Mozart – Trio KV 502

Wolfgang Amadeus Mozart
* Salzburg, 27. Jänner 1756
† Wien, 5. Dezember 1791

Trio für Klavier, Violine und Violoncello, B-Dur, KV 502

komponiert: Wien (Domgasse 5), 18. November 1786

Uraufführung: nicht dokumentiert

Erstausgabe: Artaria, Wien, November 1788

Unter den Mozartschen Klaviertrios erfreut sich wahrscheinlich keines so konstanter Popularität wie dieses Werk. Offenbar erfüllt (und übertrifft) es in besonderer Weise alle Erwartungen, mit denen die meisten Hörer sich den Kompositionen Mozarts nähern. Und gerade dieser hier so besonders ausgeprägte paradigmatische Zug bietet uns einmal mehr Anlaß, über das Rätsel Mozart nachzudenken.

Eine leicht nachvollziehbare Konstante des Mozartbildes ist der Topos von der „Leichtigkeit“ und „Selbstverständlichkeit“ seines Schaffens. Nun begegnet uns in den Werken der Jahre ab etwa 1785 ein mit der landläufigen Vorstellung von Mozarts Kompositionsweise nicht leicht in Einklang zu bringendes Phänomen in auffälliger Häufung: Immer wieder findet Mozart die gesuchte Gestalt erst im zweiten Anlauf. Dem A-Dur-Streichquartett KV 464 (Jänner 1785) geht ein außergewöhnlich weit gediehenes Fragment (170 Takte) in der selben Tonart voran, zum zweiten und dritten Satz des A-Dur-Klavierkonzertes KV 488 (März 1786) gibt es – die Richtigkeit der jeweiligen Zuordnungen vorausgesetzt – gleich drei verworfene Ansätze (KV Anh. 58, 63, 64). In der Klavierkammermusik konzentriert sich die Erscheinung gerade auf die Entstehungszeit unseres Trios: So bricht etwa der ursprüngliche Finalsatz des Klavierquartetts KV 493 (Juni 1786) nach elf Takten ab, während den Kopfsätzen der beiden nachfolgenden Klaviertrios Satzanfänge in den jeweiligen Tonarten von neunzehn (KV 496, G-Dur, Juli 1786) und fünfundzwanzig (KV 502, B-Dur, November 1786) Takten vorangehen; und in diesem letzteren Werk, das hier zur Diskussion steht, stoßen wir im Mittelteil des langsamen Satzes gleich noch einmal auf einen ganz analogen Vorgang: Hier wird nämlich zweimal in Folge ein ausgedehnter (wenn auch nicht ausgeführter) Erstentwurf durch eine völlig anderslautende Endgestalt ersetzt.

All diesen Fällen gemeinsam ist, daß der erste „Einfall“ (mit Ausnahme der immer schon festgelegten Tonart) so gut wie keine oder doch nur sehr allgemeine Parallelen zu der schließlich gewählten Formulierung aufweist, es sich also – anders als man es von Beethoven her kennt – nicht darum handelt, die spezifische Gestaltung aus einer noch nebelhaften ersten Idee gleichsam zu destillieren. Gerade der verworfene Anfang des Allegros unseres B-Dur-Trios, der sich (trotz einer unüberhörbaren motivischen Parallele) besonders radikal von der endgültigen Fassung unterscheidet, ist alles andere als diffus oder nichtssagend, und bei der Betrachtung dieses Fragments könnte man recht leicht in Trauer über ein ungeborenes Werk verfallen.

Wie immer man dieses Phänomen, das in wechselnder Intensität übrigens in allen Schaffensphasen Mozarts anzutreffen ist, deuten mag, eines erweist es jedenfalls ganz offenkundig: Bei aller die menschliche Vorstellungskraft übersteigenden Unerschöpflichkeit seines Genies war Mozart als Komponist durchaus kein Schlafwandler, und hinter jener Schnelligkeit und Leichtigkeit seiner Produktion, derer sich die volkstümliche Legende als unverzichtbares Hauptrequisit bemächtigt hat, wird immer wieder die wählende, formende und verwerfende Gedankenleistung einer unermüdlichen Gestaltungskraft sicht- und hörbar.

Dieser Feststellung liegen durchaus keine ikonoklastischen Motive zugrunde. Die Erscheinung Mozarts ist so unbestreitbar einzigartig, daß ihre Entrückung ins Mythische weder von der Musikwissenschaft noch vom Musical rückgängig gemacht werden kann. Die Antike versetzte ihre Helden und Sagengestalten unter die Sterne; und es liegt eine feine Ironie darinnen, daß gerade das Zeitalter der Aufklärung und der französischen Revolution mit Mozart ein Genie hervorbringen mußte, das vor den staunenden Augen der Nachwelt diesen mythischen Weg noch einmal beschritt.

Wie uns die antike Sage lehrt, ist aber dieser Weg nur für den begehbar, der das „Menschliche“ hinter sich läßt – Ovids Metamorphosen sind über weite Strecken nichts anderes als ein Lehrbuch dieser Erkenntnis. Und obwohl alles bedeutende geistige Schaffen unleugbar Elemente einer solchen Entäußerung und Überwindung in sich trägt, sind ihre äußeren Anzeichen wohl nirgends so deutlich ausgeprägt wie im Falle Mozarts. Dem Betrachter offenbart sich dieses Moment vor allem in der radikalen Divergenz zwischen dem Faktischen von Mozarts Leben und der schöpferischen Leistung des Komponisten. So groß ist der unerforschliche Freiraum zwischen diesen beiden Realitäten der Mozartschen Existenz, daß in ihm das Anekdotische ganz ungehemmt wuchern kann.

Auch an unserem B-Dur-Trio wird der ungewöhnliche Abstand zwischen Sein und Schaffen deutlich: Am 15. November 1786 war Mozarts drittes Kind im Alter von wenigen Wochen gestorben. Am Tag nach dem Begräbnis (das Kind wurde, so wie später auch sein Vater, auf dem Friedhof der Vorstadt St. Marx begraben), dem 18.November, beendet Mozart unser Werk, das vielleicht sonnigste seiner Klaviertrios: Das „Terzett für Klavier, Violine und Violoncell“, wie er es in seinem eigenhändigen Werkverzeichnis nennt, ist vom ersten Takt an in das milde Licht der uns aus dem B-Dur Klavierkonzert KV 450 wohlvertrauten, „empfindsam“ chromatisierten Terzgänge getaucht. Diese Stimmung gibt den Grundton für das ganze Werk. Nicht, daß es an wehmütigen Trübungen und erschütternden Ahnungen fehlte – welches Mozartsche Werk entbehrte dieser Züge ? – aber, mehr noch als sonst, bleiben diese Momente ohne Folgen, die Wolken zerfließen spurlos, und der Himmel behält seine reine, herbstlich-kräftige Farbe. Es bleibt ein gleichermaßen geheimnisvolles wie beglückendes Phänomen, daß die Tragik von Mozarts „wirklichem“ Leben, die sich mehr noch als im Tod des Kindes im unaufhaltsamen Niedergang seiner bürgerlichen Existenz manifestiert ( – in  in jenen Wochen denkt Mozart ernstlich an eine Übersiedlung nach England, von der er sich eine Lösung seiner immer bedrohlicher werdenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten erhofft, und knapp ein halbes Jahr später, nach der Zerschlagung dieser Pläne, muß er – äußeres Zeichen seines sozialen Abstiegs – die repräsentative Stadtwohnung gegen ein bescheidenes Vorstadtquartier tauschen –  ), daß diese „prosaische“ Tragik so unbegreiflich fern jener Welt lag, in die Mozart sich scheinbar mühelos erheben konnte und in der er mit jedem neuen Werk immer heimischer wurde.

Der erste Satz (Allegro) ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel jener „klassischen“ Klarheit und Ökonomie, die den Mozartschen Stil der Wiener Jahre prägen. Ganz ohne Übertreibung oder Spitzfindigkeit könnte man sagen, daß das gesamte Material des Satzes schon in den ersten beiden Takten enthalten ist. So phantasievoll wird das Hauptthema  den wechselnden dramaturgischen Erfordernissen des Satzablaufes angepaßt und so raffiniert wird der Schwung des unscheinbaren Geigenmotivs des zweiten Taktes ausgenützt, daß man das „Fehlen“ eines kontrastierenden Seitenthemas erst bemerkt, wenn es – verspätet und damit gleichsam von der Last architektonischer Funktion befreit – am Anfang der Durchführung doch noch eintritt. (Dieser Gestaltungsform werden wir in Mozarts Werk ab hier häufiger begegnen, so etwa gleich einige Monate später im Kopfsatz der vierhändigen Klaviersonate C-Dur, KV 521.) Solche unerwarteten Geschenke machen sinnfällig, daß Ökonomie von Form und Material, wie sie die höchsten Kulturleistungen aller Zeiten auszeichnen, nichts mit jener spartanischen Strenge zu tun hat, die uns Dogmatiker und Diktatoren immer wieder als „klassisch“ anpreisen.

Besonders subtil und organisch ist die Anbindung des folgenden Larghettos (Es-Dur) an den Kopfsatz: Aus der Codagestalt des Kopfmotivs, die die Schlußtakte des ersten Satzes beherrscht, erwächst der charakteristische Auftakt zum Hauptthema des folgenden Satzes. Die schon oben erwähnte Nähe des Werkes zum B-Dur-Klavierkonzert KV 450 zeigt sich hier nicht weniger als im vorigen Satz; auch hier entsprechen Tonart, Charakter und formale Einzelzüge dem jeweiligen konzertanten Gegenstück. Der außergewöhnlich weiträumige Satz hat jedoch eine sehr eigenwillige Form, in der Elemente eines Rondos mit solchen eines Variationssatzes zu einer völlig homogenen Einheit verschmelzen, die – gleichsam auf Fernwirkung berechnet – den Eindruck einer dreiteiligen Liedform vermittelt. Wie schon eingangs erwähnt, zeigt und ein Blick ins Autograph (das seit dem Ende des 2. Weltkrieges in Krakau aufbewahrt wird), daß eine solche natürlich gewachsene Einheit auch bei Mozart durchaus das Resultat suchender Auswahl (und nicht nur „göttlicher Eingebung“) ist: Die zentrale As-Dur-Episode, die für die Physiognomie dieses Satzes so entscheidend ist, wird an einer Stelle eingefügt, an der  Mozart zunächst einen ganz anderen (den Variationencharakter verstärkenden und wesentlich „gewöhnlicheren“) Verlauf konzipiert hatte.

Wie sehr solche Entscheidungen, die zunächst nur den konkreten Ablauf eines Satzes zu betreffen scheinen, die Gesamtarchitektur eines ganzen Werkes mitbestimmen können, erweist sich exemplarisch am abschließenden Rondosatz (Allegretto). Die Einfügung und besondere Hervorhebung der Mittelepisode hatte im Larghetto das formale Gewicht so sehr zugunsten des Rondotyps verschoben, daß sich eine Wiederholung dieses Typs (den etwa auch der Schlußsatz von KV 450 repräsentiert) nicht anbot. Daher verzichtet Mozart in diesem Rondo auf alles, was der Mittelepisode eigenständiges thematisches Relief oder harmonische Stabilität geben könnte und ersetzt sie durch einen Durchführungsteil (was dem Satz wiederum Züge eines Sonatensatzes verleiht); folgerichtig wird aber die (im Larghetto „unterentwickelte“) erste Episode hier besonders betont und liefert auch das motivische Material für den „Schlußstein“ des Werkes. Auf diese Weise schafft Mozart einen komplementären Bezug zwischen Larghetto und Allegretto, der durch die Identität der melodischen Anfangsgeste beider Sätze noch dezent hervorgehoben wird. Zusammen mit dem assoziativen Raffinement, das den ersten Satz an das Larghetto bindet, ist hiemit ein kaum mehr zu überbietendes Maß an organischer Kohärenz des Werkganzen erreicht, ohne daß die Individualität und inhaltliche Geschlossenheit der Einzelsätze in irgendeiner Weise beschnitten erschiene – eine Meisterleistung, wie wir sie bei Mozart nur allzugern als „einfach gegeben“ hinnehmen.

© Claus-Christian Schuster

Mozart – Trio KV 496

Wolfgang Amadeus Mozart
* Salzburg, 27. Jänner 1756
† Wien, 5. Dezember 1791

Trio für Klavier, Violine und Violoncello, G-Dur, KV 496

komponiert: Wien (Domgasse 5), beendet am 8. Juli 1786
Uraufführung: nicht dokumentiert
Erstausgabe: Franz Anton Hoffmeister, Wien 1787

Mozarts kammermusikalisches Schaffen tritt um die Jahreswende 1784/85 in eine neue Phase. Die zügige Beendung der „Haydn-Quartette“ ( – die zweite Hälfte dieser Serie, KV 458/KV 464/KV 465, entsteht im Laufe weniger Wochen – ) bezeichnet eine neue Etappe in der Geschichte des Streichquartetts. Mit der Komposition der beiden Klavierquartette (KV 478, KV 493) erschließt Mozart sich ein völlig neues Genre, in dem er die kompositorische Erfahrung der vorangegangenen Jahre (vor allem auf dem Gebiete des Klavierkonzertes und des Streichquartetts)  zusammenfassend erweitert; und bald darauf (1787) wird er mit den Streichquintetten (KV 515, KV 516, KV 406) eine weitere Kammermusikgattung auf allerhöchstem Niveau inaugurieren. In diesem letzteren Falle greift Mozart auf eine Form zurück, die ihn schon 1773 (Streichquintett KV 174) beschäftigt hat, der er sich aber nun mit völlig anderen Mitteln nähern kann. Ganz ähnlich ist die Situation bei dem uns hier interessierenden Genre des Klaviertrios: Auch in dieser Gattung hatte Mozart seit einem Jahrzehnt (Divertimento KV 254, August 1776) kein Werk mehr vollendet, und auch hier macht er sich nun mit einem gänzlich neuen Rüstzeug an die Lösung der Aufgabe. Daß diese Aufgabe auch mit den neuerworbenen Mitteln nicht eben einfach zu bewältigen war, zeigt uns nicht nur die Reihe vorangegangener und liegengelassener Versuche (KV 442, KV 495a), sondern auch ein Blick auf das Autograph. Aus dem Nebeneinander von schwarzer und roter Tinte, den ungewöhnlich zahlreichen Veränderungen und Korrekturen, die einen recht komplizierten Arbeitsprozeß widerspiegeln, und schließlich dem ursprünglichen Titel „Sonata“ ergibt sich ein beredtes Bild von der Entstehungsgeschichte des Werkes, das – wie sich aus all diesen Indizien mit einiger Schlüssigkeit vermuten läßt – ebenso wie Mozarts zweites G-Dur-Klaviertrio (KV 564) wohl ursprünglich als Klaviersonate konzipiert worden sein dürfte.

Im Kopfsatz (Allegro) ist diese etappenweise Genese gewissermaßen in eine Abfolge von Klangfarben sublimiert. Das Klaviersolo des Anfangs (Vordersatz einer asymmetrischen Periode) wird schon im Nachsatz in einen ungemein lebendigen Dialog zwischen Geige und Klavier umgestaltet, der in assoziativer Dichte auf die das Seitenthema vorbereitende Wechseldominante zustrebt. Auch im Seitensatz, in dem sich übrigens die dezente Unregelmäßigkeit des Hauptthemas spiegelbildlich wiederholt (gemessen an der „metrischen Norm“ des Sechzehn-Takters hat nämlich der erste Teil des Seitenthemas um genau den einen Takt zuwenig, den der entsprechende Teil des Hauptthemas zuviel hat), bleibt das Violoncello völlig im Hintergrund. Erst in der Durchführung, die ausschließlich das motivische Material der ersten beiden Takte des Werkes verarbeitet, wird diese bisher ausgesparte Farbe ins Spiel gebracht und dem Violoncello eine führende Rolle zugewiesen. Auch hier ist das offenkundigste Gestaltungsprinzip das der Klangfarbenmischung (zunächst Violoncello/Klavier, dann Geige/Klavier). Die Veränderungen der Reprise gegenüber der Exposition sind relativ geringfügig, aber so typisch, daß es wert scheint, sie festzuhalten. Zunächst, und das ist die augenfälligste Veränderung, wird das eröffnende großflächige Klaviersolo durch eine dialogische Gestalt ersetzt. Das erscheint nur logisch, weil man nach der Stimmdurchmischung der Durchführung eine Wiederaufnahme der „isolierten“ Ausgangsform wohl als Rückschritt empfinden würde. Sehr viel spekulativer muten die anderen Veränderungen an: Die oben erwähnte Asymmetrie des Hauptsatzes (17+19 Takte) wird durch einen intensivierenden Eingriff beseitigt, ohne aber die metrische Anomalie fallen zu lassen (der Hauptsatz umfaßt in der Reprise 17+17 Takte). Wer meint, dieser Eingriff sei nur ein (gleichsam zufälliger und folgenloser) Nebeneffekt der gegenüber der Exposition veränderten harmonischen Erfordernisse (Etablierung der Dominante anstelle der Wechseldominante zur Vorbereitung des Seitensatzes), der wird kurz vor Schluß des Satzes eines anderen belehrt: Dort fügt Mozart nämlich die „verlorenen“ zwei Takte wieder ein, in dem er den die Codetta vorbereitenden Trugschluß wiederholt. Der sinnlichen Wirkung dieser letzten, kleinen Veränderung (Verstärkung der Schlußwirkung) entspricht also ein kaum unmittelbar hörend erfahrbares, sondern nur durch Analyse nachvollziehbares „Kalkül“, durch das die äußere Proportion der Formteile harmonisiert wird.

Der zweite Satz (Andante, C-Dur) ist, was die Dichte der motivischen Arbeit und das ungezwungene Raffinement kontrapunktischen Einfallsreichtums betrifft, wahrscheinlich der Höhepunkt in Mozarts Trioschaffen. An keiner anderen Stelle in seinen Klaviertrios sind die kompositorischen Früchte der Arbeit an den „Haydn-Quartetten“ so sicht- und hörbar. Diese Nähe zu den Streichquartetten führt zu einem in der gesamten Trioliteratur recht vereinzelt dastehenden Befund: Auf weite Strecken ließe sich die Faktur dieses Satzes nahezu eingriffslos für Quartett übertragen. Keimzelle des Satzes ist ein den Raum einer Quint (mit Umspielung: einer Sext) durchmessendes Skalenfragment – etwas schlichteres und anspruchsloseres ließe sich wohl kaum mehr finden. Mozart gelingt es, aus diesem Nichts an Material ein unglaubliches Wunderwerk von einander sanft berührenden und umschlingenden Linien zu zaubern. Spielerisch lockert und verdichtet sich dieses Gewebe, bis es in den Schlußtakten zu fünffacher Engführung verknüpft wird – bei aller Einfachheit des Ausgangsmaterials nun doch schon wieder eine Art gordischer Knoten! Gleichsam nebenbei versäumt Mozart nicht, dieses scheinbar frei assoziative Spiel den Formerfordernissen eines Sonatensatzes anzupassen. Durch diese bei Mittelsätzen nicht allzu häufige Form wird der schon in der Motivik präformierte Zusammenhang mit dem ersten Satz noch verstärkt. Dieser Konnex entspricht etwa jenem zwischen dem zweiten und dritten Satz von KV 502, und ähnlich wie dort begegnet Mozart der immanenten Gefahr formaler Monotonie durch die Verwendung zweier sehr unterschiedlicher Spielarten des gleichen Formschemas (radikale Monothematik des zweiten gegen die ausgeprägte Bithematik des ersten Satzes).

Die Finalvariationen (Allegretto) basieren auf einer sehr schlichten und rustikal anmutenden Gavotte, deren einzige „Komplikation“ eine Serie von Quint-Sext- und Sekundakkorden über einem chromatisch fallenden Baß (Anfang der zweiten Themenhälfte) darstellt. Die ersten drei Variationen folgen dem altvertrauten figurierenden Schema. Auffällig ist zunächst nur, daß auf eine Klavier- und eine Geigenvariation wieder eine Klavier- und nicht die erwartete Cellovariation folgt. Mit der vierten Variation löst sich dieses Rätsel, freilich nur, um noch viel schwierigere an seine Stelle zu setzen. Der unvermittelte, rücksichtslose Übergang vom unverbindlich freundlichen Plauderton der vorhergehenden Variation zu dem erschütternden Todesernst dieser Mollvariation hat in der gesamten Musikliteratur kaum eine Parallele. Auch die Klang- und Rollenverteilung zwischen den Instrumenten ist ungewöhnlich. Nach Mozarts ausdrücklicher Anweisung übernimmt das Cello mit seiner Baßlinie die Führung. Diese Baßlinie hat jedoch nichts mehr von der springenden Gutmütigkeit des Tanzbasses, sondern sie bewegt sich, beklommen und beklemmend, in quälenden Intervallen und in monotoner Viertelbewegung dahin, während das Klavier zaghafte und kurzatmige Fragen flüstert, die in der Geige nur von einem matten, sich immer wiederholenden und schließlich kraftlos niedersinkenden Seufzermotiv beantwortet werden. Es nimmt nicht wunder, daß ein so expressives und kompromißloses Tonbild auch den vom Thema vorgegebenen formalen Rahmen sprengen muß. Während die erste Themenhälfte auch in diesem düsteren Licht noch als ein ferner Schatten erahnbar bleibt, ist der zweite Teil des Themas bis zur völligen Unkenntlichkeit verfremdet. Für den stummen Schmerz der ganzen Stelle bezeichnend ist die Tatsache, daß gerade jene andeutungsweise „Komplikation“ im Thema, von der zu Beginn die Rede war, in die Wortlosigkeit verbannt wird: An der entsprechenden Stelle verstummen die ostinaten Streicherstimmen, und das Klavier bleibt mit einer tonlos wiederholten Frage allein zurück. Die hier eingesetzten Ausdrucksmittel und Tongestalten sind in ihrer Summe so erdrückend, das Licht so fahl und erschreckend, daß man sich unwillkürlich  in die Menschheitsdämmerung des Expressionsimus versetzt fühlt. Nur der dicke Panzer überkommener Hör- und Spielgewohnheiten könnte uns in der Illusion ungebrochener „Klassizität“ über diese Stelle hinwegtragen. Die Schlußwendung der Variation entläßt uns wie nach schwerem Traum wieder ins heimatliche G-Dur. Aber hier scheint zunächst alles verändert: Die ganze fünfte Variation (Adagio) ist nichts als ein zögerndes und tastendes Wiedererinnern und Wiederfinden. Schließlich wähnen wir uns genesen, und einige kadenzierende Takte führen uns zuversichtlich zur Schlußvariation (Primo tempo). Man meint, wieder festen Tanzboden unter den Füssen gewonnen zu haben, und die alte, naive Gavotte schickt sich an, das letzte Wort zu behalten. Alles gibt sich gelöst und glücklich, da erscheint plötzlich das Gespenst der  Mollvariation, mit dem allernotdürftigsten und durchscheinenden Umhang aus Dur bedeckt, wieder. Der Vorgang ist so unerhört und unerwartet, daß man weder die Fassung noch die Zeit findet, ihn in seiner ganzen Tragweite wahrzunehmen, denn schon vertreibt ein gläubiges „Non confundar!“ in einer letzten und äußersten Willensanstrengung (mit einer direkt von Händel herkommenden Geste) den bedrohlichen Schatten. Licht und Hoffnung scheinen den Sieg davongetragen zu haben – und dennoch muß die letzte Frage dieses Satzes unbeantwortet bleiben.

© Claus-Christian Schuster

Mozart – Quartett KV 478

Wolfgang Amadeus Mozart
* Salzburg, 27. Jänner 1756
† Wien, 5. Dezember 1791

Quartett für Klavier, Violine, Viola und Violoncello (Nr.1), g-moll, KV 478

komponiert:  Wien, beendet am 16. Oktober 1785 (I., Domgasse 5/Schulerstraße 8)
Uraufführung: nicht dokumentiert
Erstausgabe: Wien, Hoffmeister, Dezember 1786

Mozarts zwei im Jahr 1785/86 entstandene Klavierquartette sind die ersten bedeutenden Beispiele eines Kammermusikgenres, das zwar immer im Schatten anderer und ungleich reicher mit Meisterwerken bedachter Musizierformen stand, das aber – vielleicht gerade wegen seiner relativen „Ungewöhnlichkeit“ – besonders viele außergewöhnliche Schöpfungen zu verzeichnen hat. Entwicklungsgeschichtlich ist das Klavierquartett ein direkter Abkömmling der barocken „Sonata a tre“ (mit der Normbesetzung 2 Violinen und basso continuo), wobei das ursprünglich den Baß nur stützende Cembalo Hand in Hand mit seiner schrittweisen Ersetzung durch das Hammerklavier allmählich die Führungsrolle übernahm. Tatsächlich findet man im Kammermusikrepertoire der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts weit mehr Klavierquartette in der die unmittelbare Abstammung von der „Sonata a tre“ sogleich zu erkennen gebenden Besetzung von 2 Violinen, Violoncello und Klavier. Die für uns „klassisch“ gewordene Besetzung, in der die zweite Geige durch eine Bratsche ersetzt wird, ist in vielleicht noch höherem Maße, als man das für die Schwestergattungen Klaviertrio und Streichquartett behaupten kann, eine Erfindung der Wiener Klassik. Das älteste bisher bekannt gewordene Stück dieser Besetzung ist ein (unveröffentlichtes) Divertimento des Beethoven-Freundes Emanuel Aloys Förster (1748-1823) aus dem Jahre 1771. Im Druck begegnet uns das Klavierquartett zuerst im „Notturno en Quatuor“ (komponiert 1778 in Mannheim, gedruckt 1781 in Paris) des Abbé  Georg Joseph Vogler (1749-1814). Ein Jahr nach dem Erscheinen dieses Werkes veröffentlichte Johann Baptist Vanhal (1739-1813) in Wien ein Klavierquartett (op. 29 Nr. 3, 1782). Die Entstehung der Mozartschen Klavierquartette erscheint also musikhistorisch durchaus plausibel. Doch es hieße den tieferen Sinn und Wert dieser Werke gründlich verkennen, wollte man in ihnen bloß die Widerspiegelung einer Modeerscheinung sehen. Es scheint vielmehr, daß ihr Erscheinen in Mozarts Oeuvre sozusagen von langer Hand vorbereitet ist: Die ersten Jahre von Mozarts Wiener Lebensjahrzehnt zeigen uns einen tiefgreifenden Entwicklungsschub in zwei grundverschiedenen Genres, mit denen Mozart sich schon  in den 1770er Jahren eingehend beschäftigt hatte: dem Klavierkonzert und dem Streichquartett. Zwischen Ende 1782 und Anfang 1785 entstehen (von Einzelsätzen sowie zahlreichen Fragmenten und Entwürfen abgesehen) 11 Klavierkonzerte (KV 413 bis KV 467) und 6 Streichquartette (die „Haydn-Quartette“), in denen diese beiden Genres auf eine neue Entwicklungsstufe gehoben werden. Das Klavierquartett bietet nun Mozart die Möglichkeit, die Errungenschaften aus diesen beiden gegensätzlichen Entwicklungslinien in Eines zu verschmelzen: der symphonische Dialog und die brillante Gestik des Klavierkonzertes verbinden sich hier mit der gesammelten Innigkeit und dem subtilen Raffinement des Streichquartetts. Diese auf den ersten Blick unmöglich erscheinende Synthese macht den Zauber und die Eigenart dieser Werke aus; es ist damit gleichzeitig aber auch ein Punkt erreicht, wo Mozarts Kunst Geschmack und Aufnahmsfähigkeit seiner Zeit nicht mehr in Rechnung stellt. Mozart hatte offenbar mit seinem Logenbruder, dem Komponisten Franz Anton Hoffmeister (1754-1812) vertraglich vereinbart, für dessen 1784 gegründeten Verlag eine Serie von (den damaligen Usancen entsprechend wahrscheinlich drei oder sechs) Klavierquartetten zu schreiben. Als sich das erste dieser Werke, unser g-moll-Quartett, das unmittelbar nach seiner Fertigstellung in Druck ging, als für das Publikum zu anspruchsvoll und schwierig erwies, scheint Mozart seinen Freund von der Verpflichtung zur Übernahme der Quartette entbunden zu haben. Das zu diesem Zeitpunkt offenbar schon fertiggestellte zweite Quartett (Es-Dur, KV 493) ließ er dann erst 1787 bei Artaria erscheinen; die anderen Werke der geplanten Reihe wurden nie in Angriff genommen. Auf dem Postwagen, der Mozarts neue Werke von Wien nach Salzburg bringt, sind wie zur sinnfälligen Illustration der inneren Zusammenhänge These, Antithese und Synthese – Streichquartett, Klavierkonzert und Klavierquartett – friedlich vereint:

„…gestern brachte endlich der Austräger ein wohlverwahrtes Päckl vom Postwagen mit den 6 Quartetten, und 3 Sparten. näm: ein Quartett mit dem Clavier, Violino, Viola und Violoncello obligato. Dann die 2 grossen neuen Clavier Concerte. Das Clavier quartetto ist erst vom 16ten october dieses jahr, und liegen schon das Violin und Viola, weils bereits gestochen sind, im Abdruck dabey.“

schreibt Leopold Mozart am 2. Dezember 1785 an seine Tochter nach St. Gilgen. Über den Genuß, den ihm diese Werke verschafft haben müssen, erfährt Nannerl nichts, weil dieser Brief ebenso wie die folgenden ansonsten fast ausschließlich die Gesundheit von Nannerls Sohn Leopold, der sich in diesen Monaten beim Großvater befand und nach dessen amüsiertem Urteil (wegen eines Hautausschlags) „einem Saufbruder ähnlich“ sah, und verschiedenen pikanten Tratsch zum Gegenstand hat. Daß aber Vater Mozart fürwahr allen Grund hatte, auf das neueste Werk seines Sohnes stolz zu sein, können wir leicht nachvollziehen. Das Unisono-Incipit des Kopfsatzes (Allegro, g-moll, C – und nicht, wie der „gesunde Musikverstand“ oft vorauszusetzen scheint, alla breve!) ist von so lakonischer Kraft und Prägnanz, daß es – stünde es nicht in so raffiniert kammermusikalischem, sondern in publikumswirksamerem, symphonischem Kontext – gute Chancen hätte, mit anderen emblematischen Incipits der Klassik (etwa mit jenem ominösen von Beethovens V. Symphonie) erfolgreich zu konkurrieren: Und in der Tat wird sich einer der würdigsten Nachfolger Mozarts, Antonín Dvořák, bei seinen allerersten Schritten auf dem Gebiet der Kammermusik gerade an diese monumental-lapidare, wahrhaft klassische „Eröffnung“ erinnern und sie zur idée fixe des Finales seines Opus 1 (Streichquintett a-moll, B 7, 1862) machen. Mit dem charakteristischen Dialog zwischen Tutti und Solo findet man sich sofort mitten in der Dramatik eines Konzertsatzes. Unter Mozarts Klavierkonzerten stehen nur zwei in Moll (KV 466, d-moll, und KV 491, c-moll), und beide sind in unmittelbarer Nachbarschaft der Klavierquartette entstanden. In den Kopfsätzen dieser beiden Konzerte ist der für das Genre typische dialogische Konflikt zwischen Soloinstrument und Orchester gleichsam hinausgezögert – das Klavier kommt jeweils erst am Ende einer deutlich symphonische Züge tragenden Orchesterexposition zu Wort. Verglichen damit präsentiert sich unser Klavierquartett mit seiner zeitlich gerafften Abfolge von Rede und Gegenrede also sogar „konzertanter“ als die Konzerte. Bemerkenswert ist, daß die Solopartien aller drei zitierten Moll-Werke mit dem gleichen expressiven Oktavruf auf der Dominante beginnen, dem jedes Mal eine resignativ fallende Geste folgt. Ganz der Stilwelt der Streichquartette entstammt die kontrapunktische Klarheit, mit der das Motto die weitere Entwicklung trägt und prägt. Der von der thematischen Keimzelle des Mottos ausgehende düster beharrende Grundton des Satzes wird nur wenige Male spielerisch aufgelockert, niemals ganz aufgegeben. In den allerletzten Takten tritt dann der recitativische Ursprung dieses Hauptmotivs ganz klar zutage: der Satz endet mit einer Unisono-These, deren Ernst und Strenge nicht nur keinen Widerspruch zu dulden, sondern auch keine Weiterentwicklung zuzulassen scheint. Um so erstaunlicher und beglückender ist, wie im folgenden Andante (B-Dur, 3/8) das Eis Takt für Takt dahinschmilzt – die rhythmische Monomanie des Kopfsatzes löst sich auf die einfachste Weise der Welt, und man vermeint, das unschuldige und ahnungsvolle Plätschern eines Frühlingsbaches zu hören, an dessen endlich befreiten Ufern sich dann im abschließenden Rondeau (G-Dur, C) aller lang aufgestaute kindliche Übermut ausleben darf. Das fast erdrückende, bedrohliche Übergewicht des Kopfsatzes in der Gesamtarchitektur des Werkes ist ganz sicher gewollt und für die Dramaturgie des Werkes entscheidend; die gängige Interpretenausflucht vor diesem vermeintlichen Problem (nämlich, wie es eine ebenso üble wie unausrottbare „Spieltradition“ diktiert, den ersten Satz „quasi alla breve“ zu spielen und die Wiederholung von Durchführung und Reprise geflissentlich zu „überspringen“) greift auf jeden Fall viel zu kurz – ein Musterbeispiel dafür, daß Treue gegenüber dem Buchstaben eines Werkes sehr wohl auch etwas mit der Treue gegenüber dem innewohnenden Geist zu tun hat.

© Claus-Christian Schuster

Mozart – KV 442

Wolfgang Amadeus Mozart
* Salzburg, 27. Jänner 1756
† Wien, 5. Dezember 1791

Fragment eines Triosatzes in d-moll, KV 442/1 (Anhang I, a.)

Fragment eines Tempo di Menuetto G-Dur, KV 442/2 (Anhang I, b.)
komponiert: Wien, um 1785/86 (?)

Fragment eines Allegro in D-Dur, KV 442/3 (Anhang I, c.)
komponiert: Wien um 1788/89 (?)

Uraufführung: nicht dokumentiert

Erstausgabe: Johann André, Offenbach, 1797 (mit den Ergänzungen von Maximilian Stadler [1748-1833])

Die drei Triofragmente, die sich in Mozarts Nachlaß fanden und von Abbé Maximilian Stadler, handwerklich durchaus solide, aber auf vielleicht doch allzu biedere Weise, ergänzt und willkürlich zu einem „dreisätzigen Trio“ zusammengestellt wurden, haben nur aus diesem Grund eine gemeinsame Nummer im Köchelverzeichnis erhalten. Sie geben der Mozartforschung bis heute kaum lösbare Rätsel auf. Um mit den wenigen Gewißheiten zu beginnen: Ganz sicher sind diese drei Fragmente nicht Teile eines Werkes. Zweifellos entstammen sie alle drei der Wiener Zeit des Komponisten, wobei die – der Zuteilung der KV-Nummer 442 zugrundeliegende – Hypothese, sie seien alle etwa gleichzeitig um 1783 entstanden, heute kaum mehr ernsthaft vertreten wird. Aber auch die ausgereiften „kriminalistischen“ Methoden der modernen Musikologie konnten bezüglich der Datierung der drei bemerkenswerten Torsi keine Klarheit bringen. Und damit sind wir auch schon mitten im Feld der sich um diese Bruchstücke rankenden Mutmaßungen und Konflikte, die Interpreten und Publikum offenbar von einer Annäherung an diese mit allzu vielen Fragezeichen versehene Musik abhalten.

Die Komposition des Divertimentos KV 254 lag jedenfalls schon etliche Jahre zurück, als Mozart begann, sich für das von ihm bis dahin kaum beachtete Genre des Klaviertrios zu interessieren. Den beiden mit einiger Sicherheit auf Juli und November 1786 zu datierenden, überaus kurzen Fragmenten KV Anh. 52 (495a, G-Dur) und KV Anh. 51 (501a, B-Dur), die als verworfene bzw. liegengelassene Ansätze zu den vollendeten Trios KV 496 (G-Dur) und KV 502 (B-Dur) gedeutet werden können, waren wohl schon andere Versuche vorausgegangen. Wenn wir uns in Erinnerung rufen, wie eng die Beziehungen zwischen Mozart und Haydn gerade in dieser Zeit waren – „Amico carissimo“, ja sogar „Padre, Guida ed Amico“ nennt Mozart seinen Quartettkollegen in der Widmung (1. September 1785) der sechs zwischen 1783 und 1785 entstandenen Streichquartette „Opera X“ –, wird man gerne glauben, daß Mozart über die Entstehung und die hürdenreiche Drucklegung jener Haydnschen Klaviertrios (Hob. XV:6-8), die Artaria Ende April 1786 endlich herausbrachte, bestens unterrichtet war; und so unzweifelhaft diese (allzu selten zu hörenden) Trios einen Meilenstein in der Geschichte des Klaviertrios darstellen, so wenig werden diese Werke ihren Eindruck auf Mozart verfehlt haben. Man kann also, ohne sich allzu gewagter Spekulation schuldig zu machen, annehmen, Haydns Fortschritte auf diesem Feld haben Mozarts Interesse auf die Gattung Klaviertrio gelenkt. Sollte diese Mutmaßung richtig sein, so könnten die Fragmente in d-moll und G-Dur sehr wohl, wie schon von verschiedener Seite vorgeschlagen, recht bald nach den Haydnschen Schwesterwerken und somit in großer zeitlicher Nähe zu jenen beiden Mozartschen Klavierkonzerten entstanden sein, die in ihnen an einigen Stellen anzuklingen scheinen: nämlich jenem in d-moll (KV 466, Februar 1785), das dem Fragment in der selben Tonart nahesteht, und jenem in c-moll (KV 491, März 1786), dem das G-Dur-Fragment verwandt ist.

Anders liegen die Dinge im Falle des D-Dur-Allegros. Dieses von Stadler als „Schlußsatz“ eingerichtete Fragment ist fast mit Sicherheit als Kopfsatz eines Trios gedacht und gilt der Mozartforschung heute als das allerletzte von Mozart in Angriff genommene Klaviertrio. Aufgrund stilistischer und idiomatischer Merkmale hat man für dieses Allegro eine Entstehungszeit nicht vor der Jahreswende 1788/89 angenommen, ja einige Indizien – so etwa die Parallelen zum Kopfsatz des Streichquintetts in Es-Dur KV 614 (April 1791) – scheinen sogar einen noch späteren Termin zu suggerieren. In jedem Fall dokumentiert dieser Torso die Fortsetzung des schöpferischen Diskurses zwischen Mozart und Haydn, dessen 1788/89 entstandenen Klaviertrios op. 57 (Hob. XV:11-13) eine neue Entwicklungsstufe in der Gattungsgeschichte repräsentieren.

Der Entschluß, weder die Ergänzungen des braven Abbé Stadler noch auch einen der anderen Vervollständigungsversuche vorzulegen und uns schlicht auf den fragmentarischen Originaltext Mozarts zu beschränken, hat vor allem mit dem alles anderen als schulmäßigen Verlauf der drei Fragmente zu tun. Obwohl man nicht leugnen kann, daß die Haydnschen Trios in ihrem Ablauf noch um eine deutliche Spur unvorhersehbarer sind als die Werke Mozarts, so wird doch allen drei Fragmenten jede auch noch so gut gemeinte und solide fundierte „Fortsetzungsprognose“ wohl schwerlich gerecht werden können. Deshalb möge dieser Entschluß auch durchaus nicht als Kritik an Maximilian Stadler, dem profunden Mozartkenner und hochverdienten Ehrenmitglied der Gesellschaft der Musikfreunde, mißverstanden, sondern einfach als Geste der Ehrfurcht vor dem Genie Mozarts begriffen werden.

Das kürzeste der drei Fragmente ist jenes in d-moll. Die 55 niedergeschriebenen Takte führen uns nicht einmal an das Ende der Exposition eines Sonatensatzes – aber welcher Reichtum ist auf diesem engen Raum ausgebreitet! Das Hauptthema, dessen tragisch getöntes Piano-Parlando von resoluten Forteakkorden unterbrochen und gegliedert wird, ist durch die rhetorisch kunstvolle Erweiterung des Nachsatzes von eigenartiger Asymmetrie, die auf das sich zunächst viel „regelmäßiger“ und „gesanglicher“ gebende Seitenthema durchschlägt: Hier verirren wir uns in harmonisch so entfernte Regionen, daß die erste Schlußgruppe eine ganze Menge geschwätziger Geschäftigkeit aufwenden muß, uns in der Dur-Parallele heimisch werden zu lassen. Das Fragment bricht mitten in der ersten Kadenz dieses Passus ab – und man wird den Verdacht nicht ganz los, daß auch diese Kadenz auf trügschlüssige Abwege führen hätte können (ein Gedanke, den Abbé Stadler allerdings geflissentlich zu unterdrücken wußte).

Während dieses D-moll-Fragment gewiß als Beginn eines ersten Satzes anzusehen ist, wirft das Tempo di Menuetto – mit 151 Takten das textlich längste der drei Bruchstücke – schon hinsichtlich seiner Stellung im geplanten Werkganzen schwer zu beantwortende Fragen auf. Wir kennen aus der für die Entstehung des Entwurfs in Frage kommenden Zeit kein einziges Werk Mozarts, das ein so ausgedehntes Menuett beinhalten würde: An der Stelle, an der das Fragment abbricht, ist Mozart eben dabei, uns – nach einem für ein Menuett eher ungewöhnlichen „Durchführungs“-Abschnitt – ein viertes (!) Thema zu präsentieren. Die ganze Anlage des Bruchstücks läßt keinen Zweifel daran, daß der Satz außergewöhnlich weiträumig konzipiert gewesen sein muß. Die für das Menuett als Mittelsatz bei Mozart verbindliche Form mit einem deutlich abgesetzten Trio sollte hier offenbar durch eine völlig anders geartete Architektur ersetzt werden, für die es aber auch in den Mozartschen Finalsätzen – zumindest mit der Bezeichnung „Menuett“ – nicht einmal annäherungsweise eine Parallele gibt. Ob als Mittel- oder (wahrscheinlicher) als Finalsatz: ungewöhnlich bleibt der Torso in jedem Fall, und auch hier trägt die Stadlersche Fortführung in ihrer routinierten Artigkeit ganz sicher nicht dazu bei, uns den Plan des Komponisten zu vergegenwärtigen.

Mit dem Allegro in D-Dur, von dem Mozart 133 Takte fast vollständig notierte, befinden wir uns allem Anschein nach in der Zeit nach den drei zwischen Juni und Oktober 1788 entstandenen Klaviertrios. Da alle fünf in Wien vollendeten Klaviertrios jeweils relativ bald nach ihrer Beendigung in Einzelausgaben erschienen, kann der Kompositionsanlaß für dieses jüngste Trio nicht die Vervollständigung einer Werkserie für die gemeinsame Herausgabe (etwa in der damals handelsüblichen Sechszahl) gewesen sein, sondern bezeugt eher das unverminderte Interesse Mozarts an der Erforschung der sich im Klaviertrio eröffnenden Möglichkeiten – jener Möglichkeiten, die in den vier Jahren nach Mozarts Tod auf völlig unterschiedliche Weise, aber mit der gleichen Beharrlichkeit und Konsequenz von Haydn und Beethoven erkundet werden sollten. Es handelt sich bei diesem D-Dur-Fragment wohl kaum um einen Finalsatz, zu dem es die Dramaturgie der Stadlerschen Triokonstruktion notgedrungen macht, sondern aller Wahrscheinlichkeit um einen Kopfsatz, der den im XVIII. Jahrhundert so beliebten Topos der Jagdmusik auf ebenso originelle wie brillante Art abwandelt. Offenbar ist die Niederschrift bis zur Reprise gediehen, so daß in diesem Fall die Stadlersche Vervollständigung auf gesicherterem Grund zu stehen scheint als bei den beiden anderen Fragmenten. Wer aber die Kammermusik Mozarts gerade der letzten Schaffensjahre auf „Reprisen-Surprisen“ hin untersucht hat, wird zugeben müssen, daß auch hier der Versuch, das Werk Mozarts fortzuschreiben, bestenfalls naiv ist. Vielleicht bietet aber gerade unsere Zeit, die doch eine besondere Vorliebe für das vielzitierte work in progress entwickelt hat, und deren Interesse am Fragmentarischen und Unvollendeten manchmal sogar fetischistische Züge annimmt, ganz gute Voraussetzungen, um die bisher kaum je in ihrer Originalgestalt zu hörenden Blätter einfach als das zu nehmen, was sie sind: als geniale Torsi, die das Rätsel Mozart noch weiter vertiefen.

© Claus-Christian Schuster

Mozart – Divertimento KV 254

Wofgang Amadeus Mozart
* Salzburg, 27. Jänner 1756
† Wien, 5. Dezember 1791

Divertimento à 3 für Klavier, Violine, Violoncello und Klavier, B-Dur, KV 254

komponiert: Salzburg, August 1776

Uraufführung: nicht dokumentiert; erste dokumentierte Aufführung:
München, „Zum schwarzen Adler“ (Frauenplatz 4), 4. Oktober 1777
Wolfgang Amadeus Mozart, Cembalo
Charles Albert Dupreille (1728-1796), Violine
N.N., Violoncello

Erstausgabe: François-Joseph Heina, Paris, 1778

Das erste vollgültige Werk der Gattung Klavierkammermusik im Œuvre Mozarts ist eine Frucht jener glücklichen Zäsur in Mozarts bewegtem Leben, welche ihm zwischen den ausgedehnten und anstrengenden Reisen seiner Kindheit und dem großen Parisabenteuer, also zwischen September 1773 und September 1777 im Kreis seiner Familie in Salzburg vergönnt war. Diese Periode ist es vor allem, auf die sich die zahllosen Anekdoten vom vorlauten und ständig zu mitunter recht derben Spässen aufgelegten Wolferl beziehen, der etwa das hochanständige Tagebuch seiner Schwester mit allerlei verbalem Unflat bereicherte – aus dem Blickwinkel des XIX. Jahrhunderts ein irritierender Zug, der, ebenso wie die Unverblümtheit der Bäsle-Briefe, so gar nicht in das engelhaft verklärte Bild des Meisters passen wollte. Und eben dieser „Flegel“ Mozart ist es, der uns in den Ecksätzen (Allegro assai / Rondeaux. Tempo di Menuetto) des B-Dur-Divertimentos entgegentritt: niemals ist er um eine unerwartete Wendung, um ein den Zuhörer schalkhaft desorientierendes Detail verlegen, und doch fließt alles so natürlich, daß man hinterher jedesmal meint, es habe gar nicht anders kommen können. Der Mittelsatz, den diese beiden vitalen Kabinettstücke umrahmen (Adagio, Es-Dur), ist in denkbar großem Kontrast dazu ein herzinniges, im besten Wortsinn „empfindsames“ Stück, das auch als eine Reverenz an den verehrten Vorläufer Mozarts Carl Philipp Emanuel Bach verstanden werden könnte.

Mozart selbst scheint sich der Qualitäten seines Trio-Erstlings wohl bewußt gewesen zu sein, denn es gehört zu jenen ausgewählten Werken, die er während seines Parisaufenthaltes dort in Druck geben ließ.

Über die Uraufführung des Werkes ist nichts bekannt. Bei der frühesten nachweisbaren Aufführung in einer Privat-Akademie, die Mozart am „Hochfeyerlichen Nammens-tag seiner königlichen Hoheit des Erzherzogs Albrecht“ auf der Reise nach Paris in seinem Münchner Quartier veranstaltete, hatte er jedenfalls keinen Grund zur Freude. (Zum Troste heutiger Konzertbesucher: Diese „kleine accademie“ „fienge um halbe 4 Uhr an, und endigte sich um 8 uhr“!) Der Münchner Orchestergeiger und Tartini-Schüler Charles Albert Dupreille (1728-1796), den Mozart dazu eingeladen hatte, verärgerte den Meister schon im ersten Werk des Programms: „…mir war sehr leid, ich hörte ihn kaum; er war nicht im stande 4 täcte fort zu geigen ohne zu fehlen. Er fand keine applicatur. Mit die sospirs war er gar nicht gut freünd. Das beste war daß er sehr höflich gewesen…“ Beim anschließenden Divertimento wurde es dann noch bunter: „dann spiellte ich… daß Trio von mir. Das war gar schön accompagnirt. In Adagio habe ich 6 tact seine Rolle spiellen müssen.“

Über eine sehr viel befriedigendere Aufführung des Werkes hingegen konnte Leopold Mozart seinem Sohn einige Zeit später, am 26. Jänner 1778, nach Mannheim berichten, wohin dieser in der Zwischenzeit weitergereist war. Der Geiger Antonín Janič (1752?-1812) und der Cellist Josef Rejcha (1746-1795), die Wolfgang wenige Wochen zuvor in Hohenaltheim am Hofe des Fürsten Kraft Ernst von Öttingen-Wallerstein kennengelernt hatte, besuchten Vater Mozart in Salzburg – nicht zuletzt wohl, um ihm über das närrische Benehmen seines Sohnes zu berichten (der freilich postwendend beteuert, immer „ganz serios“ gewesen zu sein). Bei dieser Gelegenheit konnten sie einige von Mozarts Kompositionen hören, über die sie in großes Erstaunen gerieten und ausriefen: „….das heist recht gründlich Componiert! Sie accompagnierten dann der Nannerl dein Trio fürs Clavier ex B recht recht vortrefflich“.  Das ist das letzte Mal, daß wir zu Mozarts Lebzeiten von dem Werk hören – nicht ganz eineinhalb Jahre nach der Komposition war es für seinen Autor wohl schon „neiges d´antan“ geworden.

© Claus-Christian Schuster

Haydn – Trio Hob.XV:32

Joseph Haydn
*  31. März (1. April) 1732 Rohrau (Niederösterreich)
+ 31. Mai 1809 Wien

Trio G-Dur Hob.XV:32
komponiert: London, 1791/92 (?)
Widmung: (Marianne von Genzinger / Maria Anna Tost, geb. Jerlischek (?))
Uraufführung: nicht dokumentiert
Erstausgabe: Preston, London, 1794

Lange Zeit hindurch war dieses Werk nur in seiner (ursprünglichen?) Fassung als Sonate für Violine und Klavier bekannt. Manches spricht dafür, daß es sich wirklich um Haydns einziges Originalwerk dieses Genres handeln könnte – die auffällige Übereinstimmung des Beginns mit dem Thema des zweites Satzes aus W. A. Mozarts G-Dur-Sonate KV 301, die ja ebenfalls eine zweisätzige Violinsonate ist, könnte so besehen auch bewußtes Zitat sein. Mit ziemlicher Sicherheit kann man annehmen, daß diese „Sonate“ Haydns einzige Klavierkomposition aus der Zeit seines ersten Londoner Aufenthaltes (Jänner 1791 – Juni 1792) ist. Für ein „unkommerzielles“ Vergnügen, wie es das Schreiben eines so unspektakulären Stückes Kammermusik war, hatte der Meister damals allerdings wirklich wenig Zeit:

„…wenn Euer gnaden seheten, wie ich hier in London Seccirt werde in allen denen privat Musicken beyzuwohnen, wobey ich sehr viel zeit verliehre, und die menge deren arbeithen so man mir aufbürdet, würden Sie gnädige Frau mit mir und über mich das gröste Mitleyd haben, ich schriebe zeit lebens nie in Einen Jahr so viel als im gegenwärtig verflossenen, bin aber auch fast ganz Erschöpft, und mir wird es wohl thun nach meiner nach haußkunft ein wenig ausrasten zu können…“

(an Marianne von Genzinger, 17. Jänner 1792)

Daß Haydn schließlich doch noch Zeit fand, zwischen seine offiziellen Verpflichtungen die Komposition dieser Sonate einzuschieben, hat wahrscheinlich mit einem Vorfall zu tun, dessen Hintergründe nicht restlos geklärt sind: Anscheinend hatte Haydns Wiener Adlatus und Kopist Johann Elßler die Abwesenheit des Meisters dazu mißbraucht, eine Klaviersonate (wahrscheinlich Hob.XVI:49), die Haydn Frau von Genzinger und/oder deren Freundin Maria Anna („Nanette“) Jerlischek zugedacht hatte, zu eigenem Gewinn an den Wiener Verleger Artaria zu verkaufen, der das Werk natürlich ohne die vom Komponisten intendierte Widmung druckte. Haydn  ist empört:

„…ich Erschracke nicht wenig, als ich die unangenehme nachricht von der Sonate lesen muste, bey gott! Ich wolte lieber 25 Ducaten verlohren haben, als diesen diebstahl zu erfahren, und diss kann niemand anderer gethan haben, als mein eigener Copist. Allein, ich hofe zu Gott diesen verlust zu ersetzen…“

(an Marianne von Genzinger, falsch (?) datiert 2. März 1792)

Da unser Trio das einzige Klavierwerk dieser Zeit ist, liegt die Vermutung nahe, daß es sich hier um dieses versprochene „Ersatzstück“ handelt. Gedruckt wurde das Werk, und zwar wieder ohne Widmung, erst zwei Jahre später, während Haydns zweitem Londoner Aufenthalt. Die beiden Fassungen erschienen nahezu gleichzeitig, die Trioversion bei Haydns Londoner Verlag Preston und die Violinsonate in Wien bei Artaria. Es besteht zunächst kein triftiger Grund, an der Authentizität der Triofassung, d. h. konkret: der Cellostimme, zu zweifeln. Allerdings hat sich in einem in der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrten Manuskriptband eine offenbar nur wenige Jahre später entstandene Alternativfassung des Werkes erhalten, deren Cellostimme recht einschneidende Änderungen gegenüber der gedruckten Version aufweist. Das mag zunächst von rein philologischem Interesse sein – schließlich haben die Cellostimmen der Haydnschen Klaviertrios den Ruf, nichts weiter als willenlose Sklaven des Klavierbasses zu sein. Der Vergleich dieser beiden Fassungen zeigt uns aber, daß die zeitgenössische Aufführungspraxis auch in von den meisten heutigen Hörern und Interpreten als untergeordnet und nebensächlich empfundene Details eine ganze Menge Phantasie investieren konnte. Wo wir oft Gefahr laufen, uns vom Buchstaben des Textes beengt zu fühlen, bevor wir noch seinen Sinn erfaßt haben, verstand man damals offenbar, die vom Komponisten gewährten Freiräume spielerisch zu erfüllen. Freilich weisen beide Fassungen – die gedruckte Londoner und die handschriftliche aus Berlin – in einigen charakteristischen Details (Stimmführung und -lage, Tonlängen etc.) Abweichungen von den Cellostimmen der anderen Klaviertrios auf. Ob man daraus nun schließen mag, daß keine der beiden Stimmen authentisch sei (wie das die Herausgeber der Haydn-Gesamtausgabe tun), oder ob man darin einfach ein Indiz für die Priorität der Duofassung sehen will – in jedem Fall ist es anregend, sich durch solche Fragen zu genauerem Hören verleiten zu lassen: im Detail steckt nicht nur der Teufel, sondern auch das Genie…

Unter den fünfzehn zwischen 1792 und 1796 entstandenen Haydnschen Klaviertrios gibt es nur zwei zweisätzige Werke. Das zweite Werk, das 1794/95 komponierte Trio in es-moll (Hob.XV:31) ist eine Pasticcio-Komposition, bei der Haydn den in anderem Zusammenhang niedergeschriebenen Es-Dur-Satz einer Violinsonate („Jakobs Traum“) als Finale verwendete. Festzuhalten ist also, daß in beiden Fällen durch die Entstehungsgeschichte ein enger Konnex zum Genre der Violinsonate gegeben ist. Unser G-Dur-Trio repräsentiert mit seinen beiden in der gleichen Tonart stehenden Sätzen einen Sonatentyp, den etwa auch Mozart seinen Kurfürstin-Sonaten („op.II“, KV 301-306) zugrundegelegt hat.

Ganz nahe an die Welt dieser Sonaten führt uns der erste Satz unseres Trios. Der Anfang dieses Andantes scheint, wie schon oben erwähnt, mit dem Beginn des zweiten Satzes, Allegro, aus der ersten dieser Violinsonaten (e-moll, KV 301, Mannheim 1778) identisch zu sein. Doch gerade an einer solchen Konstellation läßt sich sehr gut studieren, wie sehr die Physiognomie eines Kunstwerkes eben nicht durch das Was, sondern durch das Wie bestimmt wird. Haydn und Mozart gehen von der selben thematischen Keimzelle aus: Themenkopf (die ersten acht Noten), Metrum (bei Mozart Dreiachtel-, bei Haydn Sechsachteltakt) und rhythmische Struktur (in beiden Fällen durchgehende Achtelbewegung) entsprechen einander aufs Haar. Mehr noch: beide Meister machen diese Keimzelle zum Ausgangspunkt einer bis in Einzelheiten übereinstimmenden formalen Großanlage – sogar das harmonische Grundgerüst der beiden Sätze ist nahezu ident. So weitgehend ist die äußere Verwandtschaft, daß man gar nicht mehr erstaunt ist, bei näherer Untersuchung herauszufinden, daß auch die Dimensionen völlig übereinstimmen: den 158 Sechsachteltakten Haydns entsprechen bei Mozart (unter Berücksichtigung der obligaten Wiederholungen) 325 Dreiachteltakte. (Daß diese Fülle von Analogien auch das Resultat bewußter Paraphrasierung sein könnte, wurde ja schon eingangs in Erwägung gezogen.) Aber wer nach all dem Gesagten meint, Aussage und Charakter der zwei Stücke müßten bei so vielen materiellen Ähnlichkeiten nahe verwandt sein, irrt. Was bei Mozart ein französisch angehauchter, schwerelos-tändelnder Tanz mit flüchtigen melancholischen Schatten ist, wird bei Haydn zu einem eigenwillig-bedächtigen Stück Musik mit dramatischen Akzenten. Wenn man aus jeder Verästelung des weitverzweigten Themas nach und nach frische Variationen hervorsprießen sieht, fühlt man sich mitten in den erdigen Duft des ersten Frühlingsmorgens versetzt. Diese beseelte Erdenschwere gewinnt Haydn aus den mit unzähligen Sforzati belasteten „leichten“ Taktteilen, ein Kunstgriff, den er wenige Jahre später in der „Schöpfung“ bei der  Schilderung des dritten Schöpfungstages („Nun beut die Flur das frische Grün dem Auge zur Ergötzung dar…“, Hob.XXI:2, Nr.9) in ganz analoger Weise (wenn auch viel sparsamer) einsetzen wird.

Das abschließende Allegro ist auf vielfältige und subtile Weise mit dem vorangehenden Satz verbunden und stellt so etwas wie die Ernte der im Andante gelegten Saat dar. Es ist ein breit ausgeführter Sonatensatz mit einer Fülle von thematischen Einfällen. Das Hauptthema ist dialogisierend angelegt; die „Satzzeichen“ (=Pausen) zwischen den einzelnen Repliken vermitteln den Eindruck eines allmählich in Gang kommenden Gesprächs. Und ganz so, als würde man einer geistreichen Konversation folgen, die nach und nach auf immer ungezwungenere und freiere Bahnen gerät, können wir im Folgenden miterleben, wie ein Gedanke nach dem anderen aufblitzt, zunächst nur als spielerische Möglichkeit, bis er schließlich seine endgültige, ausformulierte Gestalt annimmt. Eingebettet in den Seitensatz liegt ein kontrastierender, humoristisch kurzatmiger Einfall, dessen Italianità unüberhörbar ist – er würde sich in jeder Rossinischen Buffo-Arie hervorragend ausnehmen. (Man sollte nicht vergessen, daß Haydn – vor allem im schriftlichen Ausdruck – im Italienischen gewandter war als im Deutschen; die teilweise erhaltene Korrespondenz mit seiner langjährigen Geliebten, der Sängerin Luigia Polzelli (1760-1832), belegt das eindrucksvoll.) Gerade dieses „italienische“ Motiv wird dann zum eigentlichen Motor der Durchführung, die mit Ausnahme einer unscheinbaren Überleitungswendung aus dem Hauptthema und einer simplen Schlußfloskel sonst nichts von all dem thematischen Überfluß der Exposition  wissen will. Diese eigenwillige Art der Entwicklung, bei der die Durchführung weder die „eigentlichen“ Themen verwertet noch auch eigenständiges neues Material bringt, stellt an die Gestaltungskraft des Komponisten sehr hohe Anforderungen; niemand ist diesen schwierigen Weg so oft gegangen wie Haydn. Es bereitet ein besonderes Vergnügen, zu sehen, wie diese Durchführung sich aus den kümmerlichen Brosamen der Exposition eine Kraftnahrung zusammenbraut, die ihr schließlich ganz unerwartete dramatische Energie verleiht. Vielleicht ist es diese Unabhängigkeit der Durchführung, die Haydn dazu bewog, diesmal auf eine kunstreiche Rückführung zur Reprise zu verzichten und die Nahtstelle zwischen den beiden Formteilen unbekümmert offenzulegen. Strenge Kommentatoren, die hier einen Stilbruch wittern, neigen freilich eher dazu, diese auffällige „Rücksichtslosigkeit“ mit dem Zeitdruck zu entschuldigen, unter dem wohl auch dieser Satz entstanden sein muß. Wenn Haydn aber am Ende der Reprise die artistische Glanzleistung der Durchführung in einer sie en miniature paraphrasierenden Coda noch einmal nachspielt, meint man doch, ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen, und ist nur zu geneigt, die Zufriedenheit des Meisters dankbar zu teilen.

© Claus-Christian Schuster

Haydn – Trio Hob.XV:30

Joseph Haydn
* 31. März (1. April) 1732 Rohrau (Niederösterreich)
† 31. Mai 1809 Wien

Trio Es-Dur op. 79 (Hob.XV:30, Robbins Landon Nr. 42)

komponiert: Wien, beendet vor dem 9. November 1796

Uraufführung: nicht dokumentiert

Erstausgabe: Artaria, Wien, Oktober 1797

Schon am 16. April 1796 kündigt Haydn seinem Verleger Christoph Gottlob Breitkopf – „nur noch ein wenig geduld, Sie werden Geld und Music erhalten“ – die Übersendung dieses Werkes an, das er aber dann doch erst am 9. November 1796 abschicken kann. Die „versprochene Claviersonate“ ist Haydns letztes Klaviertrio und ein würdiger Abschluß für diese in der Geschichte unseres Genres einzigartige Werkreihe; sie ist darüber hinaus auch Haydns letzte Komposition für Klavier – alle weiteren Pläne sind über das Entwurfstadium nicht hinausgediehen. An Weite der Anlage und harmonischem Reichtum übertrifft dieses Trio fast alle seine Vorgänger, unter denen es allerdings einige gibt, die formal und idiomatisch noch weiter in bis dahin unerforschtes Neuland vordringen.

Der erste Satz (Allegro moderato) entfaltet einen sogar für Haydn ungewöhnlichen Ideenreichtum. Man hat in etlichen Details ebenso wie in der Gesamtanlage dieses prächtigen Satzes den Nachklang mozartischer Modelle zu hören gemeint; mir  scheint aber eher, daß Haydn hier in größter Abrundung und Vollendung die Quintessenz seiner ureigensten Errungenschaften und Erfahrungen vorlegt – und nur in dieser Brechung ist natürlich auch der Schatten Mozarts gegenwärtig. Die Exposition quillt förmlich über von thematischem Material, das auf subtilste Weise miteinander verknüpft wird. Eben diese Verknüpfung ist es, in der Haydn seine ganze Meisterschaft erweist. Ein unscheinbares Motiv, das im ersten Takt als Begleitung versteckt auftritt, dient in den verschiedensten Metamorphosen als Klammer zwischen den einzelnen Formteilen. Zwei voll entwickelte Hauptthemen werden vor uns ausgebreitet, bevor uns eine Variation des ersten gleichsam durch einen Nebeneingang zum Seitensatz führt. Bei dieser Gelegenheit tritt ein zweites, in der Tat ganz mozartisch anmutendes Klammermotiv (eine Achtelkette von „Sospiri“) auf, das sich zuvor an unscheinbarer Stelle im zweiten Hauptthema verborgen hatte und erst nun seine Wandlungsfähigkeit erweisen kann. Bemerkenswert und außergewöhnlich ist die Wahl der Molldominante als Tonart für das zweite Seitenthema – einer Tonart, die im Idiom der Wiener Klassik meist ein Vorbote außergewöhnlicher Komplikationen ist, zumal wenn sie an so prominenter Stelle auftritt. Hier kündigt sie aber nur die erstaunliche Erweiterung des harmonischen Horizontes an, die uns in der Durchführung erwartet. Dabei erweist sich wieder einmal, daß auch entfernteste Tonarten nicht willkürlich, einer Genielaune folgend, sondern nur in Erfüllung einer inneren organischen Notwendigkeit  aufgesucht werden. So erstaunt es uns nicht, gleich am Eingang der Durchführung nacheinander jene Trabantentonarten von Es-Dur zu finden, die uns schon aus anderem Zusammenhang vertraut sind (vgl. Hob.XV:29 und Hob.XV:31): Das erste Hauptthema erscheint in Ces(H)-Dur, während uns das zweite unmittelbar darauf in einer es-moll-Verkleidung entgegentritt. Von hier aus führt uns Haydn gleichsam auf einem Saumpfad über Des-Dur, es-moll, f-moll und c-moll zurück zur Tonika, von der die nach all diesen Abenteuern unerwartet regelmäßige Reprise ihren Ausgang nimmt.

Auch der zweite Satz (Andante con moto, C-Dur) verrät in jedem Takt den reifen Meister. Der für einen langsamen Satz eher ungebräuchliche Dreiachteltakt (von Haydn in keinem seiner anderen Trios in dieser Funktion verwendet) sorgt für einen leichten Fluß, der uns scheinbar schwerelos über das chromatisch blühende Terrain trägt. Der rastlosen Modulatorik der Ecksätze steht hier eine unerschütterliche Stabilität gegenüber – die Grundtonart C-Dur herrscht uneingeschränkt über den ganzen Satz. Allerdings ist diese Tonart selbst (Variante der Mollparallele) schon eine kleine Kostbarkeit: Haydn scheint eine besondere Vorliebe für diese nicht sehr naheliegende Verwandtschaft besessen zu haben – in seinen späten Trios kommt sie gleich viermal vor (Hob.XV:20, Hob XV:25, Hob.XV:27, Hob.XV:30) -, und Beethoven hat diese Neigung vielleicht von seinem Lehrmeister geerbt, wie sich etwa aus seinen aus eben dieser Zeit stammenden Werken op.1/Nr.2 (Klaviertrio G-Dur) und op.7 (Klaviersonate Es-Dur) schließen ließe. (Übrigens werden wir Beethoven noch ein gutes Jahrzehnt später diesem Erbe treu finden – und zwar wieder in einem in Es-Dur stehenden Schlüsselwerk der Klaviertrioliteratur: op.70/Nr.2). – Die Form des Satzes ist die „gewöhnliche“ dreiteilige Liedform – aber mit welchem Raffinement und welcher Freiheit gehandhabt! Durch dezent eingesetzte Asymmetrie versteht Haydn es, dem ganzen Satz einen Anschein improvisatorischer Freiheit zu geben. Vor allem aber gelingt ihm das seltene Kunststück, die Wiederholung des Hauptteils durch Angleichung der Textur und Vertauschen einzelner Abschnitte so innig mit dem Mittelteil zu verschmelzen, daß das (üblicherweise in langsamen Sätzen  durchaus erwünschte) statische Element dieser Bauart völlig aufgehoben erscheint.

Nicht einmal für die Überleitung zum attacca anschließenden Presto wird die Grundtonart des zweiten Satzes verlassen. Direkt von der Dominante G-Dur aus werden wir in den ungebändigten Übermut dieses entfesselten „Deutschen Tanzes“ entlassen. Hier erklärt sich auch rückblickend, warum dem Komponisten so sehr an der Aufrechterhaltung des Flusses und der Dynamisierung der Form im Andante gelegen war. Er hat nämlich auch für diesen Schlußsatz die dreiteilige Form gewählt, wobei der Tanzcharakter eine „genaue“, unverschleierte Reprise wünschenswert erscheinen ließ. Durch die so grundsätzlich andere Handhabung des gleichen Formschemas im vorhergehenden Satz vermeidet er auch den leisesten Anflug von Stereotypie. Im Mittelteil finden wir wieder unsere alten Bekannten es-moll und H-Dur in fulminanter Aktion – diesmal in kroatischer Bauerntracht. Eine geistreiche und brillante Coda setzt einen lapidaren Schlußpunkt unter Haydns letztes Klaviertrio.

Haydn – Trio Hob.XV:31

Joseph Haydn
*  31. März (1. April) 1732 Rohrau (Niederösterreich)
+ 31. Mai 1809 Wien

Trio es-moll Hob. XV:31

komponiert: London, 1794/95

Widmung: ursprünglich wohl für Theresa Jansen (später Bartolozzi, 1770-1843)
Erstdruck der Triofassung: Magdalena Kurzböck (1770-1845)
Duofassung (Klavier/Violine): Alexandrine Louise Eugénie Moreau, geb. Hulot d´Oseray (1781-1821)

Uraufführung: nicht dokumentiert

Erstausgabe: Johann Traeg, Wien, 1803

 In seinem ersten Londoner Notizbuch von 1791 erwähnt Haydn unter den hervorragenden Musikern der Stadt eine damals einundzwanzigjährige, aus Aachen stammende Pianistin: Theresa Jansen (1770-1843). Sie war Schülerin von Muzio Clementi und scheint Haydn mit ihrem Spiel so beeindruckt zu haben, daß er ihr den anspruchsvollsten Teil seines klavieristischen Spätwerkes widmete: zumindest zwei der letzten drei Klaviersonaten (C-Dur, Hob. XVI:50, und Es-Dur, Hob. XVI:52) und die letzte Dreiergruppe von Klaviertrios (Hob. XV:27-29). Wahrscheinlich sind alle fünf Werke während Haydns zweitem Londoner Aufenthalt (4. Februar 1794 bis 15. August 1795) entstanden. Die Klaviersonaten sind noch Miss Jansen gewidmet, sind also jedenfalls vor ihrer Hochzeit mit dem Kunsthändler Gaetano Bartolozzi (16. Mai 1795) geschrieben, bei der Haydn Trauzeuge war. Aus eben dieser Zeit stammt auch unser es-moll-Trio, dessen Entstehung Gegenstand einer uns von dem Maler und Haydn-Biographen Albert Christoph Dies überlieferten Anekdote ist:

„…(Haydn) stand in London in genauer Bekanntschaft mit einem deutschen Musikliebhaber, der sich auf der Geige eine an Virtuosität gränzende Fertigkeit erworben, aber die üble Gewohnheit hatte, sich immer in den höchsten Tönen, in der Nähe des Steges zu versteigen. Haydn nahm sich vor, einen Versuch zu machen, ob es nicht möglich wäre, dem Dilettanten seine Gewohnheit zu verleiden und ihm Gefühl für ein solides Spiel beyzubringen.

Der Dilettant besuchte oft eine Demoiselle J(ansen,) die mit großer Fertigkeit das Pianoforte spielte, wozu er gewöhnlich akkompagnirte. Haydn schrieb ganz in der Stille eine Sonate für das Pianoforte mit Begleitung einer Violine, betitelte die Sonate Jakobs Traum und ließ sie versiegelt, ohne Nahmensunterschrift durch sichere Hände, der Demoiselle J(ansen) überliefern, die auch nicht weilte, die dem Anschein nach leichte Sonate, in Gesellschaft des Dilettanten zu probiren. Was Haydn vorher gesehen hatte, traf richtig ein; der Dilettant blieb immer in den höchsten Tönen, wo die Passagen überhäuft waren, stecken, und sobald Demoiselle J(ansen) dem Gedanken auf die Spur kam, daß der unbekannte Verfasser die Himmelsleiter, die Jakob im Traum sah, habe vorstellen wollen, und sie dann bemerkte, wie der Dilettant auf dieser Leiter bald schwerfällig, unsicher, stolpernd, bald taumelnd, hüpfend auf und abstieg: so schien ihr die Sache so kurzweilig, daß sie das Lachen nicht verbergen konnte, während der Dilettant auf den unbekannten Compositor schimpfte, und dreist behauptete: derselbe wisse nicht für die Violine zu setzen.

Nach fünf oder sechs Monathen entdeckte es sich erst, daß die Sonate Haydn zum Author habe, der nun dafür von der Demoiselle J(ansen) ein Geschenk erhielt.“

(Albert Christoph Dies, Biographische Nachrichten von Joseph Haydn, Wien 1810)

Hält man sich die hier beschriebene Entstehungsgeschichte des Finalsatzes unseres Trios vor Augen, wird man wohl zunächst ein durch und durch humoristisches Werk zu finden erwarten. Doch der es-moll-Kopfsatz, den Haydn Anfang 1795 nachkomponierte, um aus „Jakobs Traum“ ein zweisätziges Trio zu machen, gehört zu seinen tiefsinnigsten und ernsthaftesten Schöpfungen. Als ob Haydn besorgt gewesen wäre, daß man die tiefere Bedeutung seines Werkes verkennen könnte, tilgte er im Autograph nicht nur den auf den Entstehungsanlaß bezüglichen Titel des Finales, sondern setzte auch die Worte „In Nomine Dei“ an den Anfang und „Laus Deo“ an das Ende des Werkes. Aber auch ohne diese Hinweise wird wohl keinem aufmerksamen Hörer verborgen bleiben, daß Haydn hier, freilich ohne alle gesuchte Grübelei und mit der ihm eigenen Natürlichkeit und Glaubenseinfalt, von letzten Dingen spricht.

Haydn war offenbar selbst von dem Werk, dem man seine Pasticcio-Abstammung nicht im mindesten ansah, so angetan, daß er der Versuchung nicht widerstehen mochte, es gleich mehrmals an den Mann, richtiger: an die Frau zu bringen. Da die allererste Adressatin, die inzwischen glücklich verheiratete ehemalige Mademoiselle Jansen, ohnehin mit einem ganzen Triobouquet und zwei prächtigen Klaviersonaten beschenkt worden war, konnte er den 1803 bei Johann Traeg in Wien verlegten Erstdruck des Werkes der gleichaltrigen und nicht weniger brillanten Pianistin Magdalena von Kurzböck widmen, die nach den Berichten der Zeitgenossen um 1800 als die beste Mozart-Interpretin Wiens galt – ihr Vater, der Universitätsbuchhändler und Schriftsteller Joseph Edler von Kurzböck (1736-1792) hatte 1774 Haydns Klaviersonaten Hob. XVI:21-26 verlegt; unser Trio ist übrigens nicht das einzige Haydn-Werk, das die beiden Jahrgangskolleginnen teilen mußten: Auch die Artaria-Ausgabe der letzten Klaviersonate Hob. XVI:52 trägt anstelle von Haydns ursprünglicher Widmung an Therese Jansen eine solche an Magdalena Kurzböck.

Als aber Fürst Nikolaus II. Esterhazy Haydn noch im selben Jahr 1803 um ein Werk für Madame Moreau, die junge Gattin des französischen Feldherren (und späteren Widersachers Napoleons) Jean-Victor Moreau (1763-1813), bat, schickte der Meister eine im Handumdrehen hergestellte Schmalspurfassung unseres Trios für Klavier und Violine nach Paris und gab sie  als eigens und neu komponiertes Werk aus – ein manchen Moralisten vielleicht irritierender Zug im Wesen Haydns, der übrigens nicht vereinzelt dasteht (man denke etwa an die sattsam bekannte Pleyel-Affaire). Die dritte und letzte Widmungsträgerin unseres vielgesichtigen Es-moll-Trios war eine Kreolin: als Tochter Guy Hulot d´Oserays, des Generalschatzmeisters von Mauritius, war sie in Port Louis geboren worden; in Paris gehörte sie dann bald zur Entourage von Joséphine Beauharnais-Bonaparte, die es ja auch von einer fernen Insel (Martinique) in die französische Hauptstadt verschlagen hatte. Joséphine war es denn auch gewesen, die im November 1800 die Eheschließung des ruhmreichen Generals Moreau mit ihrer 19jährigen Freundin arrangiert hatte. Das Paar hatte sich aus den Kriegswirren und politischen Intrigen auf Schloß Grosbois (Boissy-Saint-Léger) zurückgezogen; doch schon wenige Monate nachdem Haydn Madame Moreau die „gefälschte“ Sonate zugedacht hatte, ließ Napoleon den ihm gefährlich gewordenen Ehemann verhaften und verbannen – und so mußte sie zusammen mit ihrem Mann 1804 Frankreich verlassen. Nach mehrjährigem Exil in Morrisville (Pennsylvania) wird das Ehepaar erst 1813 zum Endkampf gegen Napoleon wieder nach Europa zurückkehren, wo Jean-Victor Moreau bei Dresden schwer verwundet wird und am 2. September 1813 stirbt. Louis XVIII. übersendet nach der endgültigen Niederschlagung Napoleons der Witwe Moreau den Marschallstab, und nun kann endlich auch die ihr von Haydn gewidmete „Dernière Sonate“ mit der Widmung an die „Maréchale Moreau“ erscheinen…

Wie seltsam auch immer die Begleitumstände der Komposition gewesen sein mögen: uns bleibt die Freude über ein höchst originelles und faszinierendes Klaviertrio. Mit der größten Selbstverständlichkeit gelingt es Haydn, die beiden Sätze in all ihrer Verschiedenheit in den Dienst eines einheitlichen und eindrucksvollen dramaturgischen Konzeptes zu stellen. Besonders bemerkenswert ist etwa, wie er eine sehr charakteristische und an zentraler Stelle plazierte, aber für den Verlauf des Es-Dur-Finales nicht weiter folgenreiche Modulation zum Ausgangspunkt der tonartlichen Anlage des nachkomponierten Kopfsatzes (Andante, es-moll) macht: Den dort berührten Tonarten es-moll und H-Dur (die übrigens auch in dem wohl in enger zeitlicher Nachbarschaft entstandenen Trio Hob. XV:29 zusammen mit Es-Dur eine Art Triumvirat bilden) werden hier eigenständige Bezirke von formtragender Bedeutung eingeräumt: Der formalen Anlage ABACA entspricht nämlich der Tonartenplan es-Es-es-H-es. Doch der Satz hat nicht nur mit einem extravaganten tonalen Bauplan aufzuwarten, er birgt – trotz der auf den ersten Blick „schulmäßigen“ Rondogestalt – auch formal einiges an Überraschungen. Die erste Episode (Es-Dur) beginnt mit einer Umkehrung des Rondothemas. Im Zusammenspiel mit dem liedartigen Bau beider Abschnitte (A und B) wird dadurch im Zuhörer die Erwartung geweckt, man stünde am Beginn einer Doppelvariationsreihe. Erst mit der unveränderten Wiederkehr des Ritornells erscheint diese Erwartung getäuscht. Doch nachdem uns Haydn mit der zweiten Episode (H-Dur), die auf neuem thematischen Material basiert, in der Sicherheit eines „normalen“ Rondoablaufs wiegt, greift das abschließende Ritornell doch noch den immanenten Variationsgedanken auf. Auch unter diesem Aspekt ist die Verwandtschaft unseres Satzes zum Kopfsatz von Hob. XV:29 auffällig.

Das folgende Allegro (Es-Dur), also der 1794, einige Monate vor dem Andante als „Jakobs Traum“ geschriebene Schlußsatz, ist zwar formal und harmonisch von weit schlichterem Zuschnitt, demonstriert aber Haydns unerschöpfliche Variationskunst in ebenso brillanter Weise. Die traditionelle dreiteilige Liedform, die dem Satz zugrunde liegt, ist durch assoziative und variierende Gestaltungselemente so aufgelockert, daß sie gleichsam nur noch wie von ferne durchzuschimmern scheint. Alle Aufmerksamkeit ist auf das geistvolle Passagenspiel gerichtet, in dem Klavier und Geige einander in immer neuen, mitunter halsbrecherischen Wendungen zu überbieten suchen. Genau in der Mitte des Mittelteils erklimmt dann die Geige mit gis3 die höchste Sprosse der Jakobsleiter und entrückt uns für einige kurze Augenblicke in jenes verklärte H-Dur, das ja, wie wir gesehen haben, auch schon die Zentralepisode des Andantes überstrahlt hat. In der Reprise überwuchern immer üppiger werdende Figurationen die ursprüngliche Gestalt des Hauptteils, bis eine fanfarenartige Coda das Werk festlich beschließt.

© Claus-Christian Schuster

Haydn – Quintett Hob. XIV:1

Joseph Haydn
*  31. März (1. April) 1732 Rohrau (Niederösterreich)
+ 31. Mai 1809 Wien

 Quintett Es-Dur für Klavier, zwei Hörner, Violine und Violoncello, Hob. XIV:1

 komponiert: Eisenstadt, um 1765 (oder Dolní Lukavice, Böhmen, um 1760?)
Uraufführung: nicht dokumentiert
Erstausgabe: Hummel, Amsterdam, 1767

 Bei der Datierung dieses Werkes sind wir auf Vermutungen angewiesen. Seit 1763 verfügte Haydn in der Esterházyschen Kapelle über nicht weniger als vier Hornisten, und er schöpfte die sich dadurch bietenden Möglichkeiten in der Instrumentation zweier Symphonien in D-Dur (Hob.I:13 und Hob.I:72) auch sofort aus. 1765 werden zwei der Hornisten durch jüngere und fähigere Kräfte ersetzt. Die in diesem Jahr komponierte D-Dur-Symphonie (Hob. I:31, bekannt unter den Beinamen „Mit dem Hornsignal“ oder „Auf dem Anstand“) zeigt eindeutig, daß dem Komponisten nun eine erstklassige Horngruppe zu Gebote stand. Kein Wunder also, daß sich Haydns Vorliebe für dieses Instrument ( – schon 1762 hatte er ein Hornkonzert geschrieben – ) noch steigerte: In den folgenden Jahren schrieb er nicht weniger als zehn Divertimenti, in denen zwei Hörner mit einem Baryton, dem Lieblingsinstrument des Fürsten Nikolaus, und anderen Streichinstrumenten konzertieren. Von all diesen Werken – einem Quartett, zwei Quintetten und sieben Oktetten – sind leider nur zwei vollständig überliefert; in den meisten Fällen ist die Baryton-Stimme verschollen, was einen böswilligen Kommentator auf den Gedanken bringen könne, der fürstliche Dilettant sei mit seinen Noten nicht sehr sorgsam umgegangen.

Die erste Erwähnung unseres Werkes findet sich in einem Verlagskatalog der Leipziger Firma Breitkopf aus dem Jahre 1766. Ein Jahr später gab der deutsch-niederländische Verleger Johann Julius Hummel das Werk in Amsterdam heraus. Sein Interesse gerade an diesem Stück könnte damit zu tun haben, daß er selbst, ebenso wie sein Bruder und Geschäftspartner, ausgebildeter Hornist war. Dennoch scheinen die Brüder gewußt zu haben, daß gute Hornisten nicht überall verfügbar waren, und so gute wie in der Esterházyschen Kapelle vielleicht überhaupt nirgendwo sonst; daher gaben sie ihrer – übrigens von Haydn nicht autorisierten – Ausgabe zwei alternative Bratschenstimmen bei. An der Zusammenstellung der Werke dieser Erstausgabe kann man auch ersehen, daß unser Stück schon von den Zeitgenossen als eine erweiterte Variante des Genres Klaviertrio betrachtet wurde: J. J. Hummel stellte unserem Quintett – immer unter der selben apokryphen Opusnummer IV – fünf Klaviertrios des Meisters voran (Hob. XV:37, Hob. XV:C1, Hob.XIV:6, Hob. XV:39 und Hob.XV:1), von denen freilich zwei recht willkürliche, anonyme Bearbeitungen Haydnscher Klaviersonaten sind.

Gerade diese Nähe zu den Klaviertrios ist es aber, die unsere sich nach all dem bisher Gesagten aufdrängende Vermutung, das Werk sei um 1765 in Eisenstadt komponiert worden, wieder ins Wanken bringt. Auf jeden Fall ist es merkwürdig, daß es sich hier um die einzige uns bekannte Komposition Haydns handelt, in der die Hörner der fürstlichen Kapelle mit dem Cembalo anstelle des vom Fürsten bevorzugten Baryton kombiniert werden. Könnte unser Quintett nicht vielleicht doch – wie H. C. Robbins Landon in seiner fundamentalen (und unerklärlicherweise noch immer nicht ins Deutsche übersetzten) Haydn-Biographie mutmaßt – an einem anderen Hof entstanden sein, nämlich dem des Grafen Morzin, in dessen Dienst Haydn ab 1759 stand? Dann nämlich bestünde für die Verwendung des Cembalos ein sehr nachvollziehbarer Grund: das Spiel der Gräfin Morzin, einer Musikliebhaberin, die den jungen Komponisten sehr beeindruckte, wie wir aus einer uns von Georg August von Griesinger in seinen 1810 erschienenen „Biographischen Notizen über Joseph Haydn“ überlieferten Anekdote wissen. Haydn selbst soll die Geschichte gerne und oft erzählt haben – also dürfen wir uns erlauben, sie hier einzufügen: Bei einer gemeinsamen Probe habe die Gräfin (wohl Wilhelmine, geborene Freiin von Reisky) sich über die Noten gebeugt, wobei ihr Busentuch auseinanderfiel. „Es war das erste Mal, daß mir solch ein Anblick ward; er verwirrte mich, mein Spiel stockte und die Finger blieben auf den Tasten ruhn. »Was ist das, Haydn!« rief die Gräfin. »Was treibt Er da?« – »Aber, gräfliche Gnaden!« versetzte ich. »Wer sollte auch hier nicht aus der Fassung kommen?«“

Als Indiz für eine Entstehung des Werkes bei Graf Morzin in Dolní Lukavice könnte man vielleicht auch gelten lassen, daß in der Bibliothek des südmährischen Kremsier (Kromeriz) eine sehr frühe Abschrift des Werkes aufgefunden wurde. Wann und für wen auch immer unser Quintett aber geschrieben wurde, es ist jedenfalls schon bester Haydn: die drei kurzen Sätze – Moderato, Menuet und  Allegro, alle in Es-Dur – quellen vor Ideen nur so über. Esprit und Noblesse kennzeichnen die Themen und ihre durchwegs originelle Verarbeitung, in der sich übrigens schon vieles von Haydns unerschöpflicher Variationskunst vorausahnen läßt. Einzig das harmonische und formale Gerüst mutet ein wenig bieder an, wenn man die späteren Errungenschaften des Komponisten auf diesen Gebieten im Ohr hat. Über allem aber steht die vitale Ursprünglichkeit, der diese Musik ihre nie verblassende Frische verdankt.

© Claus-Christian Schuster

Brahms – Quartett op.60

Johannes Brahms
* Hamburg, 7. Mai 1833
† Wien, 3. April 1897

Quartett für Klavier, Violine, Viola und Violoncello Nr.3, c-moll, op.60

komponiert: Düsseldorf, 1855/56; Wien 1869, Winter 1873/74; Rüschlikon, Sommer 1874; Ziegelhausen, Sommer 1875

Uraufführung: Wien, Musikverein, 18. November 1875
Johannes Brahms, Klavier
Josef Hellmesberger sen. (1828-1893), Violine
Sigismund Bachrich (1841-1913), Viola
Friedrich Hilpert (1841-1896), Violoncello

Erstausgabe: Simrock, Berlin, November 1875

Obwohl im Œuvre von Johannes Brahms langwierige und komplizierte Entstehungsgeschichten durchaus keine Seltenheit sind, stellt die sich über zwanzig Jahre hinziehende Gestaltwerdung des dritten Klavierquartetts einen Sonderfall dar. Die Urfassung des Werkes entstand nach dem übereinstimmenden Zeugnis der Jugendfreunde Albert Dietrich und Joseph Joachim schon im Jahre 1855, gleichzeitig mit den ersten  Entwürfen zu den ersten beiden Klavierquartetten (op. 25 und op. 26). Das Quartett stand damals in cis-moll. Offenbar wurden in dieser ersten Entstehungsphase nur die Ecksätze komponiert, denn am 18. Oktober 1856 vermerkt Clara Schumann in ihrem Tagebuch:

„Johannes hat seinen Concertsatz beendet – wir haben ihn mehrmals auf zwei Clavieren gespielt. Zu seinem Cis-moll-Quartett hat er ein wunderschönes Adagio componirt – tiefinnig.“

Bei dem „Concertsatz“ handelt es sich um die Urfassung des ersten Klavierkonzertes op. 15; diese Nachbarschaft ist im Hinblick auf den Bekenntnischarakter beider Werke nicht ohne Bedeutung.

Bemerkenswert ist aber auch, daß Clara von einem „Adagio“ spricht, während der auf uns gekommene langsame (und gewiß „tiefinnige“) Satz des Quartetts ja ein Andante ist: Es ist zwar durchaus möglich, daß es sich hier einfach um ein Versehen Claras handelt, aber wir dürfen Brahms ohne weiteres auch zutrauen, für dieses Werk mehr als nur einen tiefinnigen langsamen Satz geschrieben zu haben; und die immer wieder vorgebrachte Meinung, schon die Tonart (E-Dur) des uns bekannten Andante beweise seine Zugehörigkeit zur Cis-Moll-Periode der Werkentstehung, ist zwar naheliegend, aber alles andere als unwiderlegbar: Oder gibt es etwa irgendeinen Hinweis darauf, Beethoven habe sein C-moll-Klavierkonzert mit dem himmlischen E-Dur-Largo zunächst in cis-moll konzipiert?

Schon am 21. Oktober 1856 trifft Brahms von Düsseldorf kommend in Hamburg ein, wo er einen Monat später, am 22. November, zusammen mit Joseph Joachim an einem Gedenkkonzert für Robert Schumann mitwirkt. Bei dieser Gelegenheit probiert man auch das (inzwischen schon dreisätzige) Werk, aber offenbar in großer Eile und unter schlechten Bedingungen: Joachim nennt dieses Durchspiel schlicht „eine Schweinerei“, und Brahms verteidigt eine von seinem Freunde beanstandete Note mit den Worten:

„…vom eis… kann ich gar nicht lassen; wie mir´s im Ohr klingt, klang es am Montag freilich nicht, sie griffen je e und fis mit…“

(an Joachim, November 1856)

Joachim mußte also, um sich ein klareres Bild des neuen Werkes machen zu können, das Manuskript zum Studium mit nach Hannover nehmen, von wo aus er es einige Tage später (29. November) dem Komponisten mit einem schwärmerisch begeisterten, aber durchaus auch konstruktiv kritischen und recht detaillierten  Kommentar zurücksendet. Aus diesem Brief wissen wir, daß das Werk damals aus einem „Allegro“, einem „Andante“ und einem „konzisen Finale“ bestand.

Während die beiden Schwesterwerke aber zwischen 1859 und 1861 ihre endgültige Gestalt erhielten (und Brahms im Herbst 1862 ein fulminantes Entrée in Wien verschafften), verschwindet das dritte Quartett auf viele Jahre aus unserem Gesichtskreis. Erst 1869 scheint Brahms das Werk wieder vorgenommen zu haben; um diese Zeit dachte er auch schon an eine Veröffentlichung (als „op. 54“). Immerhin muß das Werk in dieser Phase schon eine Gestalt angenommen haben, die Brahms dazu ermutigte, es während seines Sommeraufenthaltes 1872 in Lichtenthal am Rande einer von Richard Pohl in dessen Baden-Badener Heim gegebenen Abendgesellschaft von den dort versammelten Musikern prima vista probieren zu lassen: So konnten an diesem Abend Hans von Bülow, Pablo de Sarasate, Johann Gustav Krasselt und Bernhard Coßmann – also ein ad hoc gebildetes, aber hochkarätiges Ensemble – einen ersten Eindruck von dem Quartett gewinnen. Doch erst im Winter 1873/74 raffte sich Brahms endlich dazu auf, die Arbeit einem Abschluß nahe zu bringen. Wahrscheinlich wurde es während des darauffolgenden Sommers, den Brahms in Rüschlikon am Züricher See verbrachte, noch einmal überarbeitet, denn erst am 23. Oktober 1874, einige Wochen nach seiner Rückkehr aus der Schweiz schickt Brahms das Manuskript an Theodor Billroth mit den lakonischen Zeilen:

„Das Quartett wird bloß als Kuriosum mitgeteilt! Etwa eine Illustration zum letzten Kapitel vom Mann im blauen Frack und gelber Weste.“

Dieser Hinweis auf den Goetheschen Werther ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert: erstens gibt Brahms uns so gut wie nie außermusikalische Schlüssel zum Verständnis seiner Werke in die Hand; die musikalischen Charakterisierungen aber, die in seiner Korrespondenz häufig die Ankündigung neuer Werke begleiten, erweisen sich in der Regel als humor- und absichtsvolle Irreführung. Hier jedoch haben wir es offensichtlich mit einer recht wörtlich zu nehmenden Assoziation zu tun, die noch dadurch an Gewicht erhält, daß Brahms über mehrere Jahre hinweg immer wieder zu diesem selben Bilde greift, wenn die Rede auf das Quartett kommt: Hermann Deiters zitiert Brahms mit den Worten: „Nun stellen Sie sich einen Menschen vor, der sich eben totschießen will, und dem nichts anderes mehr übrig bleibt.“ (1868). Seinem Verleger Fritz Simrock schreibt Brahms am 12. August 1875:

„Sie dürfen auf dem Titelblatt ein Bild anbringen, nämlich einen Kopf mit der Pistole davor. Nun können Sie sich einen Begriff von der Musik machen! Ich werde Ihnen zu dem Zweck meine Photographie schicken! Blauen Frack, gelbe Hose und Stulpstiefeln können Sie auch anwenden…“

Der burleske Unterton vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, wie bitter ernst diese Werthersche Parallele zu nehmen ist. Und es bedarf weder übertriebener Phantasie noch journalistischer Indiskretion, um sich mit Blick auf die Düsseldorfer Jahre 1855/56 einen Reim auf diesen Bezug machen zu können.

Letzte Korrekturen und Änderungen nahm Brahms dann im Sommer 1875 während seines Sommeraufenthaltes in Ziegelhausen bei Heidelberg vor. Clara, die ihn dort am 17. Juli auf der Durchreise in die Schweiz besuchte, konnte eine Probe des Quartetts mitanhören, die bei ihr einen zwiespältigen Eindruck hinterließ:

„Über das Quartett habe ich noch viel gedacht, die drei letzten Sätze sind mir tief in´s Gemüth gedrungen, aber, dürfte ich mir erlauben es zu sagen, ich finde den ersten nicht auf gleicher Höhe stehend, es fehlt mir darin der frische Zug…“

(an Brahms, 23. Juli 1875)

Für die nach wie vor ungeklärten Fragen der Entstehungsgeschichte interessant ist ein am selben Tage an Albert Dietrich gerichtetes Schreiben Claras:

„Wir waren auf der Herreise einen Tag in Heidelberg, wo ich wahre Seelenstärkung atmete in Brahms´ neuen Liedern, Duetten und einem wundervollen Quartett in c-moll für Klavier und Streichinstrumente. Die ersten zwei Sätze hatte er schon früher gemacht (der erste ist mir weniger lieb, aber das Scherzo!) , und nun die beiden letzten Sätze, die sind wieder ganz genial, eine Steigerung bis zum Schlusse, daß man ganz hingerissen wird. Merkwürdig ist mir dabei auch die Einheit der Stimmung, obgleich die Sätze zu so verschiedenen Zeiten entstanden sind.“

Hält man zu dieser Aussage einen Satz, den Brahms in seinem oben zitierten Brief an Fritz Simrock (12. August 1875) schrieb – „dies Quartett ist zur Hälfte alt, zur Hälfte neu – es taugt also der ganze Kerl nichts!“ -, so ergibt sich, daß die letzten beiden Sätze des Werkes in der uns bekannten Gestalt wirklich „neu“ waren, daß also das veröffentlichte E-Dur-Andante nicht mit jenem Adagio/Andante identisch sein kann, von dem in den Tagebüchern und Briefen des Jahres 1856 die Rede ist. Die uns durch Max Kalbeck überlieferte Erinnerung Joachims, daß nämlich das Scherzo des Quartetts eine Metamorphose des Scherzos der im Oktober 1853 komponierten F.A.E.-Sonate (WoO 2) sei, ließe eine frühe Entstehung dieses Satzes vermuten, was sich mit den zuletzt angeführten Bemerkungen sehr gut in Einklang bringen ließe. Daß aber das „konzise Finale“, von dem Joachim schreibt, nichts anderes als eben dieses Scherzo gewesen sein sollte, muß (vor allem bei näherer Betrachtung der Joachimschen Detailkritik des Satzes) als äußerst unwahrscheinlich gelten.  Man könnte also etwa folgende Satz- und Entstehungsfolge (ohne Berücksichtigung der unterschiedlichen Entwicklungsstadien) annehmen:

1855/56 1856/61 1869/75
Allegro (non troppo)
Scherzo. Allegro
Adagio Andante
Finale Finale. Allegro comodo

Zweiter und dritter Satz der cis-moll-Urfassung wären demnach gänzlich verworfen worden. Die traditionelle Begründung des „irrationalen“ E-Dur im Andante mit der Grundtonart dieser Frühfassung, wäre damit jedenfalls nicht in der zumeist vorgebrachten Weise stichhaltig.

Am Ende dieser dornenreichen Entstehungsgeschichte und am Beginn der ruhmreichen Wirkungsgeschichte dieses letzten und gewichtigsten der Brahmsschen Klavierquartette stand seine Uraufführung durch den Komponisten und die Mitglieder des Hellmesberger-Quartetts im „Kleinen Saal“, dem heutigen Brahms-Saal des Wiener Musikvereins, am 18. November 1875. Unter den Zuhörern waren Richard Wagner und Cosima, deren Urteil über Autor und Werk genau so ausfiel, wie es der ideengeschichtliche Hintergrund dieser Begegnung erwarten ließ:

„Abends Quartett-Soirée von Hellmesberger, ich lerne Herrn Brahms kennen, welcher darin ein Klavier-Quartett eigener Faktur spielt, ein rot und roh aussehender Mann, sein Opus sehr trocken und gespreizt.“

Andere Ohren und Herzen waren hellhöriger und offener; doch leichte Kost ist diese Bekenntnismusik auch heute noch nicht geworden.

Daß Clara im ersten Satz des Quartetts (Allegro non troppo) den „frischen Zug“ nicht fand, ist viel weniger verwunderlich, als daß sie ihn dort suchen konnte und wollte. Beklemmendere und düsterere Musik ist selten geschrieben worden. Der Kopfsatz des Herzogenbergschen Op. 75, das in Metrum und Motivik deutliche (und sicher nicht zufällige) Bezüge zu diesem Satze aufweist, mutet – trotz seines Epitaphcharakters – im Vergleich geradezu gelöst und heiter an. Auch das tröstlich-innige Es-Dur-Seitenthema mit seiner sehnsüchtig pulsierenden Fortsetzung vermag nicht, sich gegen diese Stimmung ausweglos brütender Verzweiflung durchzusetzen, und erscheint in der Reprise fahl und ermattet.

Ganz analog dazu sind im Scherzo (Allegro, c-moll) die schüchternen Einwürfe in den mitleidlos dahinpeitschenden Sturm viel zu schwach, um sich Gehör zu verschaffen – das Trio, das im Scherzo der F.A.E.-Sonate immerhin noch eine, wenn auch sturmumtoste Insel im Aufruhr der Elemente war, ist hier völlig im Ozean der Unrast untergegangen.

In die Zeit der Endausarbeitung des Quartetts fällt Brahms´ Bekanntschaft mit Heinrich von Herzogenberg (29. Jänner 1874 in Leipzig). Vielleicht findet sich das „schlanke Frauenbild in blauem Samt und goldenem Haar“, das er bei dieser Gelegenheit wiedersah, in dem „neuen“ Andante (E-Dur) wieder? Das (heute verschollene) Autograph des Satzes hat Brahms jedenfalls wirklich Elisabeth von Herzogenberg zugedacht:

„Zur Versöhnung wollte ich das Andante aus meinem dritten Klavierquartett beilegen, das sich noch vorfand, und das Ihnen ja gefiel. Ob ich es aus Eitelkeit oder aus Zärtlichkeit aufbewahrt habe, weiß ich nicht. Ich bringe es mit.“

(12. Dezember 1877)

Die wahrhaft überirdische Schönheit dieses Satzes ist schon für sich allein genommen berückend: vor dem Hintergrund der ihn umgebenden drei c-moll-Tragödien gewinnt diese Schönheit aber eine schmerzliche Intensität, die an die Grenzen des Menschen Erträglichen reicht.

Der Schlußsatz (Finale. Allegro comodo), von dem Max Kalbeck mit hochachtungsvollem Bedauern feststellt, hier trete die Individualität des Schöpfers doch allzusehr zurück, gehört zu den erschütterndsten und  eindrucksvollsten „Verweigerungen“ der Musikgeschichte. Man stelle sich nur den Bruchteil eines Augenblickes lang einen kräftigen, gesunden oder auch nur schlicht normalen Finalsatz an seiner Stelle vor, um zu begreifen, wie unausweichlich das Werk auf diesen „nachkomponierten“ Schluß hin angelegt ist. Beethoven, der (in einer völlig anderen dramaturgischen Situation und mit wesentlich anderen Mitteln) das Finale eines seiner Klaviertrios (c-moll, op. 1 Nr. 3) ähnlich „scheitern“ läßt, hatte noch die Wahl – ein artistisch freies und spielerisches Element ist jenem Satz über alle Kompromißlosigkeit hinweg noch anzuhören. Hier aber ist die Freiheit einem inneren Zwang geopfert, der dem oberflächlich ironischen Bezug zu Werther einen erschreckend weitreichenden Sinn gibt. Nur der gedankenlosen Dur-Moll-Routine des Musikführer-Unwesens ist es zuzuschreiben, daß irgend jemand im C-Dur- Schluß des Werkes den erlösenden Frieden einer wirklichen Befreiung zu spüren und zu hören vermeinte. Und wer glaubt, den „hymnischen“ Ton des dritten Themas mit dem Finale der (zeitlich benachbarten) ersten Symphonie in Zusammenhang bringen zu können, wofür sich durchaus gestische und tonartliche Argumente finden ließen, möge auch bedenken, daß nicht überall, wo Hymnen angestimmt werden, eine Auferstehung zu feiern ist.

© Claus-Christian Schuster