer gedachten Idealgestalt, die man ohnedies nie erreicht“.

Mendelssohn – Uraufführung!

Da trifft es sich hervorragend, dass die Leipziger Mendelssohn-Gesamtausgabe aktuell den Band mit Klaviertrios vorbereitet: eine für das Altenberg Trio perfekt passende Aufgabe, die einst in privatem Rahmen präsentierte Frühversion von op. 49 erstmals wieder zu spielen. „Es ist also eigentlich eine Welturaufführung“, betont Claus Christian Schuster, als er im Oktober 2008 zum Zeitpunkt unseres Gesprächs gerade mit Neugier und Akribie die Druckfahnen der Ausgabe studiert. Wobei von „der“ Urfassung streng genommen gar nicht die Rede sein kann: Im August 1838 berichtet Mendelssohn seinem Komponistenfreund Ferdinand Hiller von seiner Absicht, „nächstens ein paar Trios zu schreiben“. Im September 1839 ist das d-Moll-Opus dann in erster Reinschrift fertig.

„Nach der Aufführung in einem Hauskonzert 1839 machte Mendelssohn kleine Umarbeitungen, da er offenbar nicht ganz zufrieden war“, berichtet Schuster und gerät ins Schwärmen: „Wenn man bedenkt, was er alles geleistet hat: Komponieren, Dirigieren, Korrespondenz … Er hat sich um die sozialen Sorgen seiner Orchestermitglieder genauso gekümmert wie darum, dass sie in den gedruckten Stimmen gut umblättern konnten. Unfassbar: ein Mensch mit so vielfacher Arbeitsbelastung und dennoch solcher Offenheit – ein Wunder!“

„Etwas altmodisch“?

Die verbesserte Version nun hat Hiller bei einem Besuch im Dezember 1839 gesehen. „Gewaltig impressionirte mich das Feuer und Leben, der Fluß, die Meisterschaft in einem Wort, die sich in jedem Tact geltend macht“, bekannte er fast vierzig Jahre später, meinte aber auch, er habe den Klavierpart nicht brillant genug, sondern „etwas altmodisch“ gefunden. Ein Grund für Mendelssohn, weitere Änderungen anzubringen. „Aber“, wendet Schuster ein, „die Erstfassung steht der späteren gedruckten in dieser Hinsicht nicht wesentlich nach. Gut, einiges ist mehr auf den Punkt gebracht, aber Hillers Einfluss kann nicht so überragend gewesen sein.“ Immerhin führten die Schärfungen und Präzisierungen zu einer Verknappung des Stirnsatzes um fast 90 Takte auf 616 in der endgültigen Fassung. – Die nominelle Uraufführung des Werks fand dann am 1. Februar 1840 im Leipziger Gewandhaus statt. „Möglicherweise gab es sogar noch eine Zwischenversion, bevor das Trio dann im April 1840 im Druck erschienen ist“, vermutet Schuster – und das, obwohl man sich doch gerade bei diesem schlechthin vollendet scheinenden Werk schwerlich eine andere als die bekannte Gestalt vorstellen kann.

Tücke im Detail

„Man denkt zum Beispiel, das Thema des zweiten Satzes, dieses ‚Liedes ohne Worte‘, müsse Mendelssohn wohl einfach so eingefallen sein – weit gefehlt! Es gibt da zwar keine gravierenden Unterschiede, aber doch andere harmonische Wendungen und melodische Modifikationen, die man auf den ersten Blick für unwahrscheinlich hält. Der Mittelteil ist sogar völlig neu komponiert, umfasst aber dort wie da exakt 29½ Takte.“ – Der wahrscheinlich auffälligste Unterschied, während die vielen, aber kleinen Änderungen im Scherzo den meisten Hörerinnen und Hörern verborgen bleiben dürften. Doch keine Sorge: Ein Einführungsvortrag Schusters und der Herausgeberin Salome Reiser im Steinernen Saal wird vor dem Konzert die spannendsten Unterschiede ans Licht holen.

Auch wenn das genaue vergleichende Studium des Finales ihm noch bevorsteht, ist dem Pianisten bereits eines klar: Sich als Interpret mit all diesen geringen Abweichungen vertraut zu machen ist schwerer, als ein ganz neues Stück zu lernen. Womit erwiesen wäre, dass es ein Problem werden kann, wenn man ein Stück im sprichwörtlichen kleinen Finger hat. Ist dergleichen nur mit Wiederholung zu bewältigen?

„Repetitio est mater studiorum“, bejaht Schuster, fügt aber hinzu: „In erster Linie ist es: Wissen! Je mehr man von diesen Unterschieden bewusst weiß und für je mehr von diesen Unterschieden man – zumindest für sich selbst – eine Begründung findet, desto leichter wird es. Aber je mehr man sich ins rationale Bewusstsein holt, desto mehr setzt man seine Intuition, seinen motorischen Automatismus einem Druck aus.“ Eine Zwickmühle, der gerade das Altenberg Trio freilich immer wieder vorbildlich zu entkommen weiß.

Entdeckungssucht, Eroberungslust

Eine besonders geliebte Stelle im leidenschaftlichen ersten Satz freilich wird Claus Christian Schuster in der Urfassung vermissen müssen: Die Reprise tritt da ganz traditionell mit dem Hauptthema im Fortissimo ein, während in der späteren Version nach einem Verebben der Durchführung das Geschehen mit dem zunächst liegenden, dann absteigenden a der Violine in die Reprise förmlich hineinsinkt und in der Folge Mendelssohn uns mit einer überraschend aufleuchtenden Wendung beschenkt, die F-Dur statt des d-Moll-Sextakkordes einsetzt: „Die Gnade der Mediante – eine der glücklichsten Stellen der Kammermusik. Zumindest in der Klaviertrio-Literatur kenne ich kaum etwas, das damit konkurrieren könnte!“ – Ein Urteil aus wahrlich berufenem Munde, kann es doch an Repertoire kein vergleichbares Ensemble auch nur annähernd mit dem Altenberg Trio aufnehmen.

Schuster spricht da mittlerweile mit leiser Selbstironie von „Entdeckungssucht“ und „donjuanesker Eroberungslust“ und äußert den gemeinsamen Wunsch des Altenberg Trios, sich fürderhin noch mehr Zeit zu geben, um in die Tiefe zu gehen und die Interpretationen reifen zu lassen. „Wir können unsere Ansprüche ohnehin nie so hoch schrauben, dass sie den Ansprüchen des Komponisten und des Werkes gerecht würden. Artur Schnabels berühmter Satz ‚Ich spiele prinzipiell nur Musik, die besser ist, als man sie spielen kann‘ hat den einen Fehler, dass dadurch das Publikum der Vergleichsskala beraubt wird. Deshalb werde ich nicht müde, Grillparzer zu zitieren: ‚Man kann die Großen nicht verstehen, wenn man die Obskuren nicht durchgeführt hat.‘ Man muss doch manchmal Sachen aufführen, die möglicherweise nicht um so viel besser sind, als man sie spielen kann. Und vielleicht“, fügt Claus Christian Schuster verschmitzt hinzu, „kann man sich dabei manchmal sogar das Vergnügen verschaffen, etwas so gut zu spielen, wie es ist.“

Walter Weidringer

Walter Weidringer ist Musikkritiker der „Presse“ und Verlagsmitarbeiter bei Doblinger, unterrichtete am Institut für Musikwissenschaft der Universität und lebt als freier Musikpublizist in Wien.